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AUSLAND/2158: Afghanistan - Frauen mit Geburtsfisteln erhalten professionelle Hilfe (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 5. September 2014

Afghanistan: Geburtsfisteln und andere Grausamkeiten - Betroffene Frauen erhalten professionelle Hilfe

von Karlos Zurutuza


Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Frauenkrankenhaus im afghanischen Badakhshan
Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Kabul, 5. September (IPS) - "Der beißende Gestank von Kot und Urin isoliert sie völlig. Sie werden von ihren Männern verstoßen und sind für immer stigmatisiert." Mit knappen Worten beschreibt die afghanische Chirurgin Pashtoon Kohistani das Schicksal von Frauen, die an den Folgen von Geburtsfisteln leiden.

Ohne eine Operation der bei tagelangen Wehen ohne medizinische Hilfe entstehenden Verletzungen bleiben die meist jungen Mütter inkontinent. Wenn bei der Geburt der Kopf eines Säuglings im Geburtskanal stecken bleibt und die Durchblutung des Gewebes unterbrochen wird, entstehen kleine Öffnungen, aus denen die Exkremente austreten.

Neben dem Gesundheitszentrum in Badakhshan, 290 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Kabul, ist das Malalai-Geburtshospital landesweit das einzige Krankenhaus mit einer Fachabteilung für die Behandlung von Geburtsfisteln, an denen vor allem arme und bildungsferne Frauen leiden.

"Da eine Kaiserschnitt-OP für die meisten Afghaninnen nicht zur Wahl steht, sterben viele Babys im Mutterleib. Vagina und Harnröhre der Frau werden während der Wehen zerrissen. Die unmittelbaren Folgen sind Harn- und manchmal auch Stuhlinkontinenz", erklärt Kohistani, während in den Gängen des Krankenhauses Frauen auf ihre Behandlung warten oder von Verwandten besucht werden.

Die Patientinnen stammen aus allen Altersgruppen. Einigen von ihnen merkt man an, dass sie Schmerzen leiden. Das Hospital ist einer der wenigen Orte in Afghanistan, an denen sie zumindest ihre Kopfbedeckung und ihre Burkas ablegen dürfen, weil Männer hier keinen Zutritt haben. Manche rollen ihre Ärmel hoch, weil es so heiß ist.


Mangelernährung

Nazifah Hamra, Chefin der zuständigen Abteilung im Malalai-Krankenhaus, führt das Leiden vor allem auf Mangelernährung zurück. "Frauen, die in abgelegenen ländlichen Regionen leben, essen immer erst nach den Männern. Mädchen bekommen oft nicht genug Milch und wichtige Nährstoffe, die sie für ihr Wachstum bräuchten. Einen Arzt suchen sie nur auf, wenn sie heiraten, was sie zumeist in einem sehr jungen Alter tun."

In Hamras Abteilung werden im Schnitt immer vier oder fünf Fistel-Patientinnen gleichzeitig betreut. Eine von ihnen ist Rukia, die in einem Achtbettzimmer im zweiten Stock liegt. "Ich habe mit 15 geheiratet und bin mit 17 schwanger geworden", erzählt die 26-Jährige, die aus einem kleinen Dorf in der Provinz Balkh, 320 Kilometer nordwestlich von Kabul kommt. "Während der Wehen hatte ich schreckliche Schmerzen, doch die Straße nach Kabul war nicht passierbar. Schließlich kam ich nach Bamiyan, 150 Kilometer östlich der Hauptstadt."

Ihr Sohn sei in ihrem Bauch gestorben, sagt Rukia, die sich vorsichtig im Bett aufsetzt, um den Katheter, der ihr gelegt wurde, nicht abzuknicken. Das nicht ausgebildete Pflegepersonal in Bamiyan machte alles nur noch schlimmer. "Es ist kaum zu glauben, was diese Ärzte angerichtet haben. Sie wurde brutal verstümmelt", regt sich Hamra auf. Dass Mediziner in Afghanistan ihre Patienten falsch behandelten, sei leider immer noch an der Tagesordnung.

In einem 2013 veröffentlichten Bericht über die Risiken bei der Verheiratung von Kindern bestätigt die Menschenrechtsorganisation 'Human Rights Watch', dass Babys sehr junger Eltern größeren Gesundheitsgefahren ausgesetzt seien. Die Sterblichkeitsrate bei Kindern, deren Mütter bei der Geburt jünger als 20 Jahre waren, ist demnach deutlich höher als die von Kindern älterer Mütter.

Brad Adams, Direktor von Human Rights Watch in Asien, appelliert an die afghanischen Behörden, Heiraten unter Kindern zu verbieten. "Der Schaden, den junge Mütter, ihre Kinder und die gesamte afghanische Gesellschaft erleiden, ist nicht kalkulierbar", warnt er.


Männer wenden sich von kranken Frauen ab

Rukias Mann hat inzwischen eine andere Frau geheiratet. Ihr blieb keine andere Wahl, als wieder zu ihren Eltern zu ziehen, wo sie seit neun Jahren lebt. Noch schmerzhafter als die Trennung von ihrem Mann wiegt für sie die Tatsachen, dass sie niemals Kinder haben wird.

Hamra kennt Rukias Geschichte und die Erfahrungen anderer Patientinnen in allen Einzelheiten. "Von allen Seiten wird Druck auf sie ausgeübt, vor allem von ihren Schwiegermüttern", sagt sie. "Sie müsse sich Sätze anhören wie 'Ich habe fünf Kinder bekommen, ohne zum Arzt zu gehen'. Viele junge Frauen begehen schließlich Selbstmord."

In Rukias Fall ist die Ärztin aber davon überzeugt, dass sie sich nach der Operation gut erholen wird und wieder ein normales Leben führen kann. Sie betont die besondere Rolle des UN-Bevölkerungsfonds UNFPA, "allen Frauen, Männern und Kindern Gesundheit und Gleichberechtigung garantieren zu wollen".

Annette Sachs Robertson, die den UNFPA in Afghanistan vertritt, berichtet, dass der Fonds seit 2007 in dem Land tätig ist und dabei eng mit dem Gesundheitsministerium in Kabul zusammenarbeitet. "Wir bilden Chirurgen aus und versorgen das Malalai-Hospital mit der notwendigen Ausrüstung und den Medikamenten. Dank dieser Initiative sind dort schon mehr als 435 Patientinnen behandelt worden. Wir wollen das Programm nun auch in den Provinzen Jalabad, Mazar und Herat umsetzen", erklärt Robertson, die an der Harvard Universität studiert hat. "In Industrieländern kommen solche Fälle kaum vor."


Vor allem Analphabetinnen betroffen

Laut einem 2011 verbreiteten Bericht des afghanischen Sozial- und Gesundheitsentwicklungsprogramms (SHPD), der sich auf Untersuchungen in sechs Provinzen des Landes stützt, sind schätzungsweise vier von 1.000 Frauen im gebärfähigen Alter von Geburtsfisteln betroffen. 91,7 Prozent der Frauen, bei denen das Leiden festgestellt worden sei, könnten nicht lesen und schreiben. 72,7 Prozent der Patientinnen gaben an, dass ihre Männer Analphabeten seien.

"25 Prozent der Frauen mit Geburtsfisteln waren nach eigenen Angaben zum Zeitpunkt ihrer Heirat jünger als 16 Jahre, 67 Prozent zwischen 16 und 20 Jahren alt. 17 Prozent der Frauen waren jünger als 16 Jahre, als sie ihr erstes Kind zur Welt brachten. Bei etwa einem Viertel der Frauen bildeten sich die Fisteln nach der ersten Entbindung. 64 Prozent gaben an, lange in den Wehen gelegen zu haben."

Die 32-jährige Najiba aus Baghlan, 220 Kilometer von Kabul entfernt, litt 14 Jahre lang an einer Geburtsfistel. Nach einer weiteren erfolgreichen Operation soll sie bald nach Hause entlassen werden. Die Frau, die aus einem Dorf stammt, heiratete mit 17 und verlor ein Jahr später ihren Sohn nach dreitägigen Wehen. Trotz ihrer Fistel ließ sie der Ehemann nicht im Stich. Inzwischen haben sie sechs Kinder. "Ich hatte Glück, dass mein Mann im Radio von diesem Krankenhaus hörte", sagt sie mit einem Lächeln. (Ende/IPS/ck/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/09/afghan-torn-women-get-another-chance/

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IPS-Tagesdienst vom 5. September 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2014