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ARTIKEL/1238: Lehren aus der abgewendeten Schließung der Lübecker Universität (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 11/2011

Universität Lübeck
Ohne die Bürger Lübecks hätte die Stadt keine Universität mehr

Von Prof. Jürgen Westermann und Hans Christoph Zabel


Prof. Jürgen Westermann und Fachschaftsvertreter Hans Christoph Zabel ziehen Lehren aus der abgewendeten Schließung der Lübecker Universität.

Der Kampf um den Erhalt der Lübecker Universität zeigt, dass Bürger die feststehende Entscheidung einer Landesregierung kippen können. Die meisten politischen Beobachter hielten dies nicht für möglich und gaben den Rat, sich mit der neuen Situation abzufinden. Wie konnte das Blatt dennoch gewendet werden?

Bereits kurz nach Bekanntwerden der Sparpläne stellte sich heraus, dass die Entscheidung, den Medizinstudiengang in Lübeck zu schließen, nicht auf einer sorgfältigen Analyse beruhte. Besonders deutlich wurde dies bei einem Treffen, zu dem Wissenschaftsminister Jost de Jager am zweiten Juni 2010 eine Delegation der Kieler und Lübecker Universitäten eingeladen hatte. Der Wissenschaftsminister gab dabei zu, seinen Kabinettskollegen einen Sparvorschlag vorgelegt zu haben, dessen Risiken er nicht kannte. Er setzte dadurch eine Abwärtsspirale für die Universität zu Lübeck in Gang, die unmittelbar nach der Bekanntgabe der Entscheidung der Landesregierung zu wirken begann: Die Universität musste Berufungsverhandlungen unterbrechen, die Anzahl der Bewerbungen auf offene Stellen nahm ab, und Forschungsprojekte waren akut gefährdet. Diese absehbaren Folgen nahm der Wissenschaftsminister in Kauf, obwohl der Landtag seinem Sparvorschlag noch nicht zugestimmt hatte und obwohl die schwarz-gelbe Koalition dort nur über die denkbar knappste Mehrheit verfügte: eine Stimme. Die Lübecker waren empört über dieses Verhalten, und zwar vor allem aus drei Gründen:

1. Der Wissenschaftsminister, der gleichzeitig auch Wirtschaftsminister ist, musste zugeben, dass er die wirtschaftlichen Folgen seines Beschlusses für die Stadt Lübeck und ihr Umland nicht hatte analysieren lassen. Eine als Folge zu erwartende steigende Arbeitslosigkeit in Lübeck wurde bewusst in Kauf genommen, weil deren Folgen zunächst nicht das Land, sondern Kommunen und der Bund hätten tragen müssen.

2. Die Landesregierung hatte geschwiegen, statt das Gespräch zu suchen. So ließen die Politiker die Chance ungenutzt, aus Betroffenen Beteiligte zu machen und eine gemeinsame Lösung zu erarbeiten. Außerdem stellte sich heraus, dass die Landesregierung entgegen ihren Beteuerungen wusste, dass die Schließung des Medizinstudiengangs die Existenz der gesamten Universität infrage stellen würde.

3. Schließlich setzte die Landesregierung auch die Solidarität der schleswig-holsteinischen Wissenschaftler untereinander aufs Spiel. Die Landesregierung brachte die Kieler Kollegen in eine Situation, in der viele von ihnen unsolidarisch handelten: Sie schauten zu, wie die Landesregierung ihre Kollegen in Lübeck abwickeln wollte. Es stellte sich später sogar heraus, dass der Plan für die Schließung der Medizin in Lübeck von einem ehemaligen Dekan der Kieler Medizinischen Fakultät stammte.

Vor allem die Studenten - einschließlich derjenigen aus Flensburg und Kiel -, aber auch die Bürger waren nicht bereit, die Schließung der Universität zu Lübeck hinzunehmen. Sie entwickelten eine regelrechte Wut gegen die regierenden Politiker, weil diese sich überheblich über die vorgebrachten Argumente hinwegsetzten. Die Bürger wollten nicht Spielball dieser Art von Politik sein, die hinter den Kulissen nach nicht nachvollziehbaren Kriterien beschlossen worden war. Das ehrliche Bauchgefühl, hier als Bürger gefordert zu sein, und zwar unabhängig von einer möglichen Parteizugehörigkeit, führte zu den weit über Lübeck hinausgehenden Protesten, die eine glasklare Botschaft enthielten: Wenn dieser Beschluss nicht zurückgenommen wird, dann werden wir euch abwählen!

Die Kampagne, die zum Erhalt der Uni geführt hat, ist in der professionellen Werbung auf ein großes Echo gestoßen und wurde mit zwei Preisen ausgezeichnet. Dabei übersehen Außenstehende leicht, dass es sich hier nicht um eine Aktion aus einem Guss gehandelt hat. Vielmehr haben Studenten, Dozenten und Bürger - mithilfe der großzügigen finanziellen Unterstützung der Lübecker Stiftungen - ihrer Wut über den Beschluss der Landesregierung auf der Straße und in den Medien Ausdruck verleihen können. Die angesichts der dramatischen Situation gebotene Eile ließ keine Zeit für einen ausgeklügelten Plan. Zentrale Bedeutung hatte deswegen die von den Studenten eigens eingerichtete Internetseite "Lübeck kämpft", über die sich jeder informieren konnte und über welche die verschiedenen Aktionen koordiniert wurden.

Wucht und Wirkung bezog die Protestbewegung "Lübeck kämpft" aus der ehrlichen und fassungslosen Empörung der Beteiligten. Das Beispiel Lübeck zeigt, dass auch nicht unmittelbar betroffene Bürger die Argumente der Universität zur Kenntnis nahmen und verstanden und diese dann in die einzige Sprache übersetzten, die Politiker verstehen: Sie drohten ihnen mit Stimmenentzug und dem damit verbundenen Machtverlust.

Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus den Ereignissen des Sommers 2010 für die Universität zu Lübeck? Es können mindestens drei Lehren gezogen werden:

1. Stärke durch Spitzenleistung
Die Universität zu Lübeck muss auch weiterhin durch Spitzenleistungen in Forschung und Lehre glänzen. Nur so kann sie die besten Studenten und Dozenten nach Lübeck ziehen und auch in Schleswig-Holstein halten. Allenfalls kurzfristig wird es in den nächsten Jahren ein Überangebot an Studenten geben. Dann wird ein gnadenloser Wettbewerb um den raren Nachwuchs beginnen, in dem sich die Universität nur behaupten kann, wenn sie Forschung und Lehre in ausgezeichneter Qualität anbietet. Aber die Vorgänge des Sommers 2010 haben auch gezeigt: Gute Forschung und Lehre allein reichen nicht aus, um das Überleben einer Universität zu garantieren. Daraus ergibt sich die zweite Lehre des Sommers 2010.

2. Stärke durch Vernetzung
Die Bürger Lübecks und seiner Umgebung müssen noch mehr an ihre Universität gebunden werden. Die Ereignisse im Sommer 2010 haben gezeigt, dass die Uni trotz herausragender Leistungen nicht weiterbestanden hätte, hätten sich die Stadt Lübeck und ihre Bürger nicht massiv hinter sie gestellt. Das ist Ausdruck einer bereits bestehenden großen Verbundenheit zwischen Bürgern und Universität, die alle Beteiligten aber zukünftig weiter stärken sollten. Diesen Prozess muss die Universität selbst beginnen.

Das fängt bei der richten Auswahl der zukünftigen Studenten und Dozenten an, beinhaltet eine gezielte Personalentwicklung und schließt den ausgezeichneten Kontakt zu Absolventen und ehemaligen Kollegen ein. Ziel ist es, im Inneren der Universität die Voraussetzung für eine unwiderstehliche Strahlkraft nach außen - zu den Bürgern Lübecks und seiner Region - zu schaffen. Schon jetzt unternimmt die Universität große Anstrengungen, um einen engen Kontakt zu den Lübeckern herzustellen. Im Rahmen ihres "Sozialpraktikums" kümmern sich Medizinstudenten um benachteiligte Jugendliche und machen sie auf diese Weise mit der Universität bekannt.

Schüler lernen die Universität durch den Besuch der Schülerakademie und die studentische Aktion "Mit Sicherheit verliebt" kennen. Abiturienten werden zur "Uni im Dialog" eingeladen. Dabei werden in der Universitätskirche St. Petri Forschungsthemen von jungen Wissenschaftlern in allgemeinverständlicher Sprache erklärt. An alle Lübecker richten sich die "Sonntagsvorlesungen" im Rathaus sowie die Vortragsreihe "Einblick schafft Durchblick", das "Studium Generale" und das Literarische Kolloquium, die in der Universität stattfinden. Aber die Universität wird sich noch mehr um ihre Bürger bemühen.

Das Bürgerforum, in dem ethische Aspekte in Medizin und Technik diskutiert werden, und das neue Zentrum für kulturwissenschaftliche Forschung, in dem Universität und Lübecker Museen gemeinsam forschen, sind weitere vielversprechende Ansätze, um Universität und Bürger näher zusammenzubringen. Allerdings müssen die universitären Bemühungen um die Lübecker Bürger vonseiten der Stadt ergänzt werden: Auch sie muss zeigen, wie wichtig ihr die Wissenschaft ist. Aus diesem Grund war die von der Stadt Lübeck initiierte und von allen Hochschulen unterstützte Bewerbung um den Titel "Stadt der Wissenschaft" ein wichtiger Meilenstein. Im Jahr 2012 wird Lübeck nun "Stadt der Wissenschaft" sein. Wissenschaft im Allgemeinen und die Universität zu Lübeck im Speziellen können auf diese Weise unverrückbar im Bewusstsein der Bevölkerung verankert werden. Nur so kommt der notwendige Schutz zustande, durch den die Existenz einer exzellent arbeitenden Universität in Schleswig-Holstein gesichert werden kann.

3. Stärke durch Unabhängigkeit
Die Universität zu Lübeck muss unabhängiger werden, um durch eine innovative Vernetzung von Wissenschaft und Wirtschaft ihr Fundament zu stärken.

In der Universität zu Lübeck spielt die Medizin eine entscheidende Rolle. Sie bildet neben der Meeresbiologie den zweiten international anerkannten großen Forschungsschwerpunkt in Schleswig-Holstein. Trotzdem wird diese "Perle" finanziell vom Land völlig unzureichend ausgestattet. Es besteht kein Zweifel daran, dass die zur Verfügung gestellten Mittel die Universitätsmedizin in Schleswig-Holstein zu einem der finanziellen Schlusslichter in Deutschland werden lassen.

In den letzten Jahren hat die Universität Lübeck Spitzenleistungen erbracht. Wenn sich an der finanziellen Ausstattung nicht grundlegend etwas ändert, wird sie diese in Zukunft aber nicht mehr erbringen können. Im Bereich der Forschung werden wir nicht mehr wettbewerbsfähig sein und in der Lehre wird es zu gefährlichen Engpässen kommen. So droht das Medizinstudium, das bereits jetzt mehr als sechs Jahre dauert, sich um bis zu 1,5 Jahre zu verlängern. Personalmangel wird dazu führen, dass die Universität klinische Kurse nicht rechtzeitig anbieten kann, um ein Studium innerhalb der Regelstudienzeit zu absolvieren. Außerdem können die unerfahrenen Studenten auf den Stationen nicht mehr ausreichend beaufsichtigt werden. Im besten Fall wird es dadurch zu einem geringeren Lernerfolg, im schlechtesten Fall zu einer Gefährdung der Patienten kommen. Um dies zu verhindern, hat sich die Universität zu Lübeck eine neue, für Deutschland einmalige Verfassung gegeben. Sie ermöglicht die enge und reibungslose Zusammenarbeit zwischen den medizinischen und naturwissenschaftlich-technischen Bereichen der Universität und kann dadurch den Umgang mit den knappen Ressourcen optimieren. Die Universität wird auch das Potenzial nutzen, das in einer neuartigen und engen Zusammenarbeit mit den Institutionen vor Ort liegt: Universität, Fachhochschule, außeruniversitäre Forschungseinrichtungen und medizintechnisch orientierte Firmen werden einen gemeinsamen Wissenschaftscampus gründen. Dazu muss die Universität zu Lübeck jedoch finanziell selbstständiger werden, um schneller und flexibler agieren zu können. Außerdem muss sie die Möglichkeit erhalten, finanzielle Mittel einzuwerben und frei zu verplanen. Beides ist bei den zurzeit geltenden gesetzlichen Rahmenbedingungen nicht möglich. Das Modell einer Stiftungsuniversität würde Abhilfe schaffen. Die Universität zu Lübeck ist deshalb sehr froh, dass die Landesregierung nach langjährigem Drängen nun endlich zugesagt hat, dass die Universität zu Lübeck voraussichtlich zum ersten Januar 2013 Stiftungsuniversität werden kann. Dabei ist allen Informierten vollkommen klar, dass eine Stiftungsuniversität das Land nicht weniger kosten wird. Ihre Vorteile liegen in einer größeren Unabhängigkeit vom Ministerium. Sie kann Gelder eigenständig einwerben und verwalten und schließlich sorgt das Stiftungsgesetz dafür, dass nicht die Landesregierung, sondern nur das Parlament die Schließung einer Stiftungsuniversität beschließen kann. Ein riesiger Vorteil!

"Politiker ließen die Chance ungenutzt, aus Betroffenen Beteiligte zu machen und eine gemeinsame Lösung zu erarbeiten." Prof. Jürgen Westermann

Wären die Bürger Lübecks nicht gewesen, hätte die Landesregierung dem Land Schleswig-Holstein schweren Schaden zugefügt. Die Bürger konnten die Politik auf den richtigen Weg zwingen, weil sie parteiübergreifend erkannten, dass der Beschluss, die Medizin in Lübeck abzuschaffen, jeder sachlichen Grundlage entbehrte und eine wirtschaftliche Katastrophe für Lübeck und damit auch für Schleswig-Holstein zur Folge gehabt hätte. Diese gemeinsame Einsicht schweißte sie zusammen und führte zu einer so machtvollen Solidarität, dass die Landesregierung gezwungen wurde, den Beschluss, den Medizinstudiengang in Lübeck zu schließen, zurückzunehmen. Versinnbildlicht ist dies auf einem Foto, welches das Holstentor im Sommer 2010 zeigt.

Klar erkennbar ist die berühmte lateinische Inschrift "Concordia domi, foris pax", die zu Deutsch bedeutet: Eintracht im Inneren führt zu Frieden nach außen. Das darüber hängende gelb-schwarze Banner scheint die moderne Übersetzung der alten Inschrift zu sein: Lübeck kämpft für seine Universität. Und gewinnt.

Anfang Juli dieses Jahres hat nach den Bürgern Lübecks auch der Wissenschaftsrat die Landesregierung Schleswig-Holstein belehrt. In der Presseerklärung zu seinem Gutachten heißt es: "Schleswig-Holstein verfügt mit Kiel und Lübeck über zwei international sichtbare universitätsmedizinische Standorte ... Beide Standorte zeichnen sich durch eine starke und wettbewerbsfähige Forschung aus ... Was die Lehre betrifft, genießt die humanmedizinische Ausbildung in Lübeck über die Jahre hinweg einen hohen Stellenwert."

Hans Christoph Zabel studiert seit Oktober 2005 Humanmedizin an der Universität zu Lübeck. Er war von 2007 bis 2010 Vorsitzender der Fachschaftsvertretung Medizin. Im Sommer 2010 wirkte er entscheidend an der Organisation von "Lübeck kämpft" mit.

Prof. Jürgen Westermann ist seit 2001 Direktor des Instituts für Anatomie an der Universität zu Lübeck. Er leitete während des Sommers 2010 die Arbeitsgruppe, in der die Informationen zwischen Präsidium und Studenten ausgetauscht und das jeweilige weitere Vorgehen abgestimmt wurden.

(Gekürztes und modifiziertes Nachwort aus dem Buch von Julia Offe: "Eine Stadt sieht gelb: Wie Lübeck seine Uni rettet", Verlag der Buchhandlung Weiland, 2011).

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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 11/2011 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2011/201111/h11114a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Demo für den Erhalt der Lübecker Universität im vergangenen Jahr in Kiel.
- Prof. Jürgen Westermann

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt November 2011
64. Jahrgang, Seite 38 - 41
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Januar 2012

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