Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → GESUNDHEITSWESEN


KASSEN/1890: Kieferorthopädie - problematische Zuzahlungen für Extraspangen (Securvital)


Securvital 3/2018 - Juli-September
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen

Kieferorthopädie
Schicke Spangen


Die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen erhalten irgendwann eine Zahnspange. Häufig verlangen die Kieferorthopäden dafür hohe Zuzahlungen.


Wenn die Milchzähne ihren Dienst erfüllt haben und herausfallen, wachsen die bleibenden Zähne nach. Allerdings nicht immer ordentlich in Reih und Glied. Manchmal stehen sie etwas schief und schräg oder es zeigen sich auffallende Lücken. Bei den Eltern löst das die Frage aus: Sind die Zähne gesund oder braucht mein Kind eine Zahnspange? Die Sorge ist verständlich, denn die Zähne sollen für lange Zeit stabil und gesund bleiben. Zahnärzte raten in dieser Situation oft zu einem Besuch beim Kieferorthopäden. Das allerdings wird meistens teuer für die Eltern.

Die Kieferorthopädie hat einen enormen Aufschwung genommen. 50 bis 60 Prozent aller Kinder bekommen mittlerweile eine Zahnspange, um die Zähne gerade zu rücken. Sie sind so verbreitet, dass in manchen Schulklassen die Kinder in der Minderheit sind, wenn sie keine feste Spange mit metallenen Brackets haben oder zumindest eine herausnehmbare, die man mindestens 14 Stunden täglich tragen sollte. "Bei uns tragen viele Spange, das ist total normal", meint eine 13-jährige Schülerin aus München.

Teure Konstruktionen

Für die Gesundheit der Zähne (und natürlich geht es auch um die Schönheit) greifen die Eltern tief in die Tasche. Während die Krankenkassen nur für medizinisch begründete Zahnkorrekturen bestimmte Kosten nach gesetzlichen Vorgaben übernehmen, verlangen die Kieferorthopäden oft hohe Zuzahlungen von den Eltern. Das wird beispielsweise damit erklärt, dass teurere Konstruktionen bei festen Spangen optisch nicht so auffallen und weniger schmerzhaft seien. Die Ausgaben pro Behandlung beim Kieferorthopäden haben sich in wenigen Jahren verdoppelt, wie der Bundesrechnungshof kürzlich feststellte. Mehr als eine Milliarde Euro zahlen die Krankenkassen jährlich dafür. Wie viel die Eltern noch dazuzahlen müssen, ist unbekannt. Darüber gibt es keine öffentlichen Statistiken. Auch die Krankenkassen haben keinen Einblick in die Gesamthöhe der privaten Zuzahlungen, die die Kieferorthopäden fordern.

Nach Schätzung von Fachexperten zahlen die Eltern pro Zahnspange oft über 1.000 Euro, je nach Material und Behandlungsdauer können es aber auch 2.000 Euro und mehr sein. Dass auch günstigere Lösungen ohne Zuzahlung möglich und medizinisch ausreichend sind, ist weniger bekannt. In vielen Fällen werden die Eltern beim Kieferorthopäden darüber gar nicht informiert. Meist raten die Spezialisten zu teuren Modellen, die Extrazahlungen bis zu 50 Euro monatlich für mehrere Jahre erfordern.

Nicht vor der Pubertät

Kritik daran gibt es von verschiedenen Seiten. Manche sprechen von einer regelrechten Abzocke durch Kieferorthopäden, die die Sorgen von Eltern ausnutzen, um teure Zusatzleistungen zu verkaufen. Ob das immer sinnvoll ist, bezweifelt der Bundesrechnungshof in seiner jüngsten Stellungnahme. Der medizinische Nutzen sei nicht ausreichend erforscht, es fehlten "wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse über Wirkung und Nutzen" der kieferorthopädischen Behandlungen.

In der Praxis sei der Nutzen vieler Behandlungen medizinisch gar nicht belegt, sagt Barbara Schmitz von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. Sie rät den Eltern, beim behandelnden Arzt immer erst nachzufragen, ob eine Zahnspange wirklich notwendig ist.

Auch unter den Kieferorthopäden selbst gibt es kritische Stimmen, die vor übertriebenem Einsatz warnen. Auffällig sei, dass es in Deutschland doppelt so viele Kieferorthopäden gebe wie in europäischen Nachbarländern. Viel zu viele Kinder würden hierzulande länger als notwendig mit Zahnspangen behandelt, meint der Kieferorthopäde Dr. Henning Madsen aus Ludwigshafen. Außerdem ist es nach seinen Worten "wissenschaftlich unstrittig, dass die meisten kieferorthopädischen Behandlungen ästhetisch motiviert sind und nicht gesundheitlich".

Madsen rät den Eltern zu mehr Gelassenheit. Meist werde zu früh mit einer Zahnkorrektur begonnen. Er lehnt die frühe Behandlung von Kindern im Grundschulalter mit losen Zahnspangen ab, die in Deutschland relativ häufig verordnet werden. Sie seien meist überflüssig und nutzlos. Erst mit Beginn der Pubertät, wenn die Zeit der Milchzähne vorüber ist, seien Zahnkorrekturen zu empfehlen, und dann auch mit kürzeren Behandlungszeiten als die üblichen drei bis vier Jahre. "Die meisten jungen Patienten können mit einer einzigen festsitzenden Apparatur in durchschnittlich 18 Monaten behandelt werden", versichert Madsen. Ob die Spange dann metallfarbene Brackets hat oder farbige oder durchsichtige, ist keine Frage des medizinischen Nutzens, sondern der Ästhetik - und des elterlichen Geldbeutels.


Kostenfrage
  • Die gesetzlichen Krankenkassen bezahlen die Korrektur von Zähnen und Kiefern bis zum 18. Lebensjahr, wenn es sich um ausgeprägte Fehlstellungen handelt, deren Korrektur medizinisch notwendig oder dringend erforderlich ist. Der Zahnarzt oder Kieferorthopäde bewertet den Schweregrad der Fehlstellung. Setzen Sie sich mit Ihrer Krankenkasse in Verbindung, bevor Sie eine private Kostenzusage unterschreiben.
  • Nach Prüfung des Behandlungsplans übernehmen die Krankenkassen zunächst 80 Prozent der Behandlungskosten, bei weiteren Geschwistern 90 Prozent. Für die restlichen 20 bzw. 10 Prozent müssen die Eltern zunächst in Vorkasse treten. Werden die Spangen regelmäßig getragen und die Behandlung mit Bestätigung des Arztes erfolgreich abgeschlossen, erstattet die Krankenkasse diesen Vorkassen-Anteil. Mehrkosten für Sondermodelle, Komfortbrackets und sogenannte unsichtbare Zahnspangen müssen die Eltern selbst zahlen.

*

Quelle:
Securvital 3/2018 - Juli-September, Seite 14 - 15
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen
Herausgeber: SECURVITA GmbH - Gesellschaft zur Entwicklung
alternativer Versicherungskonzepte
Lübeckertordamm 1-3, 20099 Hamburg
Telefon: 040/38 60 800, Fax: 040/38 60 80 90
E-Mail: presse@securvita.de
Internet: www.securvita.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2018

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang