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ARTIKEL/1517: Neue Modelle in der Allgemeinmedizin - Feedback und Teamarbeit statt Zwang und Dauerstress (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 9/2019

Allgemeinmedizin
Feedback und Teamarbeit statt Zwang und Dauerstress

von Dirk Schnack


Für angehende Hausärzte werden neue Modelle benötigt. Kooperation aller Akteure im Norden. Fortschritte für die Allgemeinmedizin auf vielen Ebenen.


Für die Sicherstellung der hausärztlichen Versorgung sind die Weichen in Schleswig-Holstein gestellt. Die Lehrstühle für Allgemeinmedizin haben entscheidenden Anteil daran, aber auch die Kooperation zwischen ärztlichen Körperschaften, Krankenhausgesellschaft und Hochschulen. Mit verschiedenen Maßnahmen haben sie dafür gesorgt, dass sich angehende Ärzte früher für das Fach Allgemeinmedizin interessieren, dass sie enger begleitet und besser vorbereitet werden auf eine hausärztliche Tätigkeit.

Dennoch wird es künftig weniger Orte in Schleswig-Holstein geben, in denen hausärztliche Versorgung vorgehalten wird. Die Nachfrage nach Einzelpraxen nimmt ab, die nach Teammodellen in kleinen Zentren zu. Ein Round-Table-Gespräch des Lehrstuhls für Allgemeinmedizin in Lübeck zeigte Ende August, dass zahlreiche Akteure in Schleswig-Holstein bereit sind, diesen Wandel zu begleiten und jungen Ärzten den Einstieg in eine hausärztliche Tätigkeit, die ihren persönlichen Vorstellungen entspricht, zu ermöglichen.

Dazu gehört auch, nicht mehr den früher üblichen direkten Weg nach der Klinik in die Praxis zu erwarten. "Die Laufbahn von Ärzten wird bunter. Wir brauchen flexible Konzepte, die den Einstieg in die hausärztliche Versorgung in jeder Lebensphase ermöglichen", fordert Dr. Henrik Herrmann. Der Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein hält es für sinnvoll, angehende Hausärzte in Team- und Delegationsmodelle zu integrieren. Von den Arbeitgebern erwartet er, dass Ärzte in Weiterbildung positives Feedback für ihre Arbeit bekommen und dass sie nicht dauerhaft über der Belastungsgrenze eingesetzt werden. Zwangsmaßnahmen zur Sicherung der hausärztlichen Versorgung wie etwa die Landarztquote lehnt er dagegen ab, weil Studienanfänger kaum entscheiden könnten, welche Tätigkeit zwölf Jahre später für sie die richtige ist.

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Altersstruktur der in Schleswig-Holstein tätigen Hausärztinnen und Hausärzte

Summe der in Schleswig-Holstein tätigen
Hausärztinnen und Hausärzte:
1.968 Durchschnittsalter: 54,7 Jahre
Stand: 8. Januar 2019 /Quelle: KVSH

14,0% - 65 Jahre und älter
16,3% - 60 bis unter 65 Jahre
19,6% - 55 bis unter 60 Jahre
48,7% - 35 bis unter 55 Jahre
00,5% - bis unter 35 Jahre
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Mitten im Wandel

Delegation, Digitalisierung und Teamarbeit verändern den Arbeitsalltag der Fachärzte für Allgemeinmedizin. Positivere Grundstimmung als in der Vergangenheit. Lehrstühle geben Impulse für Innovationen.

Hausärzte in Schleswig-Holstein finden im Vergleich zu anderen Bundesländern noch relativ häufig Nachfolger. Die Praxisinhaber spüren den Wunsch der angehenden Fachärzte für Allgemeinmedizin nach einer Tätigkeit, bei der sie im Team arbeiten können, bei der sie Aufgaben delegieren können, die ihnen technische Unterstützung bietet und die ihnen garantiert, dass ihre Patienten auch dann versorgt sind, wenn sie selbst nicht im Dienst sind.

In Schleswig-Holstein werden solche Konzepte schon gelebt. Es gibt kleinere Zentren auch auf dem Land, in denen gemeinschaftlich Patienten versorgt werden - geführt von selbstständigen Ärzten, aber vereinzelt auch in Trägerschaft von Kommunen. Doch die Regel sind solche Modelle noch nicht. "Wir bewegen noch zu sehr den Gedanken an eine eins zu eins-Nachbesetzung von Praxen", glaubt etwa Allgemeinmediziner Marcus Jünemann. Bei einem Round-Table-Gespräch zum fünfjährigen Bestehen des Lehrstuhls für Allgemeinmedizin in Lübeck sprach sich der Hausarzt aus Großhansdorf dafür aus, mehr auf Konzepte mit Delegation und Kooperation zu setzen, um die Tätigkeit im ambulanten Bereich für den Nachwuchs attraktiver zu machen.

Bei den Vertretern der ärztlichen Körperschaften rannte er damit offene Türen ein. Die KV-Vorstandsvorsitzende Dr. Monika Schliffke (siehe Interview weiter unten) verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass die Träger solcher Modelle aus ihrer Sicht möglichst Ärzte sein sollten. Modelle wie in Büsum, wo die Kommune als Träger auftritt, werden aus ihrer Sicht nur punktuell helfen. Wie ein Konzept konkret ausgestaltet wird, hängt für sie auch von den jeweiligen Bedingungen vor Ort ab. Fest steht für sie auch, dass die Digitalisierung die Arbeit in der Allgemeinmedizin verändern wird. Sie erwartet, dass viele der derzeit noch erprobten Modelle künftig in der Regelversorgung eingesetzt werden können.

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"DIE AUFGABEN BLEIBEN GROSS"

Schleswig-Holsteins KV-Vorsitzende Dr. Monika Schliffke zu den schon erreichten Veränderungen und zu den bevorstehenden Aufgaben in der Allgemeinmedizin.

Was wurde in den vergangenen Jahren für die Allgemeinmedizin erreicht und was nicht?

Dr. Monika Schliffke: Auf der Habenseite steht, dass eigentlich alle Beteiligten mittlerweile erkannt haben, dass wir uns um den hausärztlichen Nachwuchs intensiv kümmern und für die Allgemeinmedizin gezielt werben müssen. Diese Erkenntnis, und das ist erfreulich, ist auf verschiedenen Ebenen ein Handeln gefolgt. Das beginnt mit unserer Kampagne "Mehr.Arzt.Leben" an den Unis, setzt sich fort über die vielfältigen und wichtigen Aktivitäten des Kompetenzzentrums Allgemeinmedizin und die mittlerweile ordentliche Bezahlung der Ärzte in Weiterbildung bis zu flexibleren Formen der Berufsausübung. Zu nennen sind Anstellungen und Teilzeittätigkeiten, aber auch die Aufhebung der Residenzpflicht. Nicht zu vergessen ist natürlich die Schaffung der Institute für Allgemeinmedizin an den Universitäten in Kiel und Lübeck mit ihren höchst engagierten Lehrstuhlinhabern. Das alles sind Beiträge, um bei mehr Nachwuchsmedizinern ein Interesse an der Allgemeinmedizin zu wecken und um die Tätigkeit, gerade auf dem Land, attraktiver zu machen.

Das kann aber nur eine Zwischenbilanz sein. Denn die Aufgaben bleiben groß. Dazu gehört, dass wir den Strukturwandel in der ambulanten hausärztlichen Versorgung, der durch eine höhere Nachfrage nach Teamarbeit und weniger Interesse an der Einzelpraxis gekennzeichnet ist, weiter so begleiten, dass wir Arbeitsmöglichkeiten schaffen, die von den Jüngeren nachgefragt werden, und zugleich die bewährte Struktur einer durch freiberuflich-selbständige Praxen geprägten Versorgung erhalten, die heute schon und künftig vielleicht vermehrt auch Beschäftigungsmöglichkeiten für angestellte Hausärzte bieten. Unsere weitere Anstrengung muss darauf gerichtet sein, mehr Medizinstudenten, die ein Interesse an der Allgemeinmedizin zeigen, dazu zu ermutigen, sich für eine Weiterbildung in der Allgemeinmedizin zu entscheiden. Denn der Blick auf die Zahl der entsprechenden Facharztanerkennungen zeigt, dass da noch Luft nach oben ist.

Welches werden künftig die wichtigsten Veränderungen in der Arbeit des Hausarztes im Vergleich zu heute sein?

Schliffke: Der Trend geht, das zeigen die Zahlen, aber auch Gespräche mit jüngeren Hausärztinnen und Hausärzten, zur Teamarbeit unter einem Dach. Dies auch, weil insbesondere der Einstieg in den Beruf vielfältiger wird. Hier spielen Anstellungen, auch in Teilzeit, eine große Rolle. Wir nähern uns der Größenordnung, dass jeder fünfte Hausarzt angestellt arbeitet. Das sind zum einen die Jüngeren, die gern zunächst ohne die Verantwortung für den Praxisbetrieb in den Beruf einsteigen, mit Rücksicht auf Familie und Kinder häufig auch in Teilzeit. Es sind aber zum anderen auch ältere Kolleginnen und Kollegen, die die Anstellung nutzen, um einen fließenden Übergang in den Ruhestand zu gestalten. Wir werden deshalb weiter eine Entwicklung zu größeren hausärztlichen Einheiten sehen, die diese Beschäftigungsformen ermöglichen.

Unser Interesse ist es, dass die Strukturen weiter vorzugsweise in ärztlicher Hand sind. Als KVSH überlegen wird deshalb derzeit, wie wir die Schaffung solcher "Teampraxen" in ärztlicher Hand als ein Modell zur Sicherstellung der Versorgung jenseits der Städte gezielt unterstützen können. Der zweite Megatrend ist sicher die Digitalisierung, die neue Möglichkeiten der Telemedizin eröffnet. Zunehmend entsteht derzeit ein technischer und rechtlicher Rahmen, so dass wir hoffentlich in den nächsten Jahren die Transformation einer Vielzahl von guten Modelprojekten in die Regelversorgung schufen. Ein gutes Beispiel ist der Telerucksack, mit dem sich für die erfolgreich angelaufene Delegation von Routine-Hausbesuchen an nicht-ärztliche Praxisassistentinnen zusätzliche Möglichkeiten eröffnen.

Vor dem Hintergrund, dass die Zahl der Hausärzte trotz aller Bemühungen um den Nachwuchs endlich bleiben wird und gerade die Nachbesetzung im ländlichen Raum eine Herausforderung darstellt, bleibt es Aufgabe aller Beteiligten, genau zu schauen, wie wir die begrenzte Zahl der Ärzte einsetzen und wie und wo wir sie entlasten können, etwa durch Delegation oder durch telemedizinische Angebote. Letzteres nicht, um die ärztliche Versorgung in das Internet zu verschieben, sondern um dort, wo es Sinn macht, die Arbeitszeit der Ärzte konzentrierter zu nutzen und Patienten so manchen Weg zu ersparen.

Dr. Monika Schliffke, Vorstandsvorsitzende der KV Schleswig-Holstein
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Auch Schleswig-Holsteins Kammerpräsident Dr. Henrik Herrmann sieht die Zukunft der hausärztlichen Versorgung in solchen teamorientierten Modellen, die Delegation und Kooperation ermöglichen. Um genügend angehende Ärzte für das Fach zu interessieren, ist für ihn u.a. ein dauerhaftes Engagement in Ausund Weiterbildung unverzichtbar. "Wir müssen Studierende über Praktika früh an die hausärztliche Versorgung heranführen und die Begleitung in der Weiterbildung dann intensivieren", sagt Herrmann. In der Pflicht sieht er u.a. die Weiterbildungsbefugten an den Krankenhäusern: "Es geht um Aktivitäten, mit denen man die Weiterbildung für Allgemeinmedizin in den Vordergrund rückt", sagte Herrmann.

Deutlich wurde beim Round-Table in Lübeck, dass eine insgesamt deutlich positivere Grundstimmung herrschte als im Vergleich zu früheren Jahren, wenn über die Zukunft der Allgemeinmedizin diskutiert wurde. So hat etwa Dr. Svante Gehring, erster Sprecher der Ärztegenossenschaft Nord das Gefühl, dass die gute Vernetzung in Schleswig-Holstein maßgeblich dazu beiträgt, "dass wir die Ärzte in die Versorgung bekommen". Gehring sieht Schleswig-Holstein in der Allgemeinmedizin "auf einem guten Weg". Diese positive Grundstimmung will auch Dr. Frank Niebuhr vermitteln. "Wir können zeigen und vorleben: Allgemeinmedizin macht Spaß und ist attraktiv", sagte Niebuhr in Lübeck.

Um dies umzusetzen, ist in Schleswig-Holstein schon viel passiert - insbesondere an den Universitäten. Die vor fünf Jahren neu eingerichteten Lehrstühle für Allgemeinmedizin in Kiel und Lübeck sind oft Initiatoren für neue Konzepte und in zahlreiche Bemühungen eingebunden. Fortschritte zeigen sich etwa im universitären Alltag. Die Studierenden lernen die Allgemeinmedizin als ein Fach neben anderen kennen, erhalten damit die Option, sich vertiefend mit diesem zu beschäftigen - und sie nutzen diese.

"Die Stimmung für die Allgemeinmedizin hat sich unter den Studierenden deutlich verbessert", sagt Prof. Hanna Kaduszkiewicz. Die Lehrstuhlinhaberin ist seit fünf Jahren in Kiel und hat in diesem Zeitraum beobachtet, dass sich einiges zum Positiven verändert hat. Sie macht dies u.a. an der Evaluation der allgemeinmedizinischen Lehrveranstaltungen fest. Diese zeigen, dass die Angebote bei den Studierenden auf positive Resonanz stoßen. Gewandelt haben sich nach ihrer Wahrnehmung auch Image und Reputation der Allgemeinmedizin. Das gestiegene Ansehen kann u.a. dabei helfen, auch die besonders guten unter den Studierenden für das Fach zu begeistern. Oder dabei, die Resonanz auf die im jährlichen Wechsel in Kiel und Lübeck veranstalteten Tage der Allgemeinmedizin zu erhöhen - die diesjährige Veranstaltung war mit rund 200 Gästen so gut wie nie besucht. Image und Reputation sind aber auch wichtig, damit außeruniversitär Fortschritte für die Allgemeinmedizin erzielt werden. Auch dafür gibt es Beispiele wie das 2016 gegründete Kompetenzzentrum Weiterbildung Allgemeinmedizin (KWA.SH). Die gemeinsame Einrichtung von Ärztekammer, KV, der Landeskrankenhausgesellschaft und den Lehrstühlen begleitet die Weiterbildung im Fach Allgemeinmedizin und will mit ihren Seminaren dazu beitragen, dass Qualität und Effizienz in der Weiterbildung verbessert werden. Die Arbeit des KWA.SH und die der Lehrstühle sollen langfristig dazu beitragen, dass sich mehr Ärzte für eine hausärztliche Tätigkeit in Schleswig-Holstein entscheiden.

"Für einen Effekt in Zahlen ist es noch zu früh", warnt Kaduszkiewicz vor übereilten Erwartungen. Aktivitäten, die an den Lehrstühlen und. vom KWA.SH angestoßen wurden, könnten sich noch gar nicht in zusätzlichen Niederlassungen niederschlagen. Auch die aktuellen Zahlen zeigen, dass sich die Situation in Schleswig-Holstein nicht entscheidend verändert hat.

Hinzu kommt, dass es trotz unbestreitbarer Fortschritte noch immer Hürden für die Allgemeinmedizin gibt. Kaduszkiewicz sieht eine davon in den Krankenhäusern. Nicht in allen wird nach ihrer Wahrnehmung den Bedarfen der Ärzte in Weiterbildung Allgemeinmedizin entsprochen. So berichten einige Assistenzärzte, dass sie für die Seminartage des Kompetenzzentrums nicht frei bekommen oder die Information nicht an sie herangetragen wird. "Hier wäre einanderes Selbstverständnis der Krankenhäuser nötig. Zumindest die Ärzte in Weiterbildung, die finanziell gefördert werden, sollten ganz selbstverständlich zu den Seminartagen geschickt werden. Momentan denken die meisten Krankenhäuser nur an ihren eigenen Dienstplan", sagt Kaduszkiewicz.

Eine andere Hürde ist die Ausstattung des Lehrstuhls. Die Basisausstattung beinhaltet die Professur, eine halbe Arztstelle und das Sekretariat. Alles Weitere muss mühsam über Drittmittel finanziert werden. "Wenn mehr Mittel da wären, könnte ich weitere Ärzte einstellen. Der Bedarf und das Interesse wären vorhanden", sagt Kaduszkiewicz, die sich für eine Stärkung des akademischen Mittelbaus in der Allgemeinmedizin einsetzt. Sie ist überzeugt, dass sich ausreichend Allgemeinmediziner im Land für Lehre und Forschung engagieren würden, wenn der Lehrstuhl entsprechend ausgestattet wäre. Kaduszkiewicz verweist in diesem Zusammenhang auf Clinician Scientist Programme für Spezialfächer, in denen künftigen Fachärzten während ihrer Weiterbildung Zeit für Forschung gewährt wird. Ähnliches sei auch für die Allgemeinmedizin notwendig, so Kaduszkiewicz.

Auch Prof. Jost Steinhäuser, Inhaber des vor fünf Jahren von der Damp-Stiftung eingerichteten und inzwischen verstetigten Lehrstuhls für Allgemeinmedizin an der Lübecker Universität, sieht einen der wichtigsten Fortschritte für die Allgemeinmedizin in der Einführung der Kompetenzzentren Weiterbildung Allgemeinmedizin. Damit wurden die Train-the-Trainer-Kurse für Weiterbildungsbefugte und Schulungstage für Ärzte in Weiterbildung, für die er die wissenschaftlichen Grundlagen geschaffen hat, möglich. Diese sind für das Selbstverständnis der Allgemeinmedizin förderlich, sagte er auf Anfrage des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblattes.

Für die Ausbildung in Lübeck speziell nennt er die Einführung des multiszenario OSCE (Objective Structured Clinical Examination) als Prüfungsform für die Allgemeinmedizin als großen Schritt in die richtige Richtung. Diese ermöglicht es, Wissen, Fertigkeiten (Untersuchungstechniken) und kommunikative Aspekte zeitgleich zu adressieren. 115 Studierende werden pro Semester in zwei Tagen von 26 Ärzten und 23 Simulationsdarstellern geprüft. Jeder Studierende muss sich auf rund eine Stunde, in denen er mit fünf Fällen konfrontiert wird, einstellen - und damit auch auf fünf Prüfer und Darsteller. "Eine Besonderheit dabei ist, dass wir bei den kommunikativen Aspekten Elemente des international etablierten MAAS-Global-D Instruments mit berücksichtigen", sagt Steinhäuser.

Ein weiterer Fortschritt in Lübeck ist das Wahlfach Rural & Remote Care: In dem longitudinalen Lehrangebot können jährlich im Wintersemester 25 Studierende aufgenommen werden. Sie werden durch das Institut für Allgemeinmedizin mindestens ein Jahr, maximal vom dritten Fachsemester bis zum Praktischen Jahr, regelmäßig zu drei Themen (Untersuchungstechniken, Arzt-Patienten-Kommunikation und Durchführen von Prozeduren) unterrichtet und begleitet Dazu finden fünfmal im Semester jeweils eine Stunde interaktive Seminare statt. Außerdem erfolgt pro Semester eine zweitägige Hospitation in immer der gleichen Praxis. In dieser Praxis können dann auch die gleichen Patienten wiedergesehen werden, etwa Patienten, die an einem Disease Management Programm teilnehmen. "Hierdurch bekommen die teilnehmenden Studierenden Einblicke von der in der Allgemeinmedizin typischen "Kontinuität der Versorgung" und über die Tätigkeit im ländlichen Raum", sagt Steinhäuser. Für die Hospitation bekommen die Studierenden bei Bedarf einen Wagen kostenlos zur Verfügung gestellt.

Diese Fortschritte bedeuten aber auch für Steinhäuser nicht, dass es keine Defizite mehr gibt. "Die unter dem Begriff der Verbundweiterbildung bekannte Planung und Durchführung von Rotationen durch unterschiedliche klinische Gebiete kann noch weiter optimiert werden", sagt der Lübecker Lehrstuhlinhaber. Für die nähere Zukunft hat sein Institut noch einige Punkte auf der Agenda. So steht etwa die Ausrichtung des 55. DEGAM-Kongress im Jahr 2021 in Lübeck an. Steinhäuser will außerdem die Möglichkeiten, die das in Lübeck angesiedelte Archiv der Deutschsprachigen Allgemeinmedizin (ADAM) für medizinhistorische und aktuelle Forschungsfragen bietet, ausbauen. Dies gilt auch für das Forschungspraxisnetz, hier mit der Besonderheit, dass Lübeck dies interdisziplinär angeht.

Fortschritte hat es für die Allgemeinmedizin auch in der politischen Akzeptanz gegeben, hat Dr. Thomas Maurer beobachtet "Dass neben der Hightechmedizin die hausärztliche Tätigkeit eine zentrale Rolle in unserem Gesundheitswesen spielt, scheint in der Politik angekommen zu sein. Kaum ein Gesundheitspolitiker, der nicht regelmäßig auf diese wichtige Rolle hinweist, sagt der Vorsitzende im Landesverband des Hausärzteverbandes. Maurer findet auch regelmäßig Gehör bei Landesgesundheitsminister Dr. rer. pol. Heiner Garg, der sich mit dem Hausärzteverband über gesundheitspolitische Themen austauscht. Maurer verweist auf politische Entscheidungen im Sinne der Hausärzte, etwa

  • die gesetzliche Verankerung der hausarztzentrierten Versorgung,
  • die Möglichkeit zur Schaffung von Hausarzt MVZ,
  • die Entsperrung von Zulassungsbezirken bei drohenden Versorgungsproblemen.

Positiv bewertet Maurer auch die Etablierung von allgemeinmedizinischen Lehrstühlen und die Tatsache, dass die KV-Spitze in Schleswig-Holstein seit 15 Jahren mit Hausärzten besetzt ist.

Was Maurer noch an vielen Stellen fehlt, ist die finanzielle Unterfütterung der guten Ideen. Im Gespräch mit jungen Kollegen schälen sich für ihn zwei Hauptsorgen heraus. Erstens die Angst vor finanzieller Überforderung, insbesondere durch Regresse. Zweitens die Befürchtung, die schwer überschaubaren Regularien, Budgets und sonstige bürokratische Anforderungen nicht erfüllen zu können. "Buchstabenkombinationen wie TSS, TSVG oder KV klingen für die Niederlassungswilligen wie Drohungen und sind Symbol für eine nicht zu überblickende Bürokratie. Hier ist noch ein weites Feld für politisch motivierte Verbesserungen", sagt Maurer.

Woran es nach Beobachtung von Maurer der Allgemeinmedizin nie gemangelt hat, ist die Wertschätzung durch Patienten. "Gefühlt ist die für uns auch unerschütterlich", sagt er. Auch den ärztlichen Kollegen aus anderen Disziplinen wird nach seiner Wahrnehmung "immer wieder klar, dass der Patient jemanden braucht, der den Überblick behält". Die Wertschätzung wirke sich auch auf das Selbstverständnis der jungen Ärzte aus: "Die entscheiden sich bewusst für unser Fach, weil es spannend ist. Wir sollten immer wieder und überall betonen, dass man sich nicht aus Verlegenheit oder in Ermangelung anderer Fähigkeiten für den Hausarztberuf entscheidet, sondern weil man sich diesen anspruchsvollen Beruf zum Ziel gesetzt hat", sagt Maurer. Nach seiner Überzeugung hat sich auch das Bild des ständig überlasteten Hausarztes inzwischen widerlegt: "Wir betreiben heute Telemedizin, es gibt einen organisierten Notdienst mit bemerkenswert gutem Verdienst und wir haben junge Teams in modernen Praxen mit den unterschiedlichsten Arbeitszeitmodellen für Kollegen und Kolleginnen, die für ihr Fach brennen."

Überwunden werden muss nach seiner Ansicht noch das Bild der Allgemeinmedizin bei den Kollegen in manchen Kliniken. "Nur wenn der Hausarzt die Klinik intelligent nutzt und die Klinikärzte merken, dass sie sinnvolle Einweisungen bekommen und die Patienten nach Entlassung auch gut weiterbehandelt werden, können beide Seiten gut zusammenarbeiten", ist Maurer überzeugt. Ein guter Hausarzt sollte seine Krankenhäuser gut kennen, mahnt er, und möglichst selbst ein guter Krankenhausarzt gewesen sein - "dann funktioniert es auch mit dem Image."

Die Zukunft der Hausarztmedizin sieht der Allgemeinmediziner aus Leck in vielfältigen Modellen der Teamarbeit in kleinen Zentren. Diese größeren Einheiten, die nicht mehr von der individuellen Arbeitsleistung eines Einzelnen abhängig sind, werden nach seiner Überzeugung in Zukunft eine größere Rolle in der gesundheitlichen Versorgung spielen. Daneben sieht Maurer für Einzelpraxen und kleine Gemeinschaftspraxen genügend Spielräume, um mehr Individualität in die Versorgung zu bringen. Unabhängig von der Größe erwartet er eine größere Bedeutung der Telemedizin, mit der die Versorgung der Patienten künftig deutlich vernetzter und effektiver gestaltet werden kann.

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MIT VIEL PRAXISNÄHE ZUM FACHARZT FÜR ALLGEMEINMEDIZIN

Dass sich Krankenhäuser intensiv um Bewerber für Ärzte in Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin bemühen, ist noch immer nicht die Regel. Die Westküstenkliniken in Heide und Brunsbüttel machen den angehenden Hausärzten dagegen ein Angebot für eine klar strukturierte Verbundweiterbildung mit Rotationsplan, den das WKK mit den Assistenten, den Fachabteilungen und auf Wunsch auch mit den Hausarztpraxen in der Region abstimmt.

In Brunsbüttel gibt es noch eine weitere Besonderheit. Dort werden die Assistenten im Bereitschaftsdienst interdisziplinär eingesetzt und sammeln über diesen Weg wichtige Praxis-Erfahrungen in den Fächern Innere, Chirurgie und Geriatrie. Dort werden sie laufend mit Entscheidungssituationen konfrontiert, die denen in der späteren Hausarztpraxis ähneln.

Während die Assistenten in anderen Häusern von Abteilung zu Abteilung wechseln und nach dem Wechsel nichts mehr mit den Fällen der bereits absolvierten Abteilung zu tun haben, geschieht der Wechsel in Brunsbüttel kontinuierlich und ist abhängig von den jeweiligen Erkrankungen der Patienten, die das Haus aufsuchen.

"Das garantiert ein breites Spektrum und die Weiterbildungsassistenten verbleiben in einem unverminderten Trainingszustand. Das macht die Weiterbildung bei uns besonders", sagt Dr. Thomas Thomsen. Der Chefarzt in Brunsbüttel wirbt im Gespräch mit dem Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatt um Bewerber für die Allgemeinmedizin: "Wir bekommen für unseren interdisziplinären Ansatz positive Resonanz von den Bewerbern", sagt Thomsen. Die Verbundweiterbildung ist nach seinen Angaben klar auf das Ziel ausgerichtet, künftige Hausärzte für die Region zu finden. Von den aktuell acht Weiterbildungsassistenten im WKK wollen drei Fachärzte für Allgemeinmedizin werden. Diese könnte die Region gut gebrauchen: Rund die Hälfte der Hausärzte in Brunsbüttel ist 60 Jahre oder älter - deutlich mehr als im Landesdurchschnitt.

Um sich unter den angehenden Ärzten bekannt zu machen, sind die Westküstenkliniken u.a. auf PJ-Messen aktiv. Im WKK werden die Weiterbildungsassistenten zur Allgemeinmedizin von Mentorin Dr. Anne-Maja Hergt durch die Zeit begleitet. Außerdem findet einmal wöchentlich eine offene Sprechstunde für alle an den beiden Standorten tätigen Weiterbildungsassistenten im Fach Allgemeinmedizin statt - derzeit sind dies 18. (di)

Dr. Thomas Thomsen ist Chefarzt am Westküstenklinikum Brunsbüttel.
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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

1.968 Hausärzte waren Anfang 2019 in Schleswig-Holstein tätig. Fünf Jahre zuvor waren dies 1.938. Die Zahl der hausärztlichen Stellen ist im gleichen Zeitraum von 1.907 auf 1.927 gestiegen.

Grafik
In den Städten Kiel (176), Lübeck (155), Flensburg (68) und Neumünster (49) arbeiten zusammen 448 der landesweit 1.968 Hausärzte. In Neumünster zeigt sich, dass die Suche nach Hausärzten auch in den Städten kein Selbstläufer mehr ist. Dort war zu Jahresbeginn eine Hausarztstelle offen. Die meisten oflenen Stellen gibt es im Mittelbereich Husum. Dort waren zu Jahresbeginn 11,5 der landesweit 18,5 freien Hausarztsitze zu finden. Im Mittelbereich Itzehoe war dies nur eine, im Mittelbereich Meldorf zwei, im Mittelbereich Neumünster 3,5. (Quelle: KVSH)


Dr. Thomas Maurer ist Landesvorsitzender des Hausärzteverbandes in Schleswig-Holstein. Er erwartet, dass sich die Allgemeinmediziner künftig stärker in Teams organisieren, die auf Delegation und digitale Unterstützung setzen.

Prof. Hanna Kaduszkiewicz, Inhaberin des Lehrstuhls für Allgemeinmedizin in Kiel.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 9/2019 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2019/201909/h19094a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
72. Jahrgang, September 2019, Seite 1, 6 - 11
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
Schleswig-Holstein
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Telefon: 04551/803-272, -273, -274,
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. November 2019

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