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POLITIK/1767: Der Einfluss der EU auf das deutsche Gesundheitssystem (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung - FES Internationale Politikanalyse, Dezember 2011

Gesundheitspolitik durch die Hintertür
Der Einfluss der EU auf das deutsche Gesundheitssystem

Von Ines Verspohl


• Gesundheitspolitik ist Sozialpolitik, aber auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Deshalb ist Gesundheitspolitik auch von der EU-Regulierung der Wirtschaftspolitik betroffen.

• EU-Binnenmarktrecht bricht nationales Recht: Deshalb gilt die Freiheit des Binnenmarktes grundsätzlich auch für Patienten, Ärzte, Krankenschwestern und Arzneimittel. Korrekturen der sozialen Folgen liegen in der Verantwortung der Mitgliedstaaten.

• Je weiter nationale Gesundheitssysteme privatisiert werden, desto stärker wird der Einfluss der EU, die Kartelle und Subventionen kontrolliert und sicherstellt, dass Anbieter aus anderen Mitgliedstaaten nicht diskriminiert werden.

• Da die EU keine sozialstaatlichen Kompetenzen hat, können im Binnenmarkt lediglich Konsumenten geschützt werden. Zum Patientenschutz im gemeinsamen Binnenmarkt ist deshalb auch eine gemeinsame Sozialpolitik erforderlich.



INHALT

1. Einleitung

2. Entwicklung der EU-Gesundheitspolitik
2.1    Globalisierung / Europäisierung
2.2    Binnenmarktregeln und Gesundheit
2.2.1 Patientenmobilität
2.2.2 Ärztemobilität
2.2.3 Wettbewerbsrecht
2.3    Offene Methode der Koordinierung
2.4    Zwischenfazit »Einfluss der EU«

3. Marktreformen im Gesundheitswesen
3.1    Krankenversicherungswettbewerb
3.2    Selektive Verträge
3.3    Krankenhausprivatisierung
3.4    Zwischenfazit »Marktreformen«

4. Die EU benötigt eine soziale Dimension

Literatur


*


1. Einleitung

Das Gesundheitswesen gleicht einem Januskopf. Auf der einen Seite ist es ein zentraler Teil unseres Wohlfahrtsstaates, auf der anderen Seite ein wichtiger Wirtschaftszweig. Die Krankenversicherung ist als zweitgrößter Ausgabensektor des Wohlfahrtsstaates auch der mit den meisten Leistungsempfängern: Nahezu jeder sucht im Laufe eines Jahres eine Arztpraxis auf. Gleichzeitig ist die medizinische Versorgung von Patientinnen und Patienten in ihrer Eigenschaft als Konsumenten ein wichtiger Markt: Zehn Prozent aller Arbeitskräfte sind in Arztpraxen, Krankenhäusern, Pflegeheimen, Apotheken und bei den Herstellern von Medikamenten und Hilfsmitteln beschäftigt (Rosenbrock/Gerlinger 2006).

In einer alternden Gesellschaft wird eine hochwertige Gesundheitsversorgung immer wichtiger. Das bedeutet auf der einen Seite ein Wachstumspotenzial für den Medizinsektor, auf der anderen Seite eine Herausforderung für die solidarische Finanzierung (Sachverständigenrat 1996). Da durch den demographischen Wandel die Zahl älterer Wählerinnen und Wähler beständig wächst und da für diese ihre Gesundheit ein besonders zentrales Anliegen ist, wird Gesundheit auch als politisches Thema immer wichtiger.

In Deutschland existiert seit der Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung durch Reichskanzler Otto von Bismarck im Jahr 1883 im Gesundheitssystem ein Spannungsverhältnis zwischen Wohlfahrtstaat und Gesundheitsmarkt, in dem der Wohlfahrtsstaat bis in die 1970er Jahre hinein weiter ausgebaut wurde. Die gesetzliche, solidarisch finanzierte Krankenversicherung wurde bis 1975 auf 90 Prozent der Bevölkerung ausgedehnt, nur zehn Prozent blieben privatversichert (oder bis 2009 ohne Versicherungsschutz). Ärzte und Ärztinnen arbeiten zwar auf eigene Rechnung, aber auf Basis einer kollektiv verhandelten Gebührenordnung. Gemeinnützige Organisationen und die Kommunen bauten und betreiben öffentliche Krankenhäuser.

Die Ölkrisen der 1970er Jahre bedeuteten das Ende des expansiven Wohlfahrtsstaates. In der Folge musste auch an den Gesundheitsausgaben gespart werden. In den 1980er Jahren konnte der Anstieg der Ausgaben noch durch gesetzliche Kostenbegrenzungen und Zuzahlungen, zum Beispiel zu Krankenhausaufenthalten, kontrolliert werden.

Mit der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 wurde das westdeutsche Gesundheitssystem auf die neuen Bundesländer übertragen. Durch das niedrigere BIP pro Kopf, explodierten die Gesundheitsausgaben, gemessen als Prozentsatz des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Allein mit steigenden Zuzahlungen ließen sich die Kosten nicht mehr begrenzen. Eine fundamentale Reform wurde unausweichlich. Dem Zeitgeist der 1990er Jahre entsprechend, sollte mehr Wettbewerb zwischen Krankenversicherungen und Leistungsanbietern das System effizienter machen.

Gleichzeitig wurde 1992 der Europäische Binnenmarkt vollendet. Die Kompetenzen der Europäischen Union (EU)[1] zur Gewährleistung der Marktfreiheiten wurden seither erheblich erweitert. Während die Nationalstaaten weiterhin für die Organisation und Ausgestaltung ihres jeweiligen Wohlfahrtsstaates zuständig sind, ist das Gesundheitswesen zugleich im nationalen Wohlfahrtsstaat und in einem europaweit integrierten Markt verortet. Hierdurch wird mit Blick auf den Gesundheitsbereich das Spannungsverhältnis zwischen Markt und Wohlfahrtsstaat um die Dimension »Nationalstaat oder EU« erweitert.

Aufgrund dieser Zwitterstellung beeinflussen eine Reihe von EU-Politiken die nationalen Gesundheitssysteme. Darüber hinaus hat die EU ein Programm entwickelt, in dessen Rahmen die Mitgliedstaaten angesichts der Erfahrungen mit jeweiligen Gesundheitsreformen voneinander lernen sollen: die Offene Methode der Koordinierung.


2. Entwicklung der EU-Gesundheitspolitik

»Bei der Tätigkeit der Union wird die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Festlegung ihrer Gesundheitspolitik sowie für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung gewahrt.« (Artikel 168[7] AEUV)

Der Vertrag von Lissabon betont, wie schon seine Vorgänger, dass Gesundheitspolitik in den Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten fällt. In der Realität ist eine klare Abgrenzung nicht immer möglich, da sich Gesundheitspolitik sowohl in der Wirtschafts- als auch in der Sozialpolitik abspielt. Hauptsächlich drei Aufgaben- und Verantwortungsbereiche der EU haben einen klaren Bezug zum Sektor »Gesundheit«: der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer, der Verbraucherschutz und der Schutz der öffentlichen Gesundheit.

Bereits in der Vorläuferorganisation der EU, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, gab es gemeinsame Vorschriften zum Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer: Um zu verhindern, dass sich Länder mit niedrigen Sozialstandards Wettbewerbsvorteile verschafften, mussten klare Regelungen gefunden werden. Man einigte sich nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern vereinbarte ein hohes Schutzniveau in der gesamten EU.

Der Europäische Binnenmarkt beruht auf den vier Grundfreiheiten Freizügigkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, von Waren, Dienstleistungen und Kapital. Um die Arbeitnehmerfreizügigkeit gerecht zu gestalten, musste den im Gastland Arbeitenden der Zugang zu dessen Gesundheitsversorgung ermöglicht werden. Die entsprechende Richtlinie wurde bereits 1971 erlassen.

Der Verbraucherschutz ergänzt die Warenverkehrsfreiheit. Mindeststandards sollen die Konsumenten vor Gesundheitsgefahren schützen. Daraus entstand das Politikfeld Öffentliche Gesundheit, das 1991 in den Verträgen von Maastricht verankert wurde.

Der damalige Kommissionspräsident Jacques Delors und der ehemalige französische Präsident Mitterrand setzten die öffentliche Gesundheit auf die Agenda der Kommission. 1985 initiierten sie das Programm Europe Against Cancer, mithilfe dessen die EU Studien und Publikationen über die gesundheitsschädlichen Folgen des Rauchens finanzierte, die dadurch langsam einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden. Delors und der Sohn des französischen Präsidenten hatten beide Lungenkrebs (Guigner 2004). Im Vertrag von Maastricht wurde dann ein neuer Artikel »Öffentliche Gesundheit« geschaffen, der der EU auch die notwendigen Kompetenzen für diese Maßnahmen einräumte - allerdings können gesundheitspolitische Richtlinien im Rat lediglich einstimmig beschlossen werden. Die Kompetenz für Gesundheitspolitik ist nur eine ergänzende, für den Binnenmarkt mit seinen vier Grundfreiheiten dagegen hat die EU die alleinige Zuständigkeit und der Rat kann Regelungen mit qualifizierter Mehrheit beschließen. Daher neigt die Kommission dazu, Regelungsbedarf als »binnenmarktrelvant« zu deklarieren. Als die Kommission beispielsweise Warnhinweise auf Zigarettenschachteln und ein Werbeverbot für Tabak einführen wollte, schlug sie eine Richtlinie dazu daher auf Grundlage des Binnenmarktartikels (100a EGV) vor. So wurde im Rat der EU nur eine qualifizierte Mehrheit und keine Einstimmigkeit benötigt.

Unter die Warenverkehrsfreiheit fallen auch Blutkonserven und Organspenden. Dies ist eher einem historischen Zufall als einer kohärenten Gesundheitspolitik geschuldet. In den 1980er Jahren kam es in mehreren Mitgliedstaaten zu einem Skandal um mit HIV verseuchten Blutkonserven. In Frankreich, Italien und Deutschland waren mit Wissen höchster Stellen verseuchte Blutkonserven verbraucht worden, bevor ein flächendeckender Test eingeführt wurde. Daraufhin wurde die Verantwortung für die Sicherheit von Blutspenden - und später auch die von Organspenden - auf die europäische Ebene übertragen (Schmidt am Busch, 2007, p. 345).

Auch die Zuständigkeit für die Sicherheit von Arzneimitteln wurde vor dem Hintergrund eines Skandals auf die europäische Ebene übertragen: der Contergan-Skandal Anfang der 1960er Jahre. 1995 wurde schließlich mit der European Medicines Agency eine Agentur geschaffen, die Arzneimittel für die gesamte EU zulässt.

Trotz der frühen Anfänge und des Artikels »Öffentliche Gesundheit« konnte sich das Themengebiet »Gesundheit« nicht zu einem eigenständigen Politikfeld entwickeln, sondern blieb ein Unterthema des Verbraucherschutzes und damit Teilgebiet der wirtschaftlichen Integration. Die Auswirkungen dieser Zusammenhänge werden in den folgenden Abschnitten näher erläutert, zuerst die wirtschaftlichen, dann die rechtlichen. Abschließend wird auf die neueste EU-Politik im Gesundheitsbereich eingegangen, die Offene Methode der Koordinierung (OMK).


2.1 Globalisierung / Europäisierung

In der deutschen Debatte wird seit den frühen 1990er Jahren argumentiert, dass die zunehmende Globalisierung den großzügigen deutschen Wohlfahrtsstaat der Nachkriegsjahre nicht mehr zulasse. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass Deutschland den Großteil seiner Waren in die europäischen Nachbarstaaten ausführt. Die Ausfuhren in die EU-Länder sind fast doppelt so hoch wie jene in den Rest der Welt. Die Globalisierung, definiert als zunehmender Warenaustausch und wirtschaftliche Verflechtung, ist also hauptsächlich eine Europäisierung (Scharpf/Schmidt 2002).

Für die Mitgliedschaft im gemeinsamen Binnenmarkt und in der Währungsunion verzichten die EU-Länder auf traditionelle Instrumente der volkswirtschaftlichen Steuerung. Sie können weder Exporte stützen, indem sie ihre Währung abwerten, noch durch Zölle die heimische Wirtschaft vor günstigen Importen schützen. Um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, rücken daher zunehmend Unternehmenssteuern und Lohnkosten in den Fokus. Insbesondere die Länder, die die Sozialversicherungssysteme ihrer Wohlfahrtsstaaten durch lohnabhängige Beiträge finanzieren, geraten unter Druck. Bereits in den 1990er Jahren wurden mit den zukünftigen EU-Mitgliedsländern Mittel- und Osteuropas Freihandelsabkommen geschlossen. Die Konkurrenz um günstige Löhne hat sich dadurch erheblich verstärkt. Deutschland reagierte mit Lohnzurückhaltung und war dabei so »erfolgreich«, dass es »Exportweltmeister« wurde. Der Anteil von Löhnen und Gehältern am BIP sank und damit auch die Beiträge zur Krankenversicherung. Die beitragspflichtigen Einnahmen je GKV-Mitglied blieben zwischen 1980 und 2000 um 31 Prozentpunkte hinter dem BIP je Erwerbstätigem zurück. Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen berechnete 2003, dass der Beitragssatz seit den 1980er Jahren stabil bei elf Prozent hätte bleiben können, wenn die Lohnentwicklung mit dem Wachstum des BIP mitgehalten hätte. Um die Beitragssätze halbwegs stabil zu halten, wurden immer mehr Zuzahlungen eingeführt.

Außerdem öffnete sich die Gehaltsschere. Auf der einen Seite wurde eine große Zahl von Minijobs geschaffen, die keinen Krankenversicherungsschutz begründen.[2] Auf der anderen Seite lag das Einkommen von immer mehr Menschen über der Versicherungspflichtgrenze und sie konnten dadurch in die private Krankenversicherung wechseln - oder ihr Einkommen wurde in der gesetzlichen Krankenversicherung zumindest nur noch bis zur Beitragsbemessungsgrenze belastet.

Diese Lohnzurückhaltung und die daraus resultierenden Folgen für die Beiträge zur Krankenversicherung finden sich nur in Deutschland. Nach dem Fall der Mauer drohten Unternehmer mit der Produktionsverlagerung in günstigere Nachbarländer und verlangten erfolgreich niedrigere Abgaben (Scharpf/Schmidt 2002). Die Kombination aus dem Freihandel mit den östlichen Nachbarn und der deutschen Wettbewerbsfähigkeitsdebatte begründet also die Lohnzurückhaltung und damit die steigenden Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung.

Nachdem durch den Freihandel zunächst nur die Sozialversicherungsländer unter Druck gerieten, setzen die Maastrichter Kriterien zur Verschuldung nun auch die steuerfinanzierten Länder unter Druck. Durch die Finanzkrise, die sich inzwischen zu einer Krise der Währungsunion ausgeweitet hat, wird der Sparzwang der öffentlichen Haushalte verstärkt. Wie alle Wohlfahrtssektoren wirkt das Gesundheitssystem antizyklisch, das heißt die Ausgaben bleiben in der Krise konstant und stabilisieren damit die Nachfrage. Dadurch stiegen die öffentlichen Ausgaben als Teil des BIPs 2009 in allen Ländern (Eurostat 2011). Langfristig wird aber auch das Gesundheitswesen vom Austeritätskurs getroffen. Gemeinsam mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) übernahm die EU Kreditbürgschaften für Euro-Länder in Schwierigkeiten, die allerdings an harte Sparmaßnahmen geknüpft sind, von denen auch die sozialen Sicherungssysteme nicht ausgenommen werden (Heise/Lierse März 2011). Die öffentlichen Gesundheitsausgaben müssen gekürzt werden, um die Maastricht-Kriterien und die Sparauflagen der Europäischen Rettungsschirme zu erfüllen.


2.2 Binnenmarktregeln und Gesundheit

Die Auswirkungen der Europäisierung auf das Gesundheitswesen ähneln stark denen auf die anderen Sektoren des Wohlfahrtsstaates. Das Gesundheitswesen hat aber noch eine zweite Seite: die der Leistungserbringung. Im Gegensatz etwa zur Renten- und Arbeitslosenversicherung erhalten Patienten kein Geld, sondern Behandlungen und Medikamente. Die Frage ist, inwieweit für solche medizinischen Dienstleistungen und Güter die gleichen Marktregeln gelten wie für andere Waren und Dienstleistungen im Binnenmarkt.

Historisch gesehen bezieht sich die Gesundheitspolitik der EU auf zwei Personengruppen: Arbeitnehmer und Konsumenten. Erstere wurden durch strenge Richtlinien zu Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz geschützt, letztere mit Kampagnen und Warnhinweisen zu einem gesunden Lebensstil angehalten. Diese beiden Ansätze wurden durch Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) auf Gesundheitspersonal sowie Patienten ausgedehnt. Ärzte, Krankenschwestern sowie Pfleger werden dabei als Arbeitnehmer und Selbstständige betrachtet, die überall in der EU arbeiten und sich niederlassen dürfen, und Patienten als Konsumenten im Gesundheitsmarkt.

Da es offiziell keine europäische Gesundheitspolitik gibt, ergibt sich ein Mosaik aus europäischen Gesetzen, die nationale Gesundheitssysteme beeinflussen können. Diese Inkohärenz wird am besten durch die Organisationsstruktur in der Europäischen Kommission verdeutlicht: 1999 waren 16 der damals 24 Generaldirektionen der Kommission in Gesundheitspolitik involviert (Mossialos et al. 2002). Doch im Gegensatz zur Geschlechtergleichstellung und zur Umweltpolitik wurde der Querschnittscharakter der Gesundheitspolitik bisher nicht anerkannt und kein health mainstreaming entwickelt.


2.2.1 Patientenmobilität

Die Möglichkeit von Patienten, sich im Ausland behandeln zu lassen, hat eine lange juristische Geschichte. Sie wurde ursprünglich im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit sehr restriktiv eingeführt. Der EuGH hat sie dann auf Grundlage der Dienstleistungsfreiheit für alle Patienten eröffnet. In der neuen Richtlinie zur Patientenmobilität haben die Mitgliedstaaten diese Freiheit wieder eingeschränkt, um ihre Sozialsysteme zu schützen.

Bereits 1971 wurde eine Regelung erlassen, um die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu gewährleisten. Patienten können sich im Ausland behandeln lassen und die Kosten werden von der heimischen Versicherung oder dem nationalen Gesundheitsdienst erstattet. Menschen, die sich zum Arbeiten, Urlaub machen oder zum Studium im Ausland aufhalten und währenddessen erkrankten, werden vom Gesundheitssystem des Gastlandes wie Einheimische behandelt. Seit 2003 werden diese Behandlungen von der einheitlichen Europäischen Krankenversicherungskarte abgedeckt. Medizintourismus soll dagegen unterbunden werden. Patienten, die speziell für eine Behandlung ins Ausland reisen, brauchten von ihrem nationalen System eine Genehmigung. Dieses Verfahren half insbesondere Patienten, die an einer sehr seltenen Krankheit leiden, für die es in ihrem Land keine Spezialisten gab. Es wurde aber auch von Ländern mit sehr langen Wartelisten gezielt genutzt. So brachte zum Beispiel der britische National Health Service Patienten nach Frankreich, die dort Hüft- und Knie-Endoprothesen erhielten (BBC News 2002). Die Steuerungshoheit über Behandlungen im Ausland lag beim Nationalstaat.

1998 urteilte der EuGH jedoch in einem Grundsatzurteil, dass die vier Grundfreiheiten auch für das Gesundheitswesen gelten und als Primärrecht aus den Verträgen über dem Sekundärrecht der Richtlinie stehen. Im Gesundheitssektor gilt auch eine passive Dienstleistungsfreiheit (Kohll/Decker-Urteil). Geklagt hatten zwei Luxemburger, die die Kosten für kieferorthopädische Leistungen, respektive Brillengläser, die sie ohne Vorabgenehmigung in Deutschland erhalten hatten, von ihrer Versicherung erstattet haben wollten.[3] In weiteren Urteilen weitete der EuGH diese Rechtsprechung auf Sachleistungssysteme und Krankenhausbehandlungen aus. Auch wenn der EuGH Patienten das generelle Recht auf Behandlung im europäischen Ausland einräumte, so erlaubte er für stationäre Aufenthalte doch ein Vorabgenehmigungssystem, um die finanzielle Stabilität des Heimatsystems zu gewährleisten (Peerboom/Smits-Urteil). Damit wurde das Prinzip, dass der Nationalstaat seine Gesundheitsversorgung organisiert und im Einzelfall Behandlungen im Ausland erlauben kann, umgekehrt. Der Patient hat aufgrund der passiven Dienstleistungsfreiheit ein Recht darauf, Gesundheitsdienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch zu nehmen. Dieses Recht darf aus »zwingenden Gründen des Allgemeininteresses« eingeschränkt werden. Diese Rechtsprechung stellte den Patienten als Konsumenten in den Mittelpunkt und nicht mehr den sozialen Ausgleich. Durch diese Rechtsprechung schuf der EuGH ein zweites, paralleles System, das von einem einheitlichen europäischen Gesundheitsmarkt ausging. In dem Entwurf zur Europäischen Dienstleistungsrichtlinie (auch Bolkestein-Direktive genannt) folgte die Kommission dieser Logik und nahm Gesundheitsdienstleistungen mit auf. Nach heftigen öffentlichen Protesten wurden Gesundheit und Pflege 2006 aus der Richtlinie ausgenommen. Die Mitgliedstaaten verabschiedeten eine Erklärung, in der sie einen Gesundheitsmarkt klar ablehnen und die Kommission auffordern, den Wohlfahrtsstaatscharakter des Gesundheitswesens zu respektieren (Rat 1./2. Juni 2006).

Die Kommission entwarf daraufhin eine Richtlinie über die Ausübung der »Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung«. Die Richtlinie wurde im März 2011 verabschiedet und die Mitgliedstaaten haben bis zum 25. Oktober 2013 Zeit, sie in ein nationales Gesetz umzusetzen. Sie basiert auf dem individuellen Recht des Patienten auf Dienstleistungsfreiheit und sieht eine Genehmigung durch den Heimatstaat nur für Krankenhausaufenthalte vor. Für den individuellen Patienten ist das durchaus positiv. Es beraubt die Gesundheitssysteme jedoch der Kapazitäten für ihre Steuerungsaufgaben. Sie können die knappen Ressourcen nicht mehr gezielt einsetzen, sondern müssen alle Leistungen erstatten, die ihre Versicherten in Anspruch nehmen. In vielen Ländern werden Wartelisten und Priorisierung aber bewusst genutzt, damit die Hilfe den Bedürftigsten, das heißt den Schwerkranken, zugutekommt. Es ist davon auszugehen, dass Behandlungen im Ausland eher von relativ Gesunden und gut Gebildeten in Anspruch genommen werden. Folglich müssen dann entweder die Beiträge oder Steuerzuschüsse steigen, oder es muss im nationalen System weiter gekürzt werden - was wieder eher die Schwachen treffen würde. Darüber hinaus müssen die Nationalstaaten sicherstellen, dass im Notfall überall schnell ein Krankenhaus oder ein Arzt zu erreichen ist. Sie müssen also Kapazitäten vorhalten und finanzieren, die gegebenenfalls nicht ausgelastet werden, falls die Patienten alle planbaren Behandlungen ins Ausland verlagern.

Der Rat hat die Richtlinie so geändert, dass die liberale Rechtsprechung des EuGH wieder eingeschränkt wird und die Nationalstaaten die Patientenmobilität zum Schutz der nationalen Systeme einschränken können. Diese Einschränkungen dürfen allerdings das »Notwendige und Angemessene« nicht überschreiten. Es bleibt abzuwarten, wie der EuGH dies im Einzelfall beurteilt.

Deutschland ist das einzige Land in der EU, das noch eine substitutive private Krankenversicherung hat. Die Richtlinie legt nicht fest, ob ausländische Patienten die Preise für gesetzlich oder privat Versicherte zu bezahlen haben. Falls die Ärzte eine Privatvergütung für die Behandlung ausländischer Patienten durchsetzen können, müssen gesetzlich Versicherte mit noch längeren Wartezeiten rechnen.

Ausländische Patienten sollen sich über die Qualität der einzelnen Praxen und Krankenhäuser sowie über Haftungsfragen informieren können. Diese Informationen stehen deutschen Patienten bisher nicht zur Verfügung. Eine öffentliche Qualitätsberichtserstattung für den stationären Sektor wird gerade aufgebaut, ebenso ein kodifiziertes Patientenrecht. Hier zeigt sich erneut der Widerspruch zwischen dem Einzelinteresse eines Patienten als Konsumenten an rechtlichen Regelungen, z. B. in Hinblick auf Schadensersatzforderungen, und dem Gemeinwohlinteresse an einer vertrauensvollen Arzt-Patient-Beziehung. Wohin das führen kann, zeigt das Beispiel der Hebammen in Deutschland, von denen viele keine Geburten mehr begleiten, weil sie die Haftpflichtprämie nicht bezahlen können. Als Folge trägt die Allgemeinheit die Kosten solcher Verrechtlichung.

Es bleibt allerdings abzuwarten, wie viele Patienten das Recht auf Mobilität wirklich in Anspruch nehmen werden. Auf der einen Seite bietet die Richtlinie den Mitgliedstaaten genügend Möglichkeiten, die Patientenmobilität einzuschränken, auf der anderen Seite bestehen große sprachliche und kulturelle Hürden für die Patienten. Sie müssen sich selbstständig informieren und die Behandlungskosten vorstrecken. Vor allem ältere, behinderte und schwerkranke Menschen werden dies nicht können. In Dänemark besteht schon länger die Möglichkeit, sich auf Kostenerstattung außerhalb des staatlichen Systems behandeln zu lassen, sie wurde bisher aber nur von 1,7 Prozent aller Patienten genutzt, die Mehrheit davon wählte dänische Privatkliniken (Martinsen/Vrangbæk 2008). Für Grenzregionen haben die Krankenversicherungen häufig spezielle Abkommen, so dass die Dienstleistungsfreiheit nicht in Anspruch genommen werden muss. So sind zum Beispiel Aachener Fachärzte bei der belgischen Krankenversicherung akkreditiert und können Patienten aus der belgischen deutschsprachigen Gemeinschaft behandeln.

Insgesamt stellt die Richtlinie zur Patientenmobilität aus juristischer Perspektive einen Paradigmenwechsel für den Wohlfahrtsstaat dar. Die praktischen Auswirkungen auf den Medizintourismus werden voraussichtlich gering bleiben. Die Informations- und Haftungsrechte dagegen können innerhalb der nationalen Systeme eine große Wirkung entfalten.


2.2.2 Ärztemobilität

Die Freizügigkeit gibt den Bürger der Europäischen Union das Recht, in einem anderen Mitgliedstaat zu arbeiten. Dieses Recht gilt auch für Ärzte, Krankenschwestern und die medizinischen Hilfsberufe. Im Binnenmarkt gilt grundsätzlich das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Das heißt, dass z. B. ein in Polen zugelassener Arzt auch in Portugal als Arzt arbeiten kann. Obwohl die EU prinzipiell nicht für die Regulierung des Gesundheitswesens zuständig ist, macht dieses Prinzip der gegenseitigen Anerkennung Mindeststandards nötig.

Für Ärzte wurden bereits 1993 Mindestausbildungszeiten festgelegt, für Krankenschwestern, Hebammen, Apotheker und Zahnärzte folgten sie 2005 mit der allgemeinen »Richtlinie zur Anerkennung von Berufsqualifikationen« (Rat 1993; Europäisches Parlament und Rat 2005). An der Richtlinie wurde kritisiert, dass sie nur Zeiten aber keine Inhalte festlege und somit kein einheitliches Ausbildungsniveau garantieren könne (Mossialos et al. 2002).

Wie schon die Regelung der Patientenmobilität, geht auch die der Ärztemobilität von individuellen Rechten und nicht vom kollektiven Sozialschutz aus. Auswirkungen hat diese Regelung vor allem auf die Länder Mittel- und Osteuropas, die unter der Abwanderung qualifizierten Personals leiden, in dessen Ausbildung sie viel investiert haben. Die Gewinner der Zuwanderung sind Großbritannien, Schweden und in Zukunft auch Finnland, die einen Ärztemangel verzeichnen. Die höheren Gehälter in Westeuropa locken Ärzte und Krankenschwestern an und führen zu Unterversorgung in den ärmeren neuen Mitgliedstaaten. In Deutschland arbeiten Krankenschwestern aus Polen und Ungarn in der häuslichen Pflege und deutsche Ärzte und Ärztinnen wandern nach Großbritannien und Skandinavien ab.

Die Kommission schreibt dazu in ihrem »Grünbuch über Arbeitskräfte des Gesundheitswesens in Europa«, dass das Risiko bestehe »(...) dass einige Mitgliedstaaten nicht bereit sind, mehr Fachkräfte in Gesundheitsberufen auszubilden, wenn sie nicht damit rechnen können, dass diese im Land bleiben« (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2008, S. 10). Trotzdem sieht sie in Einschränkungen der Freizügigkeit keine Lösung. Es bleibt abzuwarten, ob es europaweit zu einem Fachkräftemangel in der Gesundheitsversorgung kommen wird. In der Altenpflege zeichnet sich dieser bereits heute ab.

Die EU-Politik für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer endet nicht bei der Freizügigkeit. Auch die Vorschriften zur Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz haben Auswirkungen auf das deutsche Gesundheitswesen. So urteilte der EuGH 2003, dass Ruhezeiten als Arbeitszeiten anzurechnen sind. Dadurch müssen die deutschen Krankenhäuser ihren Bereitschaftsdienst neu organisieren, und es kommt zu einem Ärztemangel, da die Wochenarbeitszeit auf 60 Stunden begrenzt ist.


2.2.3 Wettbewerbsrecht

Neben Ärzten, Pflegepersonal und Patienten betreffen die Regeln des Europäischen Binnenmarktes auch die Institutionen im Gesundheitswesen: die Krankenhäuser, die gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen und die Selbstverwaltungsgremien. Die grundsätzliche Frage ist, ob diese Institutionen wie Unternehmen zu bewerten sind und damit dem Verbot von Kartellbildungen und Preisabsprachen unterliegen. Steuerliche Zuschüsse an private Institutionen wären dann wie Subventionen zu bewerten. Staatliche Institutionen hätten die Pflicht, ihre Aufträge (zum Beispiel für neue technische Geräte) öffentlich auszuschreiben.

Generell erbringen alle diese Institutionen soziale Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse. Für diese gelten die Wettbewerbsregeln nur eingeschränkt (Artikel 106[2] AEUV). Bisher gibt es allerdings keine Richtlinie, die detailliert regelt, welche Einschränkungen für welche Dienstleistungen gerechtfertigt sind. Die Kommission hat solch einen Gesetzentwurf für Ende 2011 angekündigt.

Bisher hat der EuGH solche Entscheidungen in Einzelfällen getroffen. Er neigte dabei dazu, das Gesundheitswesen als zum Sozialstaat gehörend einzuordnen und nicht als Markt zu betrachten. So klagten zum Beispiel die Pharmaunternehmen, weil sie der Auffassung waren, dass die deutschen Krankenversicherungen ein Kartell bildeten, indem sie einheitliche Erstattungspreise für Arzneimittel festlegten. 2004 urteilte der EuGH schließlich, dass die gesetzlichen Krankenversicherungen keine Unternehmen im Sinne des EG-Vertrags seien und sich die Frage der Kartellbildung somit nicht stelle.

Die Warenverkehrsfreiheit gilt auch für Medikamente. Pharmaunternehmen orientieren ihre Preise häufig an den finanziellen Möglichkeiten der Einwohner des jeweiligen Landes. Durch die höheren Preise in reicheren Ländern werden die Forschungskosten gegenfinanziert, sodass die innovativen Medikamente auch in ärmeren Ländern angeboten werden können - so die offizielle Begründung. In der Realität führt diese Praxis zu sehr hohen Gewinnspannen in Deutschland. Im gemeinsamen Binnenmarkt nutzen Pharmagroßhändler die Preisunterschiede aus und importieren Medikamente günstiger aus einem Nachbarland, verpacken diese mit landessprachlicher Aufschrift und verkaufen sie günstiger. Diese Praxis des »parallelen Handels« bedeutet reale Ersparnisse für die deutschen Patienten. Der EuGH hat eine Klage der Pharmahersteller gegen diese Praxis abgewiesen (EuGH, Urteil vom 11. Juli 1996).

Staatliche Institutionen unterliegen zwar nicht dem Wettbewerbsrecht, müssen dafür aber Aufträge, die eine gewisse Kostengrenze überschreiten, europaweit ausschreiben. Dies gilt auch für öffentliche Krankenhäuser, zum Beispiel bei der Anschaffung technischer Geräte und bei Neubauten. Eine gesetzliche Regelung, die die Anwendbarkeit des Wettbewerbsrechts auf Gesundheitsdienstleister eindeutig klärt, ist dringend erforderlich, da der Gesundheitssektor fortschreitend privatisiert wird. Krankenhäuser werden an private Investoren verkauft und auch öffentliche Krankenhäuser lagern immer mehr Dienstleistungen wie Reinigung, Sicherheit oder Abrechnungen aus.

Tabelle 1 fasst die Auswirkungen der vier Grundfreiheiten auf das Gesundheitswesen zusammen.


Tabelle 1: Die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes im Gesundheitswesen
Freizügigkeit von
Arbeitnehmern
Gütern
Dienstleistungen
Kapital
Im Gesundheitswesen
relevant für

Ärzte, Ärztinnen,
Krankenschwestern,
Pfleger
Medikamente


Patienten, die sich
im Ausland behandeln
lassen wollen
Krankenhaus-
investitionen

Relevanz




problematisch für die
neuen Mitgliedstaaten,
denen teuer ausgebildetes
Personal abgeworben wird

niedrigere Preise
für Deutschland



bisher gering, in
Zukunft könnten nationale
Budgets überschritten
werden, weil Wartelisten
unterlaufen werden
bisher keine
Relevanz.




2.3 Offene Methode der Koordinierung

Die Mitgliedstaaten wollten die Oberhand über den Wohlfahrtsstaat und seine Reformen behalten, gleichzeitig aber von den Erfahrungen der Nachbarstaaten mit Gesundheitsreformen lernen. Dafür wurde die Offene Methode der Koordinierung (OMK) entwickelt. Die Mitgliedstaaten der EU einigen sich hierbei auf gemeinsame Ziele, Indikatoren und Benchmarks, und Europäische Kommission und Rat veröffentlichen regelmäßige Fortschrittsberichte, in denen vorbildliche Entwicklungen in einzelnen Staaten herausgestellt werden. Die OMK basiert auf dem Prinzip des naming and shaming. Die Berichte und Rankings der Kommission sollen Debatten in den Nationalstaaten anstoßen - vor allem in denen, die schlecht abgeschnitten haben.

Nachdem die OMK für die Beschäftigungs- und Rentenpolitik sowie die soziale Eingliederung etabliert war, wurde sie 2001 auch auf die Gesundheitspolitik ausgeweitet. Im darauf folgenden Jahr wurden auf dem Gipfel des Europäischen Rats in Barcelona die gemeinsamen Ziele der OMK im Bereich »Gesundheit und Langzeitpflege« festgelegt: universeller Zugang, finanzielle Nachhaltigkeit und qualitativ hochwertige Versorgung.

Bei der Bewertung von Gesundheitssystemen unterscheidet die EU zwischen Input-, Output- und Outcome-Indikatoren. Input-Indikatoren messen die Ressourcen eines Gesundheitssystems, also die Anzahl der Krankenhausbetten, Arztpraxen und Krankenschwestern sowie die Gesamtausgaben. Output-Indikatoren zählen die erbrachten Leistungen wie Hüftprothesen oder Hausarztbesuche. Mit diesen beiden Indikatoren lassen sich Aussagen zur Effizienz des Systems und im Vergleich mit anderen Staaten auch zur Angemessenheit treffen. Sie sind relativ einfach zu erheben, sagen aber noch nichts über die Qualität der erbrachten Leistungen aus. Diese wird mit Outcome-Indikatoren erfasst, die das Ergebnis einer Behandlung messen sollen. Überleben, Genesung und Lebensqualität sind dabei die zentralen Ergebnisse. Langzeitergebnisse, wie der Indikator Fünf-Jahres-Überlebensrate bei Krebs sind technisch aufwendig zu erheben und zusätzlich von der generellen Konstitution des Patienten abhängig. Im internationalen Vergleich werden deshalb häufig Indikatoren zum Gesundheitszustand der gesamten Bevölkerung verwendet, zum Beispiel der Indikator »Lebenserwartung bei Geburt«. Diese ist allerdings von vielen Faktoren abhängig, wie Ernährung, Arbeitsbedingungen, Sport, Rauchen und nicht zuletzt dem Klima (European Commission 2009b). Das Gesundheitssystem ist nur für zehn bis 40 Prozent der Lebenserwartung verantwortlich (Rosenbrock/Gerlinger 2006). Indikatoren wie »Lebenserwartung mit 65« oder »Lebenserwartung bei guter Gesundheit« sind deshalb nicht geeignet die Qualität der Gesundheitsversorgung zu vergleichen.

Aufgrund der methodischen Schwierigkeiten dauerte es bis 2008, bis die Mitgliedstaaten sich auf ein gemeinsames Set von Indikatoren einigen konnten. Es besteht aus 30 Indikatoren und vier Kontextindikatoren. Von diesen haben die Mitgliedstaaten allerdings nur zwei für den internationalen Vergleich auserkoren: Lebenserwartung und Säuglingssterblichkeit (European Commission 2008a). Alle anderen sind explizit nur für die Betrachtung der Entwicklung eines Landes vorgesehen. Dadurch sind der Kommission für die Erstellung eines Rankings die Hände gebunden. Hinzu kommt, dass die Mitgliedstaaten nicht alle Daten übermitteln. Die Kommission stellt online ein Dokument mit Daten zu allen Indikatoren bereit; die Lücken in den Eurostat-Daten werden mit Hilfe der Daten der World Health Organisation gefüllt (ebd.). Sie hofft darauf, dass Wissenschaftler die Rankings erstellen, deren Erstellung ihr nicht möglich ist. Auf Grundlage dieser Daten lässt sich ersehen, dass Schweden das beste Gesundheitssystem Europas hat. Es befindet sich bei den drei Zielen der OMK im Bereich »Gesundheit und Langzeitpflege« unter den besten fünf Ländern und ist damit das einzige Land, das universellen Zugang zu hochwertigen Gesundheitsdienstleistungen mit niedrigen Ausgaben kombiniert (Verspohl 2010). Diese Vorreiterstellung spiegelt sich allerdings in den evaluierenden Gemeinsamen Berichten von Kommission und Rat nicht wider (European Commission 2007, European Commission 2008b, European Commission 2009a). Die Kommission möchte es vermeiden, noch einmal die Politik eines Landes als Vorbild zu empfehlen, wie sie es mit dem dänischen flexicurity-Modell in der Arbeitsmarktpolitik gemacht hatte (Verspohl 2010). Inzwischen ist auch in Dänemark die Arbeitslosenrate wieder gestiegen und flexicurity nicht mehr das Allheilmittel. Auch erweist sich das Modell als schwer übertragbar in andere wohlfahrtsstaatliche Kulturen.

Die ursprüngliche Idee hinter der OMK war, dass sich die Länder unter sanftem Druck gemeinsam dem besten und effizientesten Modell zuwenden. Solange ein solches Zielmodell aber nicht benannt wird, ist auch keine Konvergenz zu erwarten. Die OMK hat sich also als ein sehr weiches Instrument erwiesen, dessen Möglichkeiten in der Gesundheitspolitik so weit verwässert wurden, dass es die nationalen Gesundheitspolitiken nicht verändern konnte (Verspohl 2012).


2.4 Zwischenfazit »Einfluss der EU«

Das Gesundheitswesen ist zugleich ein wichtiger Teil des Wohlfahrtsstaates und ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Alle Mitgliedstaaten der EU haben nationale Gesundheitssysteme entwickelt, die eine Balance schaffen zwischen den sozialen Interessen der Patienten, der finanziellen Belastung der Beitragszahler und den wirtschaftlichen Interessen von Ärzteschaft, Krankenhäusern und der Pharmaindustrie.

Durch die Schaffung eines Europäischen Binnenmarktes wurden Sozial- und Wettbewerbspolitik auf unterschiedliche Ebenen verteilt. Die Mitgliedstaaten sind für die Sozialpolitik, die Europäische Union ist für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes zuständig. Das grundsätzliche Problem ergibt sich dadurch, dass Binnenmarktrecht nationales Recht bricht (EuGH, Urteil vom 15. Juli 1964. Amtsblatt C). Dadurch brechen europäische Regeln zur Durchsetzung des Binnenmarktes nationale Regeln zum Sozialschutz. Das begründet in der Folge eine Vorrangstellung des Marktes gegenüber dem Wohlfahrtsstaat.

Zwar lässt der EU-Vertrag Einschränkungen der Grundfreiheiten aus Gründen des Allgemeinwohls zu, aber der EuGH hat in seiner Rechtsprechung immer wieder betont, dass Dienstleistungsfreiheit, Warenverkehrsfreiheit und Freizügigkeit auch im Gesundheitssektor gelten und Einschränkungen verhältnismäßig zu sein haben.

Die Formulierungen der sozialen Grundrechte im Entwurf für eine Europäische Verfassung hätten einen Ausgleich darstellen können, wurden aber nicht in den Vertrag von Lissabon aufgenommen, sondern lediglich in ein Protokoll aufgenommen. Sie gelten nicht für Großbritannien und Polen. Es ist noch abzuwarten, ob der EuGH sie als gleichwertig zu den vier Grundfreiheiten ansieht. Solange die EU keine eigenständigen sozialen Kompetenzen hat, agiert sie nach der Marktlogik. Daraus ergibt sich, dass Patienten als Konsumenten behandelt werden und Ärzte, Ärztinnen, Krankenschwestern und Pfleger als Arbeitnehmer. Themen wie öffentliche Gesundheit oder soziale Ungleichheiten im Gesundheitsstatus kann die EU nur effizient bearbeiten, wenn sie auf die Produktivität der Arbeitnehmerschaft und damit auf eine wirtschaftliche Logik verweist (Verspohl 2010; Guigner 2004). Der EU-Ansatz bringt für den Einzelnen Vorteile: Medikamente werden günstiger, man kann sich im Ausland behandeln lassen oder als Arzt einen besser bezahlten Job in einem anderen Mitgliedstaat annehmen. All das stellt allerdings ein solidarisches Gesundheitssystem infrage. Die Mitgliedstaaten experimentieren mit Marktreformen im Gesundheitssystem und lassen dabei den Einfluss der EU auf diese Märkte außer Acht.


3. Marktreformen im Gesundheitswesen

Die Ölkrisen der 1970er Jahre hatten nicht nur das Ende des expansiven Wohlfahrtsstaates, sondern auch das Ende des Keynesianismus eingeleitet. Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in Mittel- und Osteuropa setzte sich der Neoliberalismus endgültig durch. Die neue Doktrin lautete: Märkte verteilen knappe Güter am effizientesten. Im Gesundheitswesen erzeugt die Orientierung an der Marktlogik allerdings fundamentale Probleme. Erstens bestehen große Informationsasymmetrien zwischen dem Arzt als dem Anbieter und dem Patienten als dem Käufer von Gesundheitsdienstleistungen. Das beginnt damit, dass der Patient nicht weiß, welche Krankheit er hat, die Diagnose erstellt der Arzt. Der Arzt hat auch die Informationen über verfügbare Behandlungsmethoden und entscheidet über die weitere Behandlung. Daraus kann angebotsinduzierte Nachfrage entstehen. Außerdem ist der Patient aufgrund seiner Erkrankung meistens nicht in der Lage, ein zweites Preisangebot einzuholen, wie er oder sie es beim Kauf eines Autos machen würde. Für Gesundheitsdienstleistungen besteht auch keine normale Nachfragekurve, da Menschen alles für ihr Leben oder das ihrer Familie geben würden. Schlussendlich führt ein Gesundheitsmarkt in ein moralisches Dilemma, da viele Menschen, die einen Arzt benötigen, diesen häufig nicht bezahlen können, weil sie alt oder arbeitsunfähig sind. Aufgrund dieser Probleme mit Gesundheitsmärkten wurden in ganz Europa bereits Ende des 19ten Jahrhunderts öffentliche Krankenversicherungen eingeführt.[4] In der modernen Variante des Marktmodells im Gesundheitswesen soll der Wettbewerb deshalb über den Umweg der Krankenversicherungen stattfinden (siehe Grafik 1).

In einem ersten Schritt können Versicherte ihre Krankenkasse frei wählen, diese sollen dadurch effizienter werden. In einem zweiten Schritt treten die Kassen in Verhandlungen mit den Leistungserbringern. Individuelle Verträge statt kollektiver Abkommen sollen Leistungsanreize für Arztpraxen und Krankenhäuser setzen. Die Marktdoktrin sagt auch, dass private Anbieter effizienter arbeiten als öffentliche. Der dritte konsequente Schritt ist es deshalb, Krankenhäuser zu privatisieren.

Die nationalen Reformen wurden meistens ohne mögliche EU-Auswirkungen geplant. Im Folgenden werden Wettbewerb und Privatisierung im deutschen Gesundheitssystem dargestellt. Die deutschen Reformen folgten in den letzten 20 Jahren häufig dem Vorbild der Niederlande, manche der möglichen EU-Auswirkungen werden deshalb am niederländischen Beispiel vorgestellt (Verspohl 2012).


3.1 Krankenversicherungswettbewerb

In Deutschland wurde 1996 Wettbewerb zwischen den gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) eingeführt. Dadurch konvergierten die Beitragssätze. 1990 reichte die Spanne von acht Prozent bis 16 Prozent, wobei Geringverdiener in der AOK und einigen Betriebskrankenkassen mit sehr hohen Beiträgen belastet wurden, während besserverdienende Angestellte in eine günstigere Versicherung wechseln konnten (zum Beispiel Ingenieure in die TK). Seit 2009 zahlen alle einen einheitlichen Beitragssatz in den Gesundheitsfonds. Wettbewerb soll über den pauschalen Zusatzbeitrag stattfinden, für den es auch soziale Härtefallklauseln gibt. Damit ist die Solidarität zwischen den GKV-Versicherten deutlich gestärkt worden.

Zwar erfasste die Reform nicht die Privatversicherten, aber mit dem Steuerzuschuss zum Gesundheitsfonds leisten diese nun auch einen kleinen Beitrag zur solidarischen Finanzierung. Durch das neue Gesetz zur Übertragbarkeit von Altersrückstellungen wurde versucht, auch zwischen den privaten Krankenversicherungen Wettbewerb zu etablieren. In den Niederlanden wurden auch die privaten Versicherungen in den Wettbewerb miteinbezogen und ein Gesundheitsfonds für alle Kassen geschaffen. Es ist nicht geklärt, ob diese Versicherungen als Unternehmen zu bewerten sind und für sie damit EU-Binnenmarktrecht gilt (Thomson/Mossialos 2007).

Für private Zusatzversicherungen, die Leistungen abdecken, die aus dem Paket der GKV ausgenommen wurden, gilt auf jeden Fall die dritte Schadensversicherungsrichtlinie, die das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung auch auf Versicherungen ausweitet (Rat der Europäischen Gemeinschaften 1992). Versicherungsunternehmen, die in einem Mitgliedstaat zugelassen sind, können ihre Dienste in der gesamten Union anbieten und unterliegen nur der Kontrolle des Heimatlandes. So kann zum Beispiel ein französischer Versicherungskonzern in Deutschland Zahnzusatzversicherungen anbieten. Die deutsche DKV bietet in Schweden private Krankenversicherungen an. Nationale Regulierungen dieser privaten Zusatzversicherungen zum Schutze des Allgemeinwohls dürfen die Dienstleistungsfreiheit der Versicherungsunternehmen nicht unverhältnismäßig einschränken.

Eine weitere Auslagerung von Leistungen in private Zusatzversicherungen erhöht somit den Einfluss der europäischen Binnenmarktpolitik und stellt Marktfreiheit über soziale Sicherung. Soziale Auflagen (die gesetzlichen Krankenkassen unterliegen dem Kontrahierungszwang und müssen neue Mitglieder unabhängig von deren Gesundheitszustand und ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit aufnehmen, Prämien sollen risikounabhängig gestaltet sein) müssen gegen die Freiheit der Versicherungsunternehmen abgewogen werden.


3.2 Selektive Verträge

Wenn Krankenhäuser und Ärzte ein festes Budget erhalten, haben sie keinen Anreiz effizienter zu wirtschaften. Wettbewerb zwischen den Anbietern von Gesundheitsdienstleistungen sollte die Effizienz steigern. Da, wie bereits oben ausgeführt, Patienten keine mündigen Konsumenten sind, sollte dieser Wettbewerb über die Krankenversicherungen laufen.

In Deutschland sind diese selektiven Verträge zwischen einzelnen Krankenversicherungen und Ärzten noch auf verschiedene Versuchsmodelle - wie die hausarztzentrierte oder integrierte Versorgung - begrenzt. Die Kassen drängen jedoch auf eine Erweiterung dieser Modelle, um darüber miteinander in Wettbewerb treten zu können.

In den Niederlanden sollen zukünftig 70 Prozent des Gesamtbudgets direkt zwischen einzelnen Versicherungen und den Anbietern verhandelt werden (De Nederlandsche Bank 2009). Dabei sind auch explizit Verträge mit Ärzten und Krankenhäusern außerhalb der Niederlande vorgesehen. So könnte eine Versicherung einen günstigeren Tarif anbieten, wenn ihre Patienten sich bereit erklären, für planbare Operationen nach Ungarn zu gehen. In Deutschland ist dieses Szenario bisher nur für Zusatzversicherungen denkbar. Doch auch für deutsche Patienten könnte günstiger Zahnersatz bald in den neuen Mitgliedstaaten in einer dortigen Zahnklinik eingesetzt werden. Dadurch würde ein europaweiter Markt für Gesundheitsdienstleistungen geschaffen, für den auf EU-Ebene einheitliche Qualitätsstandards vereinbart werden müssten. Solange die EU über keine soziale Kompetenz verfügt, besteht die Gefahr, dass dabei die Solidarität erodiert. So könnte es zum Beispiel zu einer Unterversorgung der Bevölkerung in den neuen Mitgliedstaaten kommen, wenn die Anbieter Verträge mit westeuropäischen Versicherungen bevorzugen würden.


3.3 Krankenhausprivatisierung

Krankenhäuser wurden in Deutschland traditionell von den Städten und Gemeinden sowie von Wohlfahrtsverbänden getragen. Es gab immer schon einen kleinen Anteil von Privatkliniken, die auch an der öffentlichen Versorgung teilnahmen. Zwischen 1991 und 2008 verdoppelte sich ihr Anteil allerdings von 15 Prozent auf 30 Prozent (Statistisches Bundesamt). Dies hatte auf der einen Seite damit zu tun, dass jedes sechste Krankenhaus geschlossen wurde, die meisten davon kleine, städtische Krankenhäuser. Auf der anderen Seite verkauften Städte ihre defizitären Krankenhäuser an private Investoren, die diese effizienter betreiben sollten. Inzwischen dominieren vier Ketten den privaten Krankenhausmarkt.[5] Der Anteil der Wohlfahrtsverbände blieb stabil bei 30 Prozent der Krankenhäuser (Statistisches Bundesamt).

Die größte Privatisierungswelle fand jedoch bei den öffentlichen Kliniken statt. Damit die Kommunen die Verluste der Krankenhäuser nicht aus ihrem Haushalt ausgleichen mussten, wurden sie in GmbHs in öffentlicher Hand umgewandelt. 1991 wurden noch fast alle damals 1110 öffentlichen Krankenhäuser direkt vom Land oder der Kommune verwaltet, 2008 waren es noch 13 (Statistisches Bundesamt).[6] Diese privaten Unternehmen konnten ihre Investitionen über Kredite finanzieren, die nicht in den kommunalen Haushalt eingingen.

Die Krankenhausprivatisierungen sind ein rein deutsches Phänomen. Private Krankenhäuser sind Unternehmen und fallen damit grundsätzlich unter die europäischen Richtlinien zu Binnenmarkt und Wettbewerb, jegliche sozialpolitische Regulierung auf nationaler Ebene muss deshalb »verhältnismäßig« sein. Der Markt muss auch ausländischen Investoren offenstehen, die Qualität muss dagegen der Nationalstaat sicherstellen.


3.4 Zwischenfazit »Marktreformen«

Marktreformen im Gesundheitswesen umfassen zwei Dimensionen: Einführung von Wettbewerb sowie Privatisierung. Wettbewerb kann auch als Instrument genutzt werden, um andere Ziele durchzusetzen, zum Beispiel zur Erreichung von Beitragssatzkonvergenz zwischen den Krankenversicherungen. In den Reformgesetzen wurden die negativen sozialen Auswirkungen bereits bedacht und abgemildert. Die Privatisierung war dagegen ein eher schleichender Prozess, für den es kein Gesetz mit Abwägung der sozialen Folgen gab. Sie wurde genutzt, um die Kosten von Krankenhausinvestitionen über Schulden zu finanzieren, nicht um bewusst einen Gesundheitsmarkt zu schaffen.

Die Marktreformen stehen zwar im Einklang mit der marktschaffenden Politik der Europäischen Union, wurden aber nicht von dieser betrieben oder befeuert. Im Reformprozess wurden mögliche Auswirkungen des Binnenmarktes nicht bedacht: Ein Wettbewerb von privaten (Zusatz-)Versicherungen und Anbietern um Selektivverträge muss auch ausländischen Unternehmen offenstehen. Sozialschutzklauseln dürfen diesen Wettbewerb nicht unverhältnismäßig behindern. Und für eine Re-Regulierung des Gesundheitsmarktes auf Europäischer Ebene fehlt der EU die notwendige Kompetenz.


4. Die EU benötigt eine soziale Dimension

Grundsätzlich macht es keinen Unterschied, auf welcher Ebene Wirtschafts- und Sozialpolitik geregelt werden - es sollte aber auf derselben Ebene sein. Durch die Aufteilung in eine europäische Marktregulierung und eine nationale Wohlfahrtstaatsregulierung wird die Gesundheitspolitik zwischen diesen beiden Ebenen zerrissen, da sie zugleich Markt und Sozialschutz ist. Da EU-Recht nationales Recht bricht, besteht die Gefahr, dass Marktrecht Sozialrecht bricht.

Die wirtschaftliche Integration ist unumkehrbar und für Deutschland unter dem Strich vorteilhaft. Damit Soziales und Markt wieder als Einheit gedacht und im Gesetzgebungsverfahren gegeneinander abgewogen werden können, muss die EU eine soziale Dimension erhalten.

Die Bemühungen im Kampf gegen das Rauchen und in der Offenen Methode der Koordinierung zeigen, dass die Europäische Kommission durchaus auch das Allgemeinwohl zum Ziel hat. Doch fehlen ihr im sozialen Bereich die Durchsetzungsmittel, die sie im Binnenmarkt hat. Auch der EuGH hat zum Beispiel mit dem Urteil zur Preissetzung bei Arzneimitteln durchaus im Sinne der Sozialsysteme und gegen die Unternehmensinteressen entschieden.

Die EU braucht einen klaren sozialen Auftrag. Europäische Gesundheitspolitik sollte auf EU-Ebene kohärent und sozial gestaltet werden - und nicht im Nachhinein von den Mitgliedstaaten korrigiert werden müssen wie im Falle der Patientenmobilität. Dadurch gerät der Wohlfahrtsstaat in einen Abwehrkampf gegen den Markt, obwohl die beiden sich ergänzen sollten. Der Krankenversicherungswettbewerb und der gemeinsame Markt für Arzneimittel haben gezeigt, dass Wettbewerb, wenn er klug gestaltet wird, als Instrument zur Förderung des Allgemeinwohls eingesetzt werden kann. Der Patient dagegen ist meist zu alt und zu krank, um sich als mündiger Patient Gehör zu verschaffen; er oder sie braucht mehr als nur Verbraucherschutz.

Die EU sollte also die Kompetenz erhalten, sich um Wohlfahrt zu kümmern, nicht nur um Konsumenten, und eine einheitliche Wirtschafts- und Sozialpolitik entwickeln, in der Gesundheitsversorgung für alle Länder allgemein zugänglich, qualitativ hochwertig und finanzierbar bleibt.


Anmerkungen

[1] Zum besseren Verständnis wird hier durchgehend der Term EU gebraucht, auch für ihre Vorläuferorganisationen, die Europäischen Gemeinschaften.

[2] Die Mehrzahl der Minijobber sind Frauen, die über ihren Ehemann beitragsfrei mitversichert sind. Diese günstige Versicherung setzt keinen Anreiz für die Ehefrauen, eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufzunehmen. Auch wenn 400-Euro-Jobs keinen Krankenversicherungsschutz bieten, zahlen die Arbeitgeber eine geringe Pauschale an die Sozialversicherungen.

[3] Das luxemburgische System beruht auf dem Prinzip der Kostenrückerstattung.

[4] Nach dem zweiten Weltkrieg wurden sie in Großbritannien, Skandinavien, den kommunistischen Ländern Mittel- und Osteuropas und später auch in Südeuropa durch staatliche Gesundheitsdienste ersetzt.

[5] Rhön-Klinikum AG, Fresenius-Helios Gruppe, Asklepios Kliniken und Sana Kliniken AG; die letztere befindet sich im Besitz der privaten Krankenversicherungen.

[6] Genaue Statistiken werden erst seit 2002 erhoben, die Anzahl der öffentlichen GmbHs 1991 ist allerdings zu vernachlässigen.


Literatur

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Über die Autorin

Dr. Ines Verspohl hat an der Universität Osnabrück zum Thema Gesundheitsreformen in Europa promoviert. Sie war Mitglied des Promotionskollegs »Arbeitnehmerinteressen und Mitbestimmung in einem Europäischen Sozialmodell« der Hans-Böckler-Stiftung.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Grafik 1: Krankenversicherungen ersetzen direkte Märkte zwischen Ärzten und Patienten


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Diese Publikation erscheint im Rahmen der Arbeitslinie »Europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik«, Redaktion: Dr. Björn Hacker, bjoern.hacker@fes.de; Redaktionsassistenz: Nora Neye, nora.neye@fes.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Dezember 2011