Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → GESUNDHEITSWESEN


SOZIALES/049: Alleinsein - Einsamkeit kann krank und Krankheit kann einsam machen (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 5, Mai 2022

Einsam unter vielen

von Sandra Wilsdorf


ALLEINSEIN. Einsamkeit kann krank, und Krankheit kann einsam machen. Das Phänomen betrifft auch immer mehr jüngere Menschen - das war auch schon vor Corona so. Sich alleine zu fühlen, hat viel mit Erwartungen und Vergleichen zu tun.


Lange weiße Haare, traurige Augen: Die Frau auf dem Plakat blickt einem direkt ins Herz. "Einsamkeit" steht über ihrem Foto und darunter: "Die schmerzlichste Nebenwirkung des Alters". Mit einer Plakatkampagne macht die Karin und Walter Blüchert Gedächtnisstiftung zurzeit in Hamburg auf das Thema Einsamkeit aufmerksam und erinnert per friendly reminder: "call Omi", bzw. "call Opi" und daran, dass Corona die Einsamkeit älterer Menschen "dramatisch zugespitzt" habe (https://www.erfahrungstraeger.de/einsamkeit).

Doch Einsamkeit ist nicht erst seit Corona ein Thema: In Großbritannien ist der Kampf dagegen seit 2018 nationale Aufgabe, die Regierung hat seitdem eine "Einsamkeitsbeauftragte", man bemüht sich, das Phänomen zu fassen, auch in Kosten zu quantifizieren und natürlich zu bekämpfen. Japan hat seit Februar 2021 einen "Minister für Einsamkeit". Und auch in Deutschland erfährt das Thema immer mehr mediale und politische Aufmerksamkeit: So stellte die damals amtierende Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Bündnis 90/Die Grünen) auf einer virtuellen Auftaktveranstaltung ein Projekt vor, das noch die Vorgängerregierung auf den Weg gebracht hatte: Das bundesweite Kompetenznetz Einsamkeit. Es soll Einsamkeit vorbeugen und bekämpfen.


"Angesichts einer zunehmend individualisierten, mobilen und digitalen Gesellschaft werden wir Strategien und Konzepte entwickeln, die Einsamkeit in allen Altersgruppen vorbeugen und Vereinsamung bekämpfen."
CDU/CSU UND SPD (2018)


CDU/CSU und SPD hatten schon in ihrem Koalitionsvertrag 2018 versprochen: "Angesichts einer zunehmend individualisierten, mobilen und digitalen Gesellschaft werden wir Strategien und Konzepte entwickeln, die Einsamkeit in allen Altersgruppen vorbeugen und Vereinsamung bekämpfen." Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) fördert bundesweit Modellprojekte, unter anderem solche, die ältere Beschäftige vor sozialer Isolation schützen sollen sowie das Malteser-Projekt "Miteinander-Füreinander - Kontakt und Gemeinschaft im Alter". Auch Mehrgenerationenhäuser werden unterstützt.

Aber auch auf regionaler Ebene gibt es viele Aktivitäten: Das Land Schleswig-Holstein etwa fördert nach eigenen Angaben den Landesseniorenrat jährlich mit 68.000 Euro und mit der gleichen Summe das "Landesnetzwerk Seniortrainer Home - Landesnetzwerk seniorTrainerin S-H" (seniortrainer-sh.de), das in zwölf Kompetenzteams an unterschiedlichen Projekten arbeitet. Darunter etwa ein landesweites Digitalisierungsprojekt für Menschen, die unter Einsamkeit leiden. Außerdem könnten aus Mitteln des Sozialvertrages, die das Land zur Verfügung stellt, auch Projekte gegen Einsamkeit gefördert werden.

Um das Phänomen in seiner Dimension besser erfassen zu können, hatte der SSW 2021 einen Antrag in den Schleswig-Holsteinischen Landtag eingebracht, worin er forderte, ein Monitoring zur Einsamkeit einzuführen und die Ergebnisse regelmäßig in den Sozialbericht einfließen zu lassen. Gemeinsam mit den Fraktionen von CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP wurde daraus dann zwar eine Bitte an die Landesregierung, darauf hinzuwirken, dass bundesweit Daten und Informationen zum Thema Einsamkeit und Isolation erhoben werden - aber immerhin wurde es so ein fraktionsübergreifendes Anliegen. Liegen die Daten für Schleswig-Holstein vor, sollen sie in die Sozialberichterstattung des Landes aufgenommen werden und als Basis für Präventionsarbeit und entsprechende Projekte dienen.

Anfang März gab es einen digitalen Fachtag "Kiel gegen Einsamkeit - Subjektives Erleben und gesellschaftliche Herausforderung", der von der Abteilung "Inklusion und Älter werden im Quartier" des Amtes für Soziale Dienste initiiert und in Kooperation mit der Förde-Volkshochschule in Kiel organisiert und durchgeführt wurde - mit etwas mehr als 130 Teilnehmenden.

Es ging darum, sozialer Isolation und den damit verbundenen negativen Auswirkungen auf die Gesundheit präventiv zu begegnen, für das Phänomen Einsamkeit zu sensibilisieren, es zu enttabuisieren und Raum für Austausch und Vernetzung zu geben. Neben drei Fachvorträgen und einer Lesung boten 16 Sessions die Möglichkeit, sich in Kleingruppen über lokale Projekte für Inklusion und Teilhabe zu informieren, über das Thema Einsamkeit ins Gespräch zu kommen und neue Netzwerke zu knüpfen.

Auch die Medien widmen sich dem Thema. Da ist von "Volkskrankheit Einsamkeit" die Rede, von "Epidemie" - Manfred Spitzer etwa behauptete in seinem 2018 erschienenen Buch "Einsamkeit - die unbekannte Krankheit", Einsamkeit sei die Todesursache Nummer eins in den westlichen Ländern und bezog sich dabei auf internationale Studien. Vielfach belegt ist, dass Einsamkeit nicht nur das Risiko für Depressionen, sondern auch für andere - etwa kardiovaskuläre - Krankheiten erhöht und somit als Risikofaktor wie Tabakkonsum oder Übergewicht betrachtet werden kann.

Epidemie Einsamkeit?

Nimmt Einsamkeit also rasant zu? Nicht unbedingt: Vor Corona fühlten sich rund 10 % der Deutschen regelmäßig einsam. 2019 gaben nach einer Erhebung des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), die auf Daten des sozioökonomischen Panels von 2017 basierte, 9,5 % der Befragten an, einsam zu sein. 2013 waren es noch 10,5 % gewesen.

Im internationalen Vergleich liegen Deutschland und Großbritannien laut einer vergleichenden Studie etwa gleichauf und unter dem EU-Durchschnitt. Unterdurchschnittlich einsam fühlten sich der Untersuchung zufolge auch die Menschen in Dänemark, Finnland, Irland, den Niederlanden und Slowenien, überdurchschnittlich hingegen in Frankreich, Ungarn, Belgien, Rumänien und Griechenland.

Wer aber ist von Einsamkeit besonders betroffen? Das sind neben alten vor allem jüngere Menschen. Auffällig ist dabei, dass es vor allem die Jüngeren sind, bei denen Einsamkeit zunimmt - 29 % gaben 2017 einen schlechteren Wert an als 2013, bei den über 60-Jährigen waren es 26 %. Insgesamt fühlten sich 10,8 % der über 60-Jährigen und 9,1 % der 20- bis 29-Jährigen einsam. Bei den 30- bis 39-Jährigen waren es sogar überdurchschnittliche 9,6 %.

Dass ältere Menschen sich einsam fühlen, sieht jeder ein: Eine eingeschränkte Mobilität, gesundheitliche Beschwerden, Freundinnen und Freunde, die gestorben sind, Familien, die weit weg wohnen oder trotz räumlicher Nähe eigene Wege gehen: Oft ist es das Alleinsein, das einsam macht. Es gibt dagegen Projekte der Wohlfahrtsorganisationen, Kirchen und vieler anderer Institutionen und Initiativen.

Keine Frage des Alters

Bei jüngeren Menschen ist das anders. Wer sich einsam fühlt, obwohl er fast immer unter Menschen ist, wer in der vermeintlich besten Zeit seines Lebens alleine ist oder sich so fühlt, leidet nicht nur unter der Einsamkeit an sich, sondern auch einem damit verbundenen Stigma.

"Es gibt keine Altersgruppe, in der Einsamkeit keine Rolle spielt, aber besonders riskant sind die Umbrüche im Leben", sagt Benjamin Landes, Direktor des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V. (ISS) und Leiter des vom Bundesfamilienministerium geförderten Kompetenznetzes Einsamkeit. Einen solchen Umbruch stellt eben auch das Alter zwischen 20 und 30 dar: Der Aufbruch von zu Hause in ein neues, ein eigenes Leben, die Suche nach der Identität, der Abschied von alten Netzwerken. Und dann sind da noch die Erwartungshaltung der Erwachsenen, man möge sie genießen "die schönste Zeit des Lebens" und der Vergleich mit den anderen, die scheinbar alle in Beziehungen und eng verwoben in freundschaftliche "Netze" leben. Einsamkeit entsteht auch immer aus Erwartungen und Vergleichen. "Viele wissen ja, wie es sein sollte, und dieser soziale Vergleich kann dann unglücklich machen", sagt Landes.

Man weiß darüber noch nicht viel: "Bislang hat sich die Einsamkeitsforschung überwiegend auf Ältere konzentriert, über Kinder und Jugendliche wissen wir viel zu wenig", sagt Alexander Langenkamp, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter des ISS für das Kompetenznetz Einsamkeit zuständig ist.

Generell stellt Landes fest: "Einsamkeit ist auch das Resultat unserer Art zu leben". Häufige Umzüge und die damit verbundene soziale Entwurzelung, geringere regionale Einbindung, oder unzureichende Betreuungssituationen seien Beispiele, wie individuelle Lebensumstände Einsamkeit fördern können.

Dr. Sebastian Groth, Sprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte Schleswig-Holstein und niedergelassener Pädiater in Rendsburg, kennt das Phänomen, obwohl es in seiner Sprechstunde noch nie jemand direkt angesprochen hat: "Aber ich frage ja nach, wenn es um Rückzugstendenzen geht, um depressive Anteile oder Schulverweigerung. Und häufig kommt dabei heraus, dass das Kind oder der Jugendliche sich einsam fühlen".


Anfang Texteinschub
Jugendliche mit klinisch relevanten depressiven Symptomen

vor 2020:   10,4 %
nach 2020: 25,3 %

Ende Texteinschub


Noch einsamer durch Corona

Corona hat das gravierend verschlimmert. Die Sterbegeldversicherung "Monuta" sprach kürzlich von viermal mehr Selbsttötungen als vor der Pandemie. Eine vielzitierte Erhebung der Universitätsklinik Essen, die auf Basis der Antworten von 27 Kinderintensivstationen die Zahlen hochgerechnet hatte, ergab dreimal mehr Suizidversuche unter Jugendlichen als vor Corona. Eine Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) ergab: Während vor Corona 10,4 % der Jugendlichen klinisch relevante depressive Symptome hatten, stieg im Frühjahr 2020 - also während des ersten Lockdowns - dieser Anteil auf 25,3 %. Die Techniker Krankenkasse hat für den TK-Gesundheitsreport 2021, gemeinsam mit dem Meinungsforschungsinstitut Forsa, durch Befragungen zu den Belastungen durch Corona im Mai 2020 und März 2021 festgestellt, dass sich 54 % der 18- bis 29-Jährigen einsamer als zuvor fühlten.

Das sind alles Zahlen, die Groth aus seiner Praxis bestätigen kann: "Ich sehe sicher dreimal so viele Jugendliche, die Suizidgedanken äußern, wie vor Corona." Dass junge Menschen sich zu nichts aufraffen können, sich unendlich schlapp fühlen, das höre er nun sehr oft. Homeschooling und die Isolation habe viele Jugendliche einsam gemacht. Das virtuelle Zusammensein "war ja nur ein vorgetäuschtes Miteinander". Besonders hart habe es seiner Erfahrung nach die 12- bis 13-Jährigen getroffen: "Die sind noch nicht gefestigt, sind auf der Suche nach Cliquen, und diese Möglichkeiten sind ihnen genommen worden. Das war verheerend. Viele sind dann noch im Internet an falsche Vorbilder geraten."

Wie aber entsteht Einsamkeit bei Kindern überhaupt grundsätzlich? "Oft geht es um Kinder, die die Interaktion nicht richtig gestalten können. Sie entwickeln Verhaltensauffälligkeiten, etwa aggressives Verhalten oder auch zu viel Berührung. Die anderen Kinder lehnen das ab. So entsteht eine Außenseiterposition, die das Kind einsam macht - und das negative Verhalten noch verstärkt. Das ist ein Kreislauf, aus dem das Kind alleine nicht herausfindet", so Groth. Es seien dann oft die Eltern, die sich Hilfe suchend an den Kinder- und Jugendarzt wendeten. Nach Ausschluss körperlicher Ursachen entscheidet der dann, ob eine Erziehungsberatungsstelle der Familie helfen könnte oder eine weitere Diagnostik und Therapie durch psychiatrische oder psychotherapeutische Kolleginnen und Kollegen erfolgen sollte.

Gibt es dafür in Schleswig-Holstein genügend Angebote? "Leider Nein. Bei akuter Suizidalität werden die Jugendlichen zwar versorgt, aber gerade bei der Langzeittherapie von depressiven Jugendlichen erlebe ich oft, dass da bis zu sechs Wochen zwischen den Therapiesitzungen liegen oder lange Lücken zwischen Diagnostik und Therapiebeginn."

Ob das Kind alleine ist, habe übrigens meist nichts damit zu tun, ob es sich einsam fühlt: "Ein Kind kann sich mitten in einer riesigen Patchworkfamilie einsam oder nichts dergleichen fühlen, obwohl es vielleicht nur mit seiner Mutter zusammen lebt, die selten zu Hause ist, weil sie viel arbeiten muss", so Groth.

Begegnungen schaffen

Was aber lässt sich tun, gegen Einsamkeit? Der Report des IW zeigt einige Zusammenhänge auf, die Ansatzpunkte bieten: Eine häufigere Teilnahme an Freizeitaktivitäten etwa ist mit geringerer Einsamkeit verbunden. Das gilt auch für einen guten Gesundheitszustand sowie Erwerbstätigkeit. Personen mit einem direkten Migrationshintergrund sind hingegen häufiger von dem Problem betroffen. Die Wissenschaftler leiten daraus ab: "Maßnahmen, die die identifizierten Faktoren Gesundheit, Erwerbstätigkeit sowie Verfügbarkeit und Erreichbarkeit von Freizeitaktivitäten betreffen, können daher indirekt positiv auf die Einsamkeit wirken".

Und genau darum geht es dem Kompetenznetz Einsamkeit (KNE). Das zunächst bis Ende 2022 vom BMFSFJ geförderte Projekt verbindet Forschung, Netzwerkarbeit und Wissenstransfer zu dem Thema und fördert so, dass noch mehr Präventions- und Interventionsmaßnahmen gegen Einsamkeit entstehen, und dass die, die bereits existieren, bekannter werden. Das Praxisforschungsinstitut sucht Projekte, die in der Praxis funktionieren und identifiziert "Gelingensfaktoren". "Unser Projekt kann Einsamkeit nicht beenden, aber Menschen darin unterstützen, die etwas dagegen tun", erklärt Landes.

Dabei hilft auch der Blick in die Nachbarländer. Woran liegt es, dass das Gefühl der Einsamkeit beispielsweise in Griechenland, Rumänien und Frankreich höher ist als in Deutschland und Dänemark?

"Die Forschung ist noch lückenhaft, aber aktuelle Studien zeigen, dass Menschen in Gesellschaften, welche von höheren sozialen Erwartungen geprägt sind, sich eher einsam fühlen, wenn ihre sozialen Kontakte nicht der Norm entsprechen", sagt Alexander Langenkamp. Es spielen also auch hier Erwartungen und soziale Vergleiche eine wichtige Rolle. "Zudem lässt sich landesunabhängig sagen, dass Exklusionsrisiken wie Armut und körperliche Behinderungen das Risiko für Einsamkeit erhöhen."

Entscheidend seien aber auch "Gelegenheitsstrukturen": In entkernten Dörfern ohne soziale Infrastruktur gebe es mehr Einsamkeit als in Orten, an denen Menschen sich begegnen können - egal, ob auf Plätzen, in Kirchen, Vereinen oder im Dorfladen. Dabei gebe es keine Unterschiede zwischen Stadt und Land. Generell gelte: Wo Gelegenheit, da auch Begegnung. Für eine derartige Infrastruktur zu sorgen, könnte Aufgabe der Politik sein.

Ein anderer Ansatz ist "Social Prescribing", was es beispielsweise in Großbritannien und den Niederlanden gibt. Dabei wird gezielt das Gesundheitssystem genutzt, um an isoliert lebende Menschen heranzukommen: Ärztinnen und Ärzte und Gesundheits- und Krankenpfleger, die ihre Patienten als einsam wahrnehmen, können nicht-medizinische Unterstützung "verschreiben", sie beispielsweise an einen so genannten Link-Worker überweisen. Das sind geschulte Fachkräfte, die gemeinsam mit dem einsamen Menschen den individuellen Bedarf ermitteln, ein passendes Unterstützungskonzept entwickeln und dann realisieren. Die dabei genutzten Angebote umfassen alles, was gut tut: Von Bewegung, Ernährungsberatung zu Sozial- oder Wohnberatung, bis hin zu Wandergruppen und Nachbarschaftsnetzwerken. In Großbritannien hat inzwischen das Britische Rote Kreuz einen nationalen Social Prescribing Service eingeführt. Dabei werden von Einsamkeit betroffene oder bedrohte Personen für bis zu drei Monate von einem Link-Worker unterstützt.

Braucht Deutschland auch einen Minister oder mindestens eine Staatssekretärin gegen die Einsamkeit? "Wir verfolgen eher den Ansatz, für das Thema zu sensibilisieren, Einsamkeit zu entstigmatisieren und diejenigen zu stärken, die sich um das Thema kümmern", sagt Langenkamp. Denn Deutschland verfüge mit den Wohlfahrtsorganisationen über eine besonders gute Infrastruktur. "Da arbeiten schon ganz viele zum Thema Einsamkeit. Außerdem ist es wichtig, die Ärzteschaft einzubinden, das sind wichtige Kontakte zu den einsamen Menschen".

Generell aber könnten der Staat und auch das Gesundheitssystem zwar Strukturen schaffen, die gegen Einsamkeit helfen, wirklich etwas tun kann aber nur der Einzelne: "Jeder kann darauf achten, ob es in seiner Umgebung Menschen gibt, die sich einsam fühlen könnten - denn letztlich sind es nur die persönlichen Kontakte, die Menschen herausholen aus ihrer Einsamkeit", so Landes.

In diesem Sinne könne auch das Internet eine wichtige Rolle spielen: "Einerseits kann das Internet Einsamkeit noch verstärken, andererseits bietet es jedoch auch viele Andockmöglichkeiten, viele Projekte die Kontakte vermitteln", sagt Langenkamp. Die seien immer dann besonders erfolgreich, wenn sie letztlich reale Begegnungen ermöglichten.

Pädiater Groth wünscht sich für die Jugend nach Corona: "Wir brauchen niedrigschwellige Angebote, mit denen wir die Jugendlichen rauslocken, beispielsweise in die Sportvereine." Zudem wünscht sich der Pädiater eine Kampagne, die die Jugendlichen auf Hilfsangebote aufmerksam macht. Denn Einsamkeit sei unter Jugendlichen enorm stigmatisierend, deshalb könnten die sich nur gegenüber Professionellen öffnen. Auf diese Möglichkeiten aufmerksam zu machen - im Unterricht durch externe Experten wie bei Medienerziehung oder Suchtthemen oder auch jenseits der Schulen - hält Groth für entscheidend. Und einen Rat hat er noch für seine ärztlichen Kolleginnen und Kollegen: "Es ist wichtig, sich ein Netzwerk aufzubauen, damit man im Zweifel die Stellen und Personen kennt, an die man seine Patienten in solchen Fällen verweisen kann."

*


TeilSein
Ein DRK-Projekt gegen Einsamkeit von Kindern

Knapp vier Jahre ist es her, dass in den Kitas des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in Schleswig-Holstein Einsamkeit ein Thema wurde. Erzieherinnen und Erzieher fragten sich, ob nicht manche der Kinder mit besonderen Bedarfen eigentlich zutiefst einsam waren. Ein Thema, das bis dahin eher nicht mit Kindern in Verbindung gebracht worden war und deshalb in der pädagogischen Aus- und Weiterbildung nicht vorkam.

"Uns wurde klar: Da müssen wir etwas machen", sagt Helge Gradert, vom DRK-Landesverband Schleswig-Holstein. Es entstand das Projekt "TeilSein - Für Kinder gegen Einsamkeit". Es bildet Erzieherinnen und Erzieher zu Experten für Resilienzförderung weiter und begleitet sie dabei, die erlernten Methoden in ihren Kitas umzusetzen. Zur Sicherung von Qualität und Transfer der Inhalte wird "TeilSein" von einem unabhängigen Team evaluiert.

Dabei geht es um den Ansatz "Hilfe zur Selbsthilfe": "Die Kinder sollen lernen, ihre Gefühle zu erkennen, zu verbalisieren und dann auch Lösungsmöglichkeiten kennenlernen", so Gradert. Ob die Einsamkeit bei Kindern tatsächlich zugenommen hat oder die sie nur häufiger äußern, darüber kann er nur spekulieren: "Ich könnte mir das schon vorstellen, denn die Interaktion im Alltag und auch die Inanspruchnahme von Nachmittagsaktivitäten haben gerade bedingt durch den erschwerten Alltag mit der Pandemie deutlich abgenommen." Statt in Sportvereinen, in Arbeitsgemeinschaften oder auch einfach beim gemeinsamen Spielen verbrächten viele Kinder ihre Nachmittage notgedrungen vor Computern oder Handys. "Der Bildschirm aber tut ja nur so, als wenn da jemand mit mir spricht. Er hilft mir nicht dabei, Kompetenzen im Umgang mit anderen auszubilden oder die anderen auch nur wahrzunehmen".

Das Interesse am Projekt ist aktuell groß - auch wegen Corona. Viele wollen wissen, wie sie Kinder wieder aus ihrer Vereinsamung holen können. Auch der DRK-Landesverband Thüringen wirkt an "TeilSein" mit. Die ersten Erzieherinnen und Erzieher haben das über ein Jahr und mehrere Module laufende Programm durchlaufen und sind jetzt in der Umsetzungsphase, in der sie von regelmäßigen Coachings begleitet werden. Die zweite Kohorte soll nun starten und das Ganze abschließend evaluiert werden.

"Es geht um Kompetenzerwerb und Angstreduktion, wir wollen die Kinder resilienter machen - das soll sie als Kinder und auch als Erwachsene schützen", so Gradert. Dabei sei jedoch ein differenziertes Einsamkeitsbild wichtig: "Es gibt Kinder, die sind einfach introvertiert und fühlen sich wohl damit, man muss nicht jedes Kind in eine Gruppe integrieren". Ihnen ginge es darum, dass nicht immer nur die lauten Kinder Aufmerksamkeit bekämen, sondern alle.

Infos und Kontakt:
www.drk-sh.de/mitwirken/spalte-2/projekte/projekt-teilsein.html

*

Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 5, Mai 2022
75. Jahrgang, Seite 8-11
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-0, Fax: 04551/803-101
E-Mail: info@aeksh.de
Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 2. Juli 2022

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang