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AUSLAND/2509: Eindrücke eines Chirurgen bei einem Hilfseinsatz im Südosten Afrikas (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 10/2018

AFRIKA
"Erfahrener Chirurg für Malawi gesucht"

von Ingvo Müller


Reise in eine andere (medizinische) Welt: Dr. Ingvo Müller aus dem Klinikum Nordfriesland beschreibt seine Eindrücke bei einem Hilfseinsatz im Südosten Afrikas.


Die obige Überschrift im Ärzteblatt war für mich Anlass, Kontakt mit dem luxemburgischen Karmelitinnen-Orden aufzunehmen. Die Schwestern dieses Ordens betreiben in Malawi/Südostafrika, einem der ärmsten Länder der Welt, 60 km von der Hauptstadt Lilongwe entfernt ein Missionskrankenhaus. Was 1959 als kleine Sanitätsstation im Busch begann, ist mittlerweile zu einer wichtigen medizinischen Einrichtung des Landes geworden. Im Einzugsgebiet des Krankenhauses leben 250.000 Menschen, durch die Grenznähe zu Mosambik und Sambia kommen die Patienten auch aus den Nachbarländern. Die 250 Betten des St. Gabriel's Hospitals verteilen sich auf die Fachabteilungen Innere Medizin und Chirurgie, den Schwerpunkt bilden jedoch Gynäkologie mit Geburtshilfe und die Pädiatrie. Durchschnittlich erblicken dort mehr als 4.000 Kinder jährlich das Licht der Welt, über 800 Kaiserschnitte werden pro Jahr durchgeführt.

Die hohe Geburtenrate spiegelt sich an vielen Stellen wider: Die Frauen bringen im Schnitt fünf bis sechs Kinder zur Welt. Kaum eine Frau hat kein Kind auf den Bauch oder Rücken gebunden. Fast die Hälfte der Bevölkerung ist 15 Jahre oder jünger, die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 55 Jahren und das Bevölkerungswachstum bei 3 Prozent pro Jahr.

Der Großteil der Menschen in Malawi lebt von der Landwirtschaft, das monetäre Durchschnittseinkommen liegt bei 270 $ jährlich. In den meisten Dörfern gibt es Brunnen, der Weg zum Wasserholen ist also überschaubar und es gibt Strom, zumeist aber nur stundenweise. Verkehrsmittel sind Fahrräder, Ochsenkarren, überfüllte Kleinbusse oder PKWs sowie LKW-Ladeflächen, auch für Patienten auf dem Weg zum Arzt. Krankenwagen, Rettungsdienst - Fehlanzeige!

Amts- und Dienstsprache ist Englisch, das allerdings von ca. 90 Prozent der Landbevölkerung (sie sprechen die Bantusprache Chichewa) nicht beherrscht wird. Im St. Gabriel's Hospital arbeiten nur fünf Ärzte, davon zwei Einheimische und drei Europäer. Den Großteil der ärztlichen Leistungen inklusive vieler Operationen und Kaiserschnitte erbringen "Medical Assistants" und "Clinical Officers". Sie haben eine zwei- bzw. dreijährige Ausbildung und sind die Stützen des malawischen Gesundheitssystems. Die Anleitung dieses Personals ist eine wesentliche Aufgabe der europäischen Ärzte in der Einrichtung.

Der Klinikalltag beginnt mit der morgendlichen Krankenhausbesprechung. Anschließend geht es mit dem chirurgischen Team, bestehend aus dem deutschen Chirurgen, einem Clinical Officer und zwei Medical Assistants, zur Visite, zuerst ins Kinderhaus, wo bis zu 150 Kinder in zwei Sälen und einem weiteren Zimmer untergebracht sind. In diesem gesonderten Zimmer liegen Verbrennungskinder. Alle Kinder, die ich dort zu sehen bekomme, würden bei uns in einem Verbrennungszentrum liegen. Unvorstellbar, dass die meisten Kinder erst nach Tagen zur medizinischen Behandlung gebracht werden.

In der Nacht sind Kinder mit frischen, eindeutig verschobenen Frakturen gekommen. Geschient werden diese zunächst provisorisch mit stabiler Pappe. Erst während der regulären Arbeitszeit am Folgetag erfolgt die Röntgendiagnostik, Reposition und Gipsanlage.

Im Gegensatz zu unserem Gesundheitssystem stößt man in Malawi sehr schnell an die Grenzen der vorhandenen Ressourcen. So hat das St. Gabriel's Hospital zwar die einzige in Malawi vorhandene digitale Röntgenanlage, aber nur einen Röntgenassistenten, der verständlicherweise nicht an allen Tagen rund um die Uhr zur Verfügung steht. Warum auch nachts röntgen, wenn dies in der Nacht keine therapeutische Konsequenz hat? Operiert wird zu diesem Zeitpunkt nur bei vitaler Indikation.

Die Ressourcen der Patienten bzw. ihrer Familien sind begrenzt: Für die Behandlung müssen die Patienten etwas zahlen, aus unserer Sicht einen lachhaften Betrag. Wenn man allerdings das durchschnittliche Jahreseinkommen berücksichtigt, kann es schnell um einen Wochen- oder Monatslohn gehen. Also beschränkt man sich bei therapeutischen Maßnahmen auf das wirklich Notwendigste. Ein unverschobener kindlicher Bruch heilt auch ohne Gips, warum also Gipsen und Kosten für die Familie verursachen?

Auch die materiellen Ressourcen der Einrichtung sind begrenzt: Digitales Röntgen und eine hochwertige Video-Endoskopieanlage stehen zur Verfügung, aber Gips, Wunddrainagen und Nahtmaterial können Mangelware sein, entsprechend sparsam wird damit umgegangen. Das erfordert schon eine Umstellung, wenn man es gewohnt ist, aus dem Vollen schöpfen zu können.

Von der Kinderstation aus geht es dann zur Visite auf die Frauen- und Männerstation, jeweils ein Raum mit 14 Betten. Falls diese nicht ausreichen, werden Matratzen auf den Boden gelegt. Alle chirurgischen Krankheitsbilder liegen beieinander.

Am Vorabend wurde ein junger Mann mit akuten Bauchschmerzen aufgenommen. Die klinische Symptomatik scheint eindeutig. Meiner Meinung nach sollte der Patient sofort operiert werden. Der Kollege bremst mich. Man müsse immer dran denken, dass die Patienten "traditionelle Medizin" zu sich genommen haben könnten. Dies könne die Symptomatik verfälschen. Im Laufe der Zeit lerne ich, wie wichtig diese Frage ist. Ein Großteil der Patienten sucht erst einen traditionellen Heiler auf, ehe sie sich in medizinische Behandlung begeben.

Den Rest des Tages verbringen wir in der Ambulanz oder dem OP. Trotz meiner langjährigen Berufserfahrung begegnen mir hier täglich Krankheitsbilder, die ich nie zuvor gesehen habe. Viele Erkrankungen sind weit fortgeschritten, weshalb auch die Frage nach dem AIDS-Status und nach einer eventuellen Tuberkulose-Erkrankung zu vielen Anamnesen dazugehört. Immerhin sind zwölf Prozent der Bevölkerung HIV-positiv.

Im OP erwarten mich ungewohnte OP-Techniken: Eine Kirschnerdraht-Osteosynthese ohne Bohrmaschine und ohne Röntgendurchleuchtung will erst gelernt sein. Eine instrumentierende OP-Schwester ist auch keine Selbstverständlichkeit. So sind die Tage im St. Gabriel's Hospital spannend, interessant, lehrreich, fordernd und sehr kurzweilig. Es wäre noch seitenweise darüber zu schreiben. Wer sich für das Krankenhaus interessiert, dem empfehle ich die Internetseiten: www.stgabrielshospital.org und www.zitha.lu.

Dr. Ingvo Müller,
FA für Chirurgie und Unfallchirurgie
Klinikum Nordfriesland


5-6 Kinder
bringen Frauen in Malawi durchschnittlich zur Welt. Die Bevölkerung wächst jedes Jahr um drei Prozent. Die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 15 Jahre. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 55 Jahren.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Kaum eine Frau in Malawi hat nicht mindestens ein Kleinkind vor dem Bauch oder auf dem Rücken. Jede Frau hat durchschnittlich fünf bis sechs Kinder.

- Dr. Ingvo Müller, Oberarzt am Standort Niebüll des Klinikums Nordfriesland, sammelte bei einem Aufenthalt in Malawi Erfahrungen in einem Gesundheitswesen, das mit extrem begrenzten Ressourcen auskommen muss.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 10/2018 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2018/201810/h18104a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
71. Jahrgang, Oktober 2018, Seite 24 - 25
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2018

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