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ARTIKEL/1152: Altern und seine Bedeutung für Medizin und Gesellschaft (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 7/2010

Jahresveranstaltung der Akademie
Altern und seine Bedeutung für Medizin und Gesellschaft

Von Dr. Henrik Herrmann


Nicht nur wissenschaftlich: Die Akademie beleuchtete das Thema mit gesellschaftlichen, ethischen, historischen und kulturgeschichtlichen Aspekten.

Die Akademie für medizinische Fort- und Weiterbildung der Ärztekammer Schleswig-Holstein hatte das Thema bewusst breit angelegt und damit weit mehr als 200 Teilnehmer zur Fahrt nach Bad Segeberg motiviert. Bevor die eigentliche Veranstaltung losging, konnte erwartungsgemäß die Situation der Medizinerausbildung auf dem Campus Lübeck nicht unerwähnt bleiben. Dr. Hannelore Machnik als Vizepräsidentin der Ärztekammer sprach den anwesenden Sozialminister Dr. Heiner Garg auf die Entscheidung der Haushaltsstrukturkommission an und legte dar, welch unersetzlichen Verlust die Einstellung der Medizinerausbildung in Lübeck mit sich bringen würde, gerade vor dem Hintergrund des zunehmenden Ärztemangels. Der Minister ging engagiert und offen darauf ein, er wies auf die enorme Schuldenbelastung des Landes und auf die Notwendigkeit des Sparens hin. Er zeigte sich für alle Lösungen aufgeschlossen, die unter Vorgabe des Sparzieles den Erhalt der Medizinerausbildung in Lübeck sichern könnten. Dies bestätigte auch der Wissenschaftliche Leiter dieser Jahresveranstaltung, Prof. Hendrik Lehnert vom Campus Lübeck, der von vielversprechenden Vorschlägen zum Erhalt des Universitätsstandortes Lübeck sprach. Vor dem Hintergrund dieser aufrührenden Diskussion, die alle im Lande aus dem Bereich Gesundheit betrifft, war es nicht verwunderlich, dass die Begrüßungsworte länger andauerten. Diese Zeit war für alle Beteiligten wichtig, um noch einmal ihre Standpunkte darzulegen, aber auch, um Kompromissbereitschaft und Dialogbereitschaft zu demonstrieren.

Danach ging es mit der wissenschaftlichen Fortbildung los, als erster sprach Prof. Wolfgang Hoffmann vom Institut für Community Medizin der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald über die Demografie des Alterns. Wer einen trockenen, mit Bevölkerungspyramiden, Tannenbäumen oder Urnen versehenen Vortrag erwartet hatte, wurde enttäuscht. Dieser Vortrag legte für alle begeisternd den Finger auf das, was ärztliche und medizinische Versorgung vor dem Hintergrund des Demografiewandels ausmachen wird: Rückgang der hausärztlichen Praxen, Rückgang der Infrastruktur gerade im ländlichen Raum, Notwendigkeit neuerer Versorgungskonzepte, um überhaupt eine medizinische Grundversorgung in der Zukunft sichern zu können. "Wie sollen Entfernungen von 15 km mit einem Rollator zur nächsten Hausarztpraxis zurückgelegt werden?", war eine zentrale Frage. Die Problematik der älter werdenden Bevölkerung muss somit im Zusammenhang mit weiteren infrastrukturellen Aspekten gesehen werden. Hier sind Politik, Volkswirtschaft und Gesellschaft gefragt. Die Etablierung neuer, flexibler, regional orientierter Versorgungskonzepte ist dabei notwendig.

Nachfolgend sprach Prof. Hendrik Lehnert, Direktor der Medizinischen Klinik I des UK S-H, Campus Lübeck, zum Thema "Altern zwischen Chemie und Jungbrunnen". Er ging auf die endokrinologischen und genetischen Ursachen des Alterns und darauf ein, wie Alterungsprozesse hinausgezögert werden könnten. Eine Wunderpille gibt es - wohl glücklicherweise - nicht, er konnte jedoch aufzeigen, dass gesunde, leicht kalorienreduzierte Ernährung und Bewegung einen positiven Einfluss haben. Vieles, insbesondere im Internet frei Angebotenes, wie z.B. Hormonpillen, hat jedoch keinen oder sogar einen negativen Einfluss und ist somit sinnfrei.

Zum Schluss seines Vortrages sprach er die Besonderheiten der Pharmakotherapie im Alter an, wo er besonders auf die Gefährlichkeit des oft eingesetzten Diuretikums Hydrochlorothiazid einging. Die Gefahr einer Hyponatriämie mit entsprechenden Krankheitserscheinungen bis hin zur Verwirrtheit tritt bei bis zu 15 Prozent der älteren Menschen auf, die mit diesem Diuretikum behandelt werden, sodass dieses Medikament in seiner Klinik bei älteren Menschen verboten sei.

Nach der Mittagspause, die einmal mehr hervorragend vom Koepke Quartett musikalisch umrahmt wurde und Anlass zu vielerlei Gesprächen bot, folgte der Vortag von PD Dr. Daniel Kopf aus Heidelberg über kognitives Vermögen und Unvermögen im Alter. Oder - wie im Untertitel vermerkt: "Altern - zwischen Weisheit und Alzheimer". Kopf unterschied die fluide Intelligenz, die im Alter abnimmt, von der kristallinen Intelligenz und ging insbesondere auf die neurobiologischen Aspekte der Weisheit ein. Er machte deutlich, dass die Demenz eine ausgeprägte somatische Dimension besitzt und damit auch zu anderen Krankenhauseinweisungsgründen führt. Diabetes mellitus, Hypertonie und Übergewicht im mittleren Lebensalter sind starke Risikofaktoren der Alzheimerdemenz; Freizeitaktivitäten, besserer sozialer Status, körperliches Training und Ernährung stellen protektive Faktoren dar. Insgesamt steht dem Verlust an Leistungsfähigkeit in der Merkfähigkeit ein Gewinn insbesondere in der emotionalen Regulation gegenüber; ein gesundes kognitives Altern lässt sich klar neurophysiologisch, strukturell und molekular von einer Demenz abgrenzen.

Prof. Hans-Peter Bruch ging als Direktor der Klinik für Chirurgie des UK S-H, Campus Lübeck, insbesondere auf die technischen Fortschritte in der Chirurgie ein, wo durch Weiterentwicklungen von laparoskopischen Instrumenten die Invasivität der chirurgischen Eingriffe gesenkt werden kann, wovon insbesondere ältere Patienten profitieren. Er machte darauf aufmerksam, dass eine gute präoperative Vorbereitung mit einem entsprechenden Muskelaufbau sowie ein intensives postoperatives Management unter Einbindung der Physiotherapie gerade für ältere Patienten von hoher Wichtigkeit ist. Letztendlich entscheiden immer die individuelle Situation der Patienten im höheren Lebensalter mit ihren Begleiterkrankungen, aber auch deren Lebensumstände und das soziale Umfeld über das chirurgische Vorgehen.

Spannend und kurzweilig informierte anschließend Dr. Martin Willkomm, Chefarzt des Geriatriezentrums in Lübeck, zum Thema Wohnen und Umfeldgestaltung im höheren Lebensalter. 80 Prozent der älteren Menschen möchten möglichst zuhause bleiben, wenn sie ein eigenes Haus haben, die Hälfte möchte dies auch in gemieteten Wohnungen. Das heißt aber auch, dass durchaus eine Wohnflexibilität im Alter vorliegt. Wichtig ist, eine altersgerechte häusliche Wohnsituation zu schaffen, jedoch nicht über den Kopf des Betroffenen hinweg, sondern mit ihm gemeinsam. "Lieber beim Umbau als alter Mensch Staub schlucken, als nachfolgend stürzen, weil die bislang vorhandene stützende Wand nicht mehr existiert", verdeutlichte Willkomm. Dabei ist insbesondere die Bad- und Toilettensituation von großer Bedeutung, da hier die größten Gefahren für den älteren Menschen lauern: "Der Läufer im Badezimmer ist der häufigste Einweisungsgrund in die Geriatrie". Es war interessant zu sehen, wie in Deutschland, aber auch im Ausland neue Wohnformen und quartierbezogene Wohnkonzepte mit sozialem Netzwerk geschaffen werden. Zum Abschluss unternahm Prof. Dietrich von Engelhardt vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Technischen Universität München einen Ausflug in die Geschichte und Kultur. Angefangen von der Antike spannte er den Bogen des Alterns und des Alters über das Mittelalter bis in die Neuzeit. Natürlich ging er auch auf den Jungbrunnen von Lucas Cranach ein; er machte darauf aufmerksam, dass nur Frauen im Jungbrunnen badeten, und lieferte auch eine plausible Erklärung dafür. Er zeigte Beispiele aus der darstellenden und schreibenden Kunst vor dem Hintergrund der PIK-Frage nach Personalität - Identität - Kontinuität beim alten Menschen. Dabei wurden bereits zu Beginn der Neuzeit die Visionen des Fortschritts in der Medizin hinsichtlich des Alterns von Francis Bacon formuliert: Verlängerung des Lebens, Wiederherstellung der Jugend, Verzögerung des Alterns, Heilung unheilbarer Krankheiten, Überwindung des Schmerzes, Stärkung von Kraft und Aktivität sowie angenehme Abführmittel. Der Vortrag war der krönende Abschluss einer Jahresveranstaltung, die uns den Blickwinkel auf das Phänomen Altern noch einmal von einer anderen Warte aus eröffnete.

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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 7/2010 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2010/201007/h10074a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Prof. Hendrik Lehnert
- Prof. Hans-Peter Bruch
- Prof. em. Dr. phil. Dietrich von Engelhardt
- Dr. rer. pol. Heiner Garg
- Prof. Hendrik Lehnert (rechts) beim Vortrag.
- PD Dr. Daniel Kopf
- Dr. Elisabeth Breindl (links) und Helga Pecnik.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Juli 2010
63. Jahrgang, Seite 18 - 20
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-119, -127, Fax: -188
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. August 2010

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