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ARTIKEL/1528: Auf der Suche nach dem Masterplan - Interview mit Dr. Svante Gehring von der Ärztegenossenschaft Nord (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 3/2020

INTERVIEW
Auf der Suche nach dem Masterplan

Die Redaktion des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblattes sprach mit Dr. Svante Gehring, erster Sprecher der Ärztegenossenschaft Nord


"Der Ausverkauf der ambulanten Medizin durch Finanzinvestoren steht bevor" - so dramatisch hatte die Ärztegenossenschaft Nord (äg Nord) im Februar vor den Folgen der Kommerzialisierung in der ambulanten Medizin gewarnt. Im Interview erläutert der erste äg Nord-Sprecher Dr. Svante Gehring, was damit gemeint ist.


Herr Dr. Gehring, in einer Pressemeldung kritisiert die Ärztegenossenschaft Nord den Ausverkauf der ambulanten Versorgung durch Großinvestoren. Darin klingt an, dass die Kritik tiefer geht und sich generell gegen Ökonomisierung im Gesundheitswesen richtet. Welche Bilanz ziehen Sie nach 30 Jahren Liberalisierung im Gesundheitswesen?

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Um 0,7 % sind die Jahresüberschüsse der Vertragsarztpraxen im Jahr 2017 gesunken. Diese Zahl teilte das Zentralinstitut (Zi) für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland mit. Im Mittelwert über alle Fachgruppen lag der Überschuss bei 168.000 Euro je Praxisinhaber. Ein wichtiger Grund für den Rückgang sind die schon seit 2014 überdurchschnittlich steigenden Betriebskosten für die Praxen. Die größten Kostensprünge gab es laut Zi beim Personal.
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Dr. Svante Gehring: Ich finde die Bilanz ernüchternd. Ich persönlich habe nichts gegen Ökonomie, aber ich wehre mich gegen die Kommerzialisierung. Nicht der Patient steht im Mittelpunkt, sondern seine Erkrankung in einer Kosten-Nutzenbilanzierung. Die Entwicklung hat einerseits zu einer die Patientensicherheit gefährdenden Überversorgung geführt, unnötige Operationen und Herzkathetereingriffe seien hier genannt. Auf der anderen Seite existiert eine genauso eklatante Unterversorgung, weil Patienten gar nicht mehr in Krankenhäusern aufgenommen werden, wenn der "Fallwert" nichts hergibt, andere werden "blutig entlassen". Wir haben mehr private Kliniken als die USA, aber eine spürbare Verbesserung der Versorgung kann ich nicht feststellen, im Gegenteil. Nun wird von großen Kapitalgebern, die nach renditeträchtigen Objekten Ausschau halten, der lukrative Anteil der ambulanten Versorgung - z. B. Labormedizin, Radiologie, Nephrologie und Augenheilkunde - auch noch "filialisiert", während die mittelständischen, freiberuflich geführten Praxen und medizinischen Versorgungszentren (MVZ) dem unfairen Wettbewerb geopfert werden.

Warum ist der Wettbewerb unfair?

Gehring: Weil private Investoren aus dem gesetzlich bevorteilten stationären Sektor heraus operieren, von der Politik den Boden geebnet bekamen, indem ihnen z. B. der MVZ-Gründerstatus frühzeitig zugesprochen wurde. Großinvestoren und Klinikketten können Preise für Praxen zahlen, die sich selbst Verbünde von Mittelständlern nicht leisten könnten. Selbst wenn sie das Geld zusammenbekämen, besitzen sie außer Ärztenetzen gar keinen MVZ-Gründerstatus. Auch die Lieferengpässe bei Arzneimitteln sind ein gutes Beispiel. Der Mittelstand wurde durch Rabattverträge, die nur global agierende Pharmafirmen durch Produktionsverschiebung in Billiglohnländer mitgehen konnten, verdrängt. Nicht zuletzt befinden sich auch die Krankenkassen in einem unfairen Wettbewerb, nicht um den kränkesten, sondern um den lukrativsten Versicherten. Der ist eher jünger, reicher und gesünder.

Bleibt die Solidargemeinschaft auf der Strecke?

Gehring: Meiner Meinung nach ist das so. Statt für gerechte Rahmenbedingungen aller "Stakeholder" im Gesundheitswesen zu sorgen, werden staatlich legitimierte Interessen weniger "Shareholder" begünstigt. Dabei geht es meist nicht um einen Wettbewerb der besten, dem Gemeinwohl dienenden Versorgung, als vielmehr darum, Kosten zu drücken, Effizienz zu steigern und Kapitalgeber zu locken. Dabei zahlt doch jeder Bürger mit im Durchschnitt 3.910 Euro pro Jahr genug für seine Gesundheit, das sind zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und damit mehr als in den meisten Ländern.

Sie sehen die Probleme im Gesundheitswesen also globaler mit dem Wirtschaftssystem gekoppelt. Was ist so schlimm an unserer sozialen Marktwirtschaft?

Gehring: Für mich ist eine soziale Marktwirtschaft am Menschen ausgerichtet, dient dem Gemeinwohl und nicht der Bereicherung einzelner. Unser heutiges Wirtschaftssystem sorgt dafür, dass die Schere zwischen Arm und Reich auseinander driftet. Heute kann ich in Deutschland in einem Stadtteil geboren werden, in dem niedrige Einkommen und die "soziale Schicht" darüber entscheiden, welche Erkrankungen ich haben und ob ich zehn Jahre früher sterben werde als Menschen im benachbarten Stadtteil mit besseren Bildungs- und Einkommenschancen.

Schützt uns der Sozialstaat nicht in ausreichendem Maße?

Gehring: Ich sehe das nicht, im Gegenteil: Der Staat hat sich seit den 80er Jahren mehr und mehr aus den Bereichen der Daseinsfürsorge zurückgezogen und privatisiert. Konnte Anfang der 80er Jahre eine Familie mit einem Durchschnittsgehalt ein gutes Leben bestreiten, sind heute zwei Gehälter kaum noch ausreichend. Mehr als 3,5 Millionen Menschen in Deutschland sind laut Zahlen der Agentur für Arbeit auf einen Zweitjob angewiesen, um über die Runden zu kommen. Die Mittelschicht verschuldet sich und findet sich zunehmend in prekären Arbeitssituationen wieder. Den sozialen Abstieg können viele nicht verarbeiten. In meiner Praxis beobachte ich nicht nur mehr Depressionen, sondern auch mehr Schmerzerkrankungen. Die viel gerühmte Beschäftigungslage auch im Gesundheitswesen wird durch Teilzeitarbeit, Minijobs sowie Leiharbeit bestritten. Auch Altersarmut nimmt zu. Heute sind eine Million Senioren "Minijobber", um ihre Rente aufzubessern.

Zurück zum Gesundheitswesen, was haben Fachkräftemangel und Pflegenotstand mit dem Wirtschaftssystem zu tun?

Gehring: Im DRG-Abrechnungssystem werden das richtige Kodieren belohnt und Gewinne erzielt, wenn die richtigen Patienten bei geringer Liegedauer den richtigen Prozeduren zugeführt werden. Geringere Kosten durch ärztliche und pflegerische Maßnahmen sind auszuschöpfende Rationalisierungspotenziale. Weniger Personal, schlechtere Bezahlung, Überstunden und Arbeitsverdichtung durch Effizienzsteigerung sind die Konsequenz. Burn-out und hoher Krankenstand sind die Folge. Für mich ist es kein Wunder, dass wir in einen Pflegenotstand geraten sind. Welcher Berufseinsteiger mit Empathie für seine Mitmenschen wird nicht im Handumdrehen desillusioniert, bricht ab oder arbeitet später in Teilzeit oder in versorgungsfernen Bereichen, in denen Quantität und Effizienz mit enger Patiententaktung nicht mehr den Alltag bestimmen?

Was müsste sich ändern, damit der Mensch wieder in den Mittelpunkt gerät?

Gehring: Es sollte gesellschaftliche Allgemeingüter wie das Gesundheitswesen ohne Eigentumsrechte geben, die dem Gemeinwesen frei zugänglich und kostenfrei bzw. günstig zur Verfügung gestellt werden. Der Staat muss seiner Verantwortung bei der Daseinsfürsorge nachkommen und sollte sozial gerechte Dienstleistungen und Produkte fördern. Der Mensch muss wieder im Mittelpunkt stehen, ob als Patient, Kunde, Konsument oder Arbeitnehmer. Soziale Aspekte wie Arbeitsbedingungen und Mitgestaltungsmöglichkeiten im Unternehmen müssen Beachtung finden, denn sie stehen mit der Gesundheit der Mitarbeiter unmittelbar in Verbindung. Dazu sind leistungsgerechte und faire Bezahlung und menschenwürdige sowie familiengerechte Arbeitsbedingungen notwendig, die in flächendeckenden Tarifverträgen verankert werden sollten. Die Personaldecke muss stimmen. Untergrenzen müssen festgelegt und entsprechende Anreize geschaffen werden. Wochenarbeitszeiten müssen eingehalten werden, Teilzeitarbeit nicht zur verdeckten Vollarbeitszeit werden, Kinderbetreuung muss gewährleistet sein. Zufriedene Ärzte und Pflegende führen eher zu zufriedenen Patienten als Effizienz- und Gewinnstreben.

Aber reicht das, um die Probleme im Gesundheitswesen zu beseitigen?

Gehring: Nein, wir stehen mit der demografischen Entwicklung und Digitalisierung vor unglaublichen Herausforderungen, der Strukturwandel ist bereits im vollen Gange. Deshalb brauchen wir im Gesundheitswesen so etwas wie einen Masterplan. Dazu müssen Kriterien der Nachhaltigkeit, Zuwendung und Ökologie, die sich am Patienten- und Gemeinwohl sowie der Zufriedenheit der Beschäftigten orientieren, stärker in den Vordergrund rücken. Wenn es um Wettbewerb geht, dann um den der besten Versorgung. Patienten müssen darauf vertrauen können, dass Ärzte nicht den eigenen oder den finanziellen Interessen Dritter dienen Die Gesundheitsökonomen sollten errechnen, was die sprechende Medizin und empathische Zuwendung am Ende an Kosten spart und an Nutzen dem Patienten bringt Die Digitalisierung muss dem Menschen dienen und nicht umgekehrt. Sie darf das informationelle Selbstbestimmungsrecht nicht aushebeln, muss dem Datenschutz und der Schweigepflicht genügen und sollte keine kommerziellen Interessen befeuern.

Wie sollte sich der Strukturwandel ihrer Meinung nach vollziehen?

Gehring: Der Investitionsstau muss ambulant und stationär abgebaut werden. Zwischen den Sektoren muss fairer Wettbewerb herrschen. Non-Profit-Unternehmen wie Genossenschaften sollten gefördert werden, wenn sie sich den ethischen Regeln des Gemeinwohls unterordnen. Diese könnten ihre Mitarbeiter z. B. durch Genossenschaftsanteile und das damit verbundene Stimmrecht urdemokratisch an der Ausrichtung ihres Unternehmens beteiligen. Wissen nicht die pflegenden und ärztlichen Mitarbeiter von Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern besser, was sich am Patientenwohl ausrichtet, als der kaufmännische Geschäftsführer? Erwirtschaftete Gewinne müssen in unserem Solidarsystem reinvestiert werden und nicht an Aktionäre oder ins Ausland abfließen. Die Sektorengrenze muss fallen. Durch Umwandlung kleiner Krankenhäuser in integrative Versorgungszentren könnte intersektorale und transprofessionelle Zusammenarbeit entstehen. Voraussetzung ist allerdings, dass ein neues Vergütungsmodell die dort erbrachten pflegerischen und ärztlichen Leistungen adäquat abbildet.

Wer sollte diese integrativen Versorgungszentren führen?

Gehring: Jedenfalls keine ausländischen und renditehungrigen Kapitalgeber. Ich sehe den Mittelstand, der Sorge für seine Mitarbeiter zeigt und von freiberuflich tätigen Ärzten getragen wird, in der Verantwortung. Er sollte eine tragende Säule im Gesundheitswesen bleiben. Ärzte geloben und werden von der Berufsordnung verpflichtet, dem Patienten- und Gemeinwohl zu dienen, Verfehlungen werden geahndet. Mittelständische Praxen und Gesundheitszentren müssen aber in die Lage versetzt werden, die gesetzlichen Hürden, bürokratischen Auflagen und nötigen Investitionen durch Fortschritt und Digitalisierung zu schultern. Nur der Staat kann für zufriedenstellende Rahmenbedingungen und einen fairen Wettbewerb um die beste Versorgung sorgen - um nichts anderes sollte es im Gesundheitswesen gehen, sonst bleibt dies ein aussichtsloser Kampf David gegen Goliath.

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48 Stunden betrug die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von niedergelassenen Ärzten und Psychotherapeuten in Deutschland laut Zi im Jahr 2017. Allerdings arbeiten angestellte Ärzte in der Regel deutlich weniger. Ihre wöchentliche Arbeitszeit liegt laut Zi im Durchschnitt 23 Stunden unter der von selbstständig tätigen Ärzten in der ambulanten Versorgung. Rund die Hälfte der Angestellten hatten Arbeitsverträge im Umfang von fünf bis zu 20 Wochenstunden.
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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 3/2020 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2020/202003/h20034a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
73. Jahrgang, März 2020, Seite 14-15
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. April 2020

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