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ARTIKEL/1468: Hilfe in Krisenregionen - Ärzte allein können es nicht richten (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 3/2018

ÄRZTE OHNE GRENZEN
Ärzte allein können es nicht richten

von Martin Geist


Dr. Tankred Stöbe von Ärzte ohne Grenzen in Kiel. Seine persönliche Erfahrung: Kein Mangel an Ärzten, die in Krisenregionen helfen wollen - aber an Sensibilität der europäischen Politik.


Weltweit sind derzeit ungefähr 65 Millionen Menschen auf der Flucht. So viele wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Ein trauriger Rekord mit dramatischen Folgen auch für die Gesundheit der Betroffenen. Dr. Tankred Stöbe, der zu den profiliertesten Akteuren von Ärzte ohne Grenzen in Deutschland gehört, appellierte angesichts dieser Situation bei einem Vortrag in Kiel eindringlich an die Verantwortung Europas.

Stöbe, vor 49 Jahren in Nürnberg geboren und in Berlin als Internist und Rettungsmediziner tätig, hat seit 2002 bereits 18 Einsätze für die Ärzte ohne Grenzen absolviert. Gewöhnlich muss er dafür zwar seinen Urlaub opfern oder zwackt sich die Zeit in Form von Überstunden ab, doch beklagen mag er sich darüber nicht. "Das Ehrenamt ist mit das Wichtigste in meinem Leben geworden", sagt der Mann, der von 2007 bis 2015 Präsident der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen war und vor zwei Jahren für sein Engagement von der Bundesärztekammer mit der Paracelsus-Medaille geehrt worden ist.

Derlei Freude am Helfen muss sich gleichwohl unter mehr als erschwerten Bedingungen behaupten. Schon wegen der enorm großen Zahl an Flüchtlingen ist oft genug Hilflosigkeit das große Thema. Und selbst wenn Stöbe und seine Mitstreiter tätig werden können, erschweren völlig unzureichende räumliche und materielle Bedingungen immer wieder den Behandlungserfolg. "Man muss frustrationstolerant sein", nennt Stöbe die vielleicht wichtigste Psycho-Strategie, die sich ein Arzt ohne Grenzen aneignen sollte, und betont auf der anderen Seite, dass es trotz allem "viele schöne Momente" gibt, die für den Frust entschädigen.

Dass man mit einem kleinen Team, minimaler Ausrüstung und wenigen Medikamenten die Möglichkeit hat, Menschenleben zu retten, ist auch ganz grundsätzlich eine Erfahrung, die ihn immer wieder anspornt: "Das ist Medizin, wie ich sie mir effektiver und schöner nicht vorstellen kann."

Im Kieler Landeshaus sprach Tankred Stöbe innerhalb der vom Flüchtlingsbeauftragten und vom Flüchtlingsrat des Landes Schleswig-Holstein organisierten Vortragsreihe "Wertewandel? Die Abschottung Europas gegen Schutzsuchende". Eine aus Sicht des Berliner Mediziners sehr berechtigte Vortragsreihe. 2015, so argumentierte er, habe Europa noch etwa eine Million Flüchtlinge aufgenommen, 2017 gerade noch knapp 160.000. Was andersherum bedeute, dass fast 90 Prozent aller Flüchtlinge in armen Ländern eine Bleibe finden.

Stöbe war zuletzt dreimal in Libyen als Helfer tätig, in einem Land, wo mittlerweile jeder vierte Einwohner ein syrischer Flüchtling ist. In Worten und mit Bildern schilderte Stöbe eindringlich die verheerenden Bedingungen, unter denen diese Menschen leben müssen: Keine Rechte, praktisch keine medizinische Versorgung und unsägliche hygienische Bedingungen in den Notunterkünften. Unter anderem zeigte Stöbe Bilder eines Sanitärraums, dessen Benutzer knöcheltief durch eine Mischung aus Urin und Fäkalien zu den Waschbecken gehen mussten. "Das ist noch eine der besseren Unterkünfte", betonte der Referent.

Unterdessen stellt Stöbe der internationalen Ärzteschaft ein gutes Zeugnis aus. So widrig die Umstände auch sein mögen, unter Personalmangel leiden die Ärzte ohne Grenzen nach seiner Einschätzung nicht. Allenfalls mangele es an besonders erfahrenen Freiwilligen, schränkt er diese Bewertung etwas ein.

In jedem Fall mangelt es aber nach Stöbes Überzeugung an Sensibilität in Europa. Flüchtlingsunterkünfte in Libyen seien regelrechte "Gefangenenlager", Frauen würden dort verkauft wie Sklavinnen, nannte er ein Beispiel für die dramatische Situation. Sein Fazit: Europa könne angesichts solcher Zustände nicht die Augen verschließen, sondern müsse für legale Fluchtwege und sichere Aufnahmebedingungen sorgen.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Dr. Tankred Stöbe war von 2007 bis 2015 Präsident der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen und hat zahlreiche Einsätze für die Organisation absolviert. Von der Bundesärztekammer wurde er für sein Engagement mit der Paracelsus-Medaille ausgezeichnet. Kürzlich referierte der in Berlin tätige Internist und Rettungsmediziner im Kieler Landeshaus.

Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 3/2018 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2018/201803/h18034a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, März 2018, Seite 20
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. April 2018

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