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STELLUNGNAHME/297: Prof. Henrik Herrmann, Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein - Wie haltbar sind Expertenaussagen zur Klinikreform? (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 9, September 2023

"Kurz vor Herzattacke"

Wie haltbar sind Expertenaussagen zur Klinikreform?

von Prof. Henrik Herrmann


Die fünfte Stellungnahme der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung kam zu einem bemerkenswerten Fazit: 20.000 Lebensjahre könnten jährlich gerettet werden, wenn alle Patienten in zertifizierten Zentren zur Krebsbehandlung behandelt würden. Würden alle Schlaganfallpatienten in Stroke Units behandelt, ergäbe sich eine Reduktion des Versterbens innerhalb des ersten Jahres nach dem Schlaganfall von 4.969 Fällen. Würden alle primären Hüft- und Knie-TEP-Implantationen in Zentren mit einer definierten Mindestfallzahl (200/150) durchgeführt werden, könnten jährlich 447 bzw. 269 Revisionseingriffe vermieden werden.

Um es auf den Punkt zu bringen: Wenn ich als Patient nicht bei den drei genannten Behandlungsbereichen in einem Zentrum behandelt werde, steht es schlecht um mich. Dazu passt eine Aussage eines Mitglieds dieser Regierungskommission auf einer gesundheitspolitischen Veranstaltung in Schleswig-Holstein, der es als untragbar bezeichnete, dass in unserem Bundesland 16 % aller akuten ST-Streckenhebungsinfarkte in Krankenhäuser behandelt werden, die über keinen Herzkatheter-Messplatz verfügen und somit nicht richtig behandeln können.

Bei dieser Aussage stand ich selber kurz vor einer Herzattacke wegen einer hypertensiven Krise, die mich nachfolgend nun als Sekundärprävention veranlasst hat, mir diese Zeilen vom Herzen zu schreiben - denn ich habe 15 Jahre lang verantwortlich in einem Krankenhaus im ländlichen Raum ärztlich gearbeitet, das man aus Gründen der Qualität und Sicherheit nicht mehr aufsuchen dürfte, wenn man die Worte dieses Experten konsequent auslegt. Von dieser sehr persönlichen Warte und auch für die vielen Mitarbeitenden, die sich engagiert in die Patientenversorgung einbringen, möchte ich folgende Antworten zu diesen vier Punkten geben:

1) Jeder präklinisch vom Rettungsdienst gesehene Patient mit thorakalen Schmerzen hat ein EKG bekommen und ist bei einer ST-Streckenhebung in das nächste Krankenhaus mit Herzkatheter-Messplatz gefahren worden. Falls keine derartigen Veränderungen zu sehen waren oder gar direkt per Fuß wegen thorakaler Schmerzen ohne Rettungsdienst unser Krankenhaus aufgesucht wurde, erfolgt dort eine engmaschige Überwachung nach Triagierung. Sollte sich im Verlauf eine ST-Streckenhebung zeigen, wird sofort eine Verlegung in das angebundene Schwerpunktkrankenhaus zum Herzkatheter vorgenommen und nach erfolgter Intervention kommt es zur Rückverlegung, da das Schwerpunktkrankenhaus keine freien Betten mehr hat. Damit wird der "Fall" bei der Entlassung dem Krankenhaus ohne Herzkatheter-Messplatz zugeordnet - so kommen die 16 % zustande. Der hier vom Experten vorgestellte Parameter ist schlichtweg wenig aussagefähig und nur polemisierend. Die Frage muss lauten: Werden aus Krankenhäusern ohne Herzkatheter-Messplätze Patienten, die dort mit einem ST-Streckenhebungsinfarkt liegen, leitliniengerecht einer Herzkatheteruntersuchung und damit einer Intervention zugeleitet? Wenn das nicht der Fall ist, dann besteht dort eine schlechte Qualität! Die Vorstellung, dass jedes thorakale Schmerzereignis vom Rettungsdienst in ein Schwerpunktkrankenhaus gebracht wird, würde den Rettungsdienst überlasten und wäre nicht ressourcengerecht.

2) Gleiches gilt für den Schlaganfall. Wenn eindeutige Symptome vorliegen, wird jeder Patient zur nächstgelegenen Stroke Unit, die aufnehmen kann, gefahren, auch wenn diese weiter entfernt sein sollte. Doch nicht immer sind die Symptome eindeutig und auch hier kommen Patienten zu Fuß ins Krankenhaus. Auch hier erfolgt nach Triagierung die notwendige Diagnostik zeitgerecht, seit vielen Jahre kann telemedizinisch die neurologische Kompetenz des Schwerpunktkrankenhauses 7/24 hinzugezogen werden, um mit dieser Fachkompetenz zu beurteilen, ob eine Verlegung auf die Stroke Unit sinnvoll ist, ob z.B. eine Lysebehandlung eingeleitet werden soll und was sonst noch therapeutisch zu tun ist. Es kommt vor, dass trotz eines Schlaganfalls eine Verlegung auf die Stroke Unit aus unterschiedlichen Gründen als nicht sinnvoll erachtet wird und der Patient in dem Krankenhaus verbleibt. Dann ist das schlechtere Ergebnis aber nicht der Tatsache zuzuordnen, dass eine Behandlung in dem Krankenhaus ohne Stroke Unit erfolgte.

3) Jede diagnostizierte Krebserkrankung wird selbstverständlich in einer Tumorkonferenz des zugeordneten zertifizierten onkologischen Zentrums vorgestellt. Dort wird gemeinsam beschlossen, welche Behandlung wo am besten durchgeführt werden kann. Auch hier kommt es vor, dass eine Behandlung, insbesondere chemotherapeutisch, in dem Krankenhaus ohne Zertifizierung durchgeführt wird. Tumoroperationen und natürlich eine Strahlentherapie finden seit Jahren nicht mehr in dem geschilderten Krankenhaus statt.

4) Ohne auf Mindestmengen einzugehen: Auch im geschilderten Krankenhaus finden endoprothetische Eingriffe statt, weil Kliniken der Grund- und Regelversorgung mit den Abteilungen Chirurgie und Innere ohne sie nicht überleben können. Es hat 20 Jahre gedauert, bis sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass es dadurch zu Fehlanreizen gekommen ist. Deshalb ist eine Vorhaltepauschale notwendig. Aber: Jede Klinik muss seine Qualität in der Endoprothetik nachweisen, egal ob 200, 500 oder 1.000 Eingriffe, dafür haben wir längst Instrumente. Sollten sich Auffälligkeiten zeigen, kann und muss reagiert werden.

Ich bin für eine differenzierte Vorgehensweise und gegen pauschale Aussagen, die aus verschiedenen Datensätzen gemacht werden, um damit Politik zu betreiben. Die Wahrheit liegt immer auf dem Feld - also in jedem Krankenhaus. Größe und Fallzahlen sind Parameter unter vielen. Ich bin für zertifizierte Zentren und weiß aus Qualitätsmanagementverfahren, dass dort die Qualität hoch ist. Wir brauchen aber auch Strukturen, die eine Anbindung ermöglichen mit Erhebung entsprechender Qualitätsparameter, da wir im ländlichen Raum auch periphere Krankenhäuser brauchen. Es ist ein rein theoretisches Konstrukt, dass nur in Zentren Patienten von Beginn bis Ende der Erkrankung behandelt werden können. Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis ist halt generell in der Praxis größer als in der Theorie.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 9, September 2023
76. Jahrgang, Seite 27
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-0, Fax: 04551/803-101
E-Mail: info@aeksh.de
Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 10. Oktober 2023

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