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ARTIKEL/1159: Gesundheitsgerecht ... Globale Verantwortung für Gesundheit (spw)


spw - Ausgabe 4/2010 - Heft 179
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Globale Verantwortung für Gesundheit
Über den Aufbau und die Verteidigung solidarisch verfasster Gesundheitssysteme als Teil sozialen Eigentums

Von Thomas Gebauer


In der Auseinandersetzung über die Kopfpauschale geht es um mehr als ökonomische Fragen. So oft die schwarz-gelbe Bundesregierung vermeintliche fiskalische Zwänge ins Feld führt, rüttelt sie doch auch an den politischen Grundfesten der Gesellschaft.

Sozialstaatliche Institutionen, nicht zuletzt ein solidarisch verfasstes Gesundheitswesen, sind nicht nur Kostenfaktoren. Zuerst sind sie Ausdruck gesellschaftlichen Fortschritts. Wer ihre Aushöhlung in Kauf nimmt, verbreitet Existenzsorgen und riskiert damit den Freiheitsgewinn, der mit der Befreiung aus sozialer Unsicherheit und Not einhergeht.

Wie weit dies im Extrem rückwärts führt, lässt sich in vielen Ländern des Südens beobachten. Dort ist der Verlust des sozialen Konsenses und mit ihm die Zweiklassenmedizin längst skandalöse Wirklichkeit. Während die Mehrheit der Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika von angemessener Gesundheitsversorgung ausgeschlossen ist, ist eine vermögende Elite jederzeit bestmöglich in hoch spezialisierten Privatkliniken versorgt. So unterschiedlich die Lebensumstände in der Welt sind, verfolgen zivilgesellschaftliche Gesundheitsinitiativen im Süden unterdessen das gleiche Ziel wie kritische Ärzteorganisationen, Sozialverbände und Gewerkschaften hier. Sie streiten für die Einführung jenes Solidarprinzips, um dessen Erhalt es hier zu kämpfen gilt.

Globale Gesundheitskrise

"Gesundheit für alle": dieses wunderbare Gründungsziel der "Weltgesundheitsorganisation" (WHO), könnte - gemessen am unterdessen weltweit erzeugten Reichtum und dem immer profunderen Wissen über die Zusammenhänge des Lebens - längst verwirklicht sein. Aber schon der flüchtige Blick auf die beiden großen Gesundheitsindikatoren zeigt, wie das Ziel immer ferner rückt. Zwar ist die durchschnittliche Lebenserwartung in den letzten 50 Jahren gestiegen, doch in Afrika und manchen Ländern des früheren Ostblocks ist sie rückläufig. In den Industriestaaten werden die Menschen heute durchschnittlich 78 Jahre alt, in Ländern wie Botswana, Malawi, Mosambik, Ruanda oder Simbabwe, die von HIV/AIDS betroffen sind, nicht einmal 43 Jahre. Auch der zweite Gesundheitsindikator, die Säuglingssterblichkeit, verdeutlicht die soziale Spaltung in der Welt. Von 1000 Lebendgeborenen sterben in Angola 190 Kinder, bevor sie das erste Lebensjahr erreichen. In Österreich sind es 4.6, in Schweden 2.76, in Singapur 2.29.

Fraglos ist die Welt im Zuge der Globalisierung zusammen gerückt, doch nicht zu einem "globalen Dorf". Mit der weltweiten Entfesselung des Kapitalismus ist die Kluft zwischen Arm und Reich größer geworden. Das Versprechen, dass mit der Liberalisierung der Märkte auch etwas für die Armen abfallen würde, ist pure Ideologie. Statt zu diesem "Trickle down"-Effekt kam es zu dem, was im Englischen so treffend: "Take it from the needy, give it to the greedy" genannt wird. Mehr denn je ist es ein Unterschied, ob man in einer der prosperierenden Regionen des hegemonialen "globalen Nordens" oder sozial ausgeschlossen im "globalen Süden" geboren wird. Die Begriffe "globalen Süden" und "globaler Norden" sind übrigens politisch, nicht geographisch zu verstehen. Zunehmend finden sich Zonen der Armut, des "globalen Südens", auch an den Rändern nordamerikanischer und europäischer Städte, während umgekehrt Inseln eines mitunter märchenhaften Reichtums auch im Süden bestehen.

Der medizinische Fortschritt der letzten Jahrzehnte: An großen Teilen der Weltbevölkerung ist er völlig vorbeigegangen. Während hierzulande mit Hochdruck an teuren individualisierten Therapien geforscht wird, sterben noch immer alljährlich Millionen an Krankheiten, die eigentlich gut behandelbar wären. Tuberkulose, Masern oder Magen-Darm-Infekte grassieren, weil Menschen unter Umständen sozialen Ausschlusses die eigenen Gesundheitspotentiale nicht entfalten können.

Über 90 Prozent der globalen Krankheitslast trifft die Länder des Südens, dennoch stehen ihnen nur 10 Prozent aller medizinischen Ressourcen zur Verfügung. Zwei Milliarden haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Über eine Milliarde leidet an Unterernährung, wobei diese Zahl im Zuge der Finanzkrise sprunghaft angestiegen ist. Denn anders als notleidenden Krediten wurden Not leidenden Menschen keine Rettungsbemühungen zuteil. Dabei wäre es ein Leichtes, den Hunger zu einer Sache von Geschichtsbüchern zu machen. Über 12 Mrd. Menschen, nahezu das Doppelte der gegenwärtigen Weltbevölkerung, ließen sich mit den bestehenden landwirtschaftlichen Kapazitäten ausreichend ernähren. Dennoch stirbt alle sechs Sekunden ein Kind an Unterernährung, 25.000 jeden Tag, 9,2 Millionen im Jahr. Sie werden, wie der Schweizer Soziologe Jean Ziegler drastisch, aber völlig zu recht sagt, durch die Verhältnisse "ermordet".

Vielerorts entpuppt sich das universelle Recht auf Gesundheit als bloßer Schein. Wer arm ist, wird noch immer häufiger krank und stirbt früher. Allein die privilegierten Bewohner des "globalen Nordens" können sich Gesundheitsressourcen aus allen Teilen der Welt nutzbar machen: Sie beschäftigen Krankenschwestern aus den Philippinen, importieren Zahnersatz aus China, reisen zu Herzoperationen in die USA oder zu Ayurveda-Kuren nach Indien und verlangen vermehrt nach sog. Lifestyle-Medikamenten wie Präparaten gegen Fettleibigkeit und Haarausfall.

Die Ausgrenzung großer Teile der Weltbevölkerung vom Zugang zu Gesundheit ist weit vorangeschritten. Das 1978 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verkündete Ziel, Gesundheit für alle im Jahr 2000 zu schaffen, ist deutlich verfehlt worden. Vielleicht könne man es in 2000 Jahren schaffen, meinen Zyniker heute. Die weltweit geleistete medizinische Entwicklungshilfe jedenfalls gibt wenig Grund zur Hoffnung. Deren Summe ist in etwa so groß wie das, was Europa für Speiseeis ausgibt oder die Bevölkerung der USA für das Renovieren ihrer Badezimmer.

Kommerzialisierung

Bekanntlich hängt der Grad von Gesundheit, den Gesellschaften für ihre Mitglieder ermöglichen, nicht alleine von medizinischen, sondern vor allem von sozialen Faktoren ab. So wichtig die Zahl verfügbarer Krankenhausbetten, die Ärztedichte oder die Verfügbarkeit von Arzneimitteln sind, bleiben es doch in erster Linie soziale Umstände, die über die gesundheitliche Lage von Menschen entscheiden: die Einkommen, der Zugang zu Land, die Möglichkeit, sich ausreichend zu ernähren, menschenwürdige Wohnverhältnisse, qualifizierte Bildung, die Teilhabe an vitaler Kultur, etc.

Niemand bestreitet die Bedeutung solcher Faktoren ernsthaft, und doch spielen sie im gesundheitspolitischen Diskurs kaum eine Rolle. Was für den Umweltschutz und die Friedenspolitik gilt, trifft auch auf die Gesundheit zu: Nie war das weltweit akkumulierte Wissen über die Gründe bestehender Missstände größer, doch ist es wenig wert, wenn es in den Konflikt mit mächtigen, meist wirtschaftlichen Partikularinteressen gerät.

Und daran krankt das Gesundheitswesen heute: Schritt für Schritt ist es in den letzten Jahrzehnten aus einer am Gemeinwohl orientierten Ökonomie herausgelöst und dem Konkurrenzprinzip des Kapitalismus unterworfen worden. Wohl wissend, dass Gesundheit eine gesellschaftliche Aufgabe ist, werden Gesundheitsleistungen wie auch die anderen Bereiche sozialer Daseinsfürsorge Zug um Zug "kommodifiziert", zu Waren transformiert. Übersehen wird dabei, dass der Kapitalismus eben nicht nur für die Entfaltung von Wohlstand gesorgt, sondern parallel immer auch systematisch Armut produziert hat. Die negativen Seiten der herrschenden Wirtschaftsordnung waren hierzulande solange nur mittelbar spürbar, wie sich die Erwirtschaftung von Rendite auch auf Massenkonsum und damit auf Teilhabe gründen konnte. Die fordistische Phase des Kapitalismus aber ist Geschichte. Sie kam in den 1970er Jahren zu Ende, als die Grenzen des Wachstums erreicht waren. Seitdem ist Kapitalverwertung zunehmend auf Prozesse der Enteignung angewiesen: auf den Raubbau an Gemeingütern, der Enteignung von Wissen, die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, die Kapitalisierung sozialer Sicherungssysteme.

Im herrschenden gesundheitspolitischen Diskurs spiegelt sich diese Neuausrichtung in neuen Begrifflichkeiten. Wer heute noch von "öffentlicher Gesundheitsfürsorge" spricht, erntet nicht immer Verständnis, mitunter sogar Spott. Zeitgemäß ist es, von "Gesundheitswirtschaft" zu reden und Gesundheit, statt als öffentliches Gut in gesellschaftlicher Verantwortung, als lukrative Wachstumsbranche zu betrachten. Allerlei Leistungsanbieter, insbesondere aber die Pharma-Industrie, haben in den letzten Jahrzehnten darauf gedrängt, Gesundheitspolitik aus dem Kontext sozialer Determinanten herauszulösen und auf das Management von Krankheiten zu konzentrieren.

Die nötige ideologische Unterfütterung leistete dabei das Credo des Neoliberalismus. Keine Talkshow zum Thema, kaum eine Expertenkommission, in der nicht immer wieder behauptet wurde, dass private Gesundheitsdienste grundsätzlich effizienter seien als öffentliche. Was die Weltbank und der Internationale Währungsfonds den Ländern des Südens verordneten, verlangten einschlägig bekannte Unternehmensberater von Gesundheitseinrichtungen im eigenen Lande. Mit Verweis auf betriebswirtschaftliche Kennziffern empfahlen sie deren weitgehende Privatisierung, obwohl solche Kennziffern völlig ungeeignet sind, Aussagen über die Verwirklichung eines Menschenrechts zu treffen. Hohe Bettenauslastung, das Einhalten von Praxisbudgets und exorbitante Pharma-Renditen sagen noch nichts über den Grad des Wohlbefindens von Menschen.

Prekär ist die "Ver-Betriebswirtschaftlichung" von Gesundheit, weil es immer weniger die Gesundheitsbedürfnisse von Menschen sind, die über Versorgungsangebote entscheiden, sondern wirtschaftliche Erwägungen. Derart verwandelt sich Gesundheit zur Ware und werden aus Patienten Konsumenten. Unter solchen Umständen bestimmen nicht mehr soziale Rechtsansprüche über den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen, sondern die individuelle Kaufkraft. Wer sich die Behandlung einer chronischen Erkrankung, den Besuch beim Arzt oder private Zuzahlungen nicht leisten kann, hat das Nachsehen.

Was Wunder, dass im Zuge der Kommerzialisierung von Gesundheit auch eine besonders wichtige Sphäre der Gesundheitsfürsorge unter Druck geraten ist: der Public Health Sektor. Die großen gesundheitlichen Errungenschaften Europas: die Verbesserung der Trinkwasserversorgung, die Einführung einer funktionierenden Abfallbeseitigung, die Schaffung von Nahrungsmittelsicherheit, der Umweltschutz, das Angebot breitenwirksamer Impfungen, der Aufbau öffentlich kontrollierter Versicherungen - all das wäre nie zustande gekommen, wenn es an private Zahlungsfähigkeit gekoppelt gewesen wäre und unter dem Diktat betriebswirtschaftlicher Vorgaben gestanden hätte.

Veränderungschancen

Die Vorstellung, der Zugang zu Gesundheitsleistungen könne über den Markt geregelt werden, weshalb es reiche, die Verantwortung für Gesundheit auf die Einzelnen abzuschieben, mag gut für das Geschäft sein, gesundheitspolitisch aber führt sie in die Irre.

Es sind strukturelle Umstände, die für die globale Gesundheitskatastrophe verantwortlich sind. Umstände, die nicht alleine mit mehr Entwicklungshilfe verändert werden können, sondern auf nationaler wie auf internationaler Ebene nach neuen institutionellen Formen von "health governance" verlangen. Solange es die nicht gibt, werden auch Anstrengungen, wie sie seit einigen Jahren im Kontext der sogenannten "Millennium Development Goals" (MDGs) unternommen werden, nicht nachhaltig fruchten. So richtig es ist, Armutsbekämpfung an das Bemühen um verbesserte Bildung und Gesundheit zu koppeln, so fragwürdig bleibt es, wenn sich die praktische Umsetzung der Ziele auf punktuelle, von oben nach unten durchgeplante technische Eingriffe beschränkt. Notwendig ist es, die MDGs sozusagen "vom Kopf auf die Füße" zu stellen und für die institutionelle Verankerung sozialer Gerechtigkeit und demokratische Partizipation als Voraussetzung von Gesundheitsfürsorge zu sorgen.

Dass ein solcher Ansatz Erfolg versprechend ist, zeigt die Arbeit von lokalen Gesundheitsorganisationen, wie etwa von "Ghonoshastaya Kendra" (GK) in Bangladesh. 1972 im Zuge der Unabhängigkeitskämpfe von engagierten Ärzten gegründet, entwickelte sich GK, ein langjähriger Partner von medico international, zu einem der wichtigsten Gesundheitsakteure des Landes, der heute nicht nur die Basisgesundheitsversorgung von bald zwei Millionen Menschen in Hunderten von Dörfern gewährleistet, sondern auch Hospitäler unterhält, über eine eigene medizinische Fakultät verfügt, Kindergärten und Berufsbildungsprogramme für Frauen anbietet sowie Druckereien, Kleiderfabriken und selbst Produktionsanlagen für Arzneimittel betreibt. Mit einer konsequent basisbezogenen Arbeit im Rahmen von horizontalen auf Autonomie drängenden Programmen ist es GK gelungen, das vierte MDG, die Senkung der Kindersterblichkeit, bereits heute zu erfüllen.

Zugleich fördert GK die Einführung solidarisch finanzierter Gesundheitsversorgungsmodelle. Beispielsweise in Bhatshala im Nordwesten Bangladeshs, wo GK mit finanzieller Unterstützung von medico den Bewohnern von 45 Dörfern zur Seite steht, die Versorgungsansätze praktizieren, in denen diejenigen, die ein wenig mehr haben, auch für die Gesundheitsbedürfnisse der Ärmeren bzw. gänzlich Mittellosen aufkommen. Auch wenn mit solchen Selbsthilfeprojekten, die an die Erfahrungen europäischer Arbeitervereine im 19. Jahrhundert erinnern, nur punktuelle Verbesserungen zu erreichen sind, weisen wie doch in die richtige Richtung. Sie institutionalisieren das Prinzip gemeinsamer Risikoteilung und sorgen dafür, dass zumindest allen der Zugang zu präventiv-medizinischer Versorgung, Schwangerenvorsorge und Kleinkinderbetreuung garantiert werden kann. Mit der Kopplung solcher Leistungen an die Kaufkraft der Einzelnen wäre das nicht möglich.

Wie Bibliotheken, Schulen oder Universitäten stellen solidarisch finanzierte Gesundheitsdienste, kommunale Wasserwerke oder Krankenhäuser schützenswerte öffentliche Güter dar, ohne die gesellschaftliches Zusammenleben auf Dauer nicht möglich ist. Statt noch die letzten Bereiche des Lebens dem Kapitalzusammenhang zu unterwerfen, bedarf es der Schaffung und Absicherung einer Sphäre von Gemeingütern, die aufgrund ihrer Bedeutung für das menschliche Leben prinzipiell vor marktförmigen Bereicherungsprozessen geschützt werden muss. Gesundheit, Bildung, die Teilhabe an Kultur sind öffentliche Aufgaben, denen nur über steuer- bzw. umlagenfinanzierte Dienstleistungen entsprochen werden kann. So entscheidend demokratische Verhältnisse für die Gewährleistung der Freiheitsrechte sind, so notwendig bedarf die Verwirklichung des Rechts auf Gesundheit der Schaffung einer sozialen Infrastruktur, die allen kostenfrei - sozusagen als soziales Eigentum - zur Verfügung steht.

Die Idee einer sozialen Infrastruktur zielt nicht auf die Verstaatlichung der Gesellschaft, wohl aber auf die Re-Sozialisierung von Staat und Wirtschaft. Solche Veränderungen brauchen eine starke internationale Öffentlichkeit. Nicht ohne Grund haben Gesundheitsinitiativen in aller Welt damit begonnen, sich international, etwa im People Health Movement, zu vernetzen. Sie leisten Widerstand gegen die Privatisierungswelle, gründen Gesundheitskooperativen und solidarische Versicherungsvereine und streiten für die Einrichtung eines globalen Gesundheitsfonds: So unterschiedlich die jeweiligen Auseinandersetzungen auch sein mögen, verfolgen sie doch dasselbe Ziel: Es geht um die Verteidigung und Wiederaneignung von Gesundheit als öffentliches Gut, um den Erhalt und den Aufbau jenes sozialen Eigentums, ohne das weniger Vermögende und Arme dauerhaft vom Zugang zu Gesundheit ausgeschlossen wären.

Es ist gut, dass sich die WHO im letzten Jahr auf die Stärke der von ihr 1978 in Alma Ata verabschiedeten "Primary Health Care" - Strategie zurückbesonnen hat. Erstmals seit langem hat sie damit die Rolle eines bürokratischen Sachverwalters verlassen und zu den politischen Überlegungen zurückgefunden, die sie Ende der 1970er Jahre stark gemacht hatte. Noch allerdings ist die WHO weit davon entfernt, wieder der zentrale Ort der Erörterung und Gestaltung von globaler Gesundheit zu sein. Noch steht sie im Schatten der Welthandelsorganisation (WTO), der Weltbank, aber auch von philanthropischen Akteuren, wie der Gates-Stiftung, die alleine alljährlich etwa 800 Mio. Dollar für Gesundheitsförderung ausgeben kann, was in etwa dem Budget der WHO entspricht.

Es ist höchste Zeit, die Idee globaler Gesundheit wieder aus den Fängen von Wirtschaftsinteressen zu befreien und als global geteilte Verantwortung für das öffentliche Gut Gesundheit neu zu konstituieren. Ausdruck eines solchen Verständnisses von globaler Gesundheit könnte die Einrichtung eines "globalen Gesundheitsfonds" sein. Es geht dabei um ein internationales Finanzierungsinstrument, mit dem sich reichere Länder verpflichten, solange für die Gesundheitsbedürfnisse der ärmeren aufzukommen, wie diese dazu nicht aus eigener Kraft imstande sind. Die Umsetzung eines solchen Fonds, der sich im Unterschied etwa zu dem "Global Fund to Fight HIV, TB and Malaria" nicht auf freiwillige Zuwendungen, sondern auf völkerrechtlich bindende Beiträge gründet, scheitert nicht an technischen Voraussetzungen, sondern alleine am mangelnden politischen Willen. Doch auch die sozialen Errungenschaften, die in gesellschaftlichen Kämpfen in Europa durchgesetzt wurden, können auf Dauer nur verteidigt werden, wenn es gelingt, sie global auszuweiten. Angesichts des erreichten Globalisierungsgrades gibt es zur Globalisierung des Solidarprinzips keine Alternative. Und so bedeutet die Unterstützung von Selbsthilfeprojekten, die solidarische Versorgungsansätze entwickeln, ob in Bangladesh oder anderswo, mehr als Hilfe in der Not: In ihr liegt auch die Keimzelle für eine andere Globalisierung

Thomas Gebauer ist Psychologe und seit 1996 Geschäftsführer der Frankfurter Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen die Themen "globale Gesundheit", psychosoziale Versorgung sowie Krieg und Gewalt. 1991 war er Mitbegründer der später mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten "Internationalen Kampagne zum Verbot von Landminen".

Weitere Informationen zur Arbeit von medico international unter
www.medico.de

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 4/2010, Heft 179, Seite 25-30
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. September 2010

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