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ARTIKEL/1160: Gesundheitsgerecht ... Gesundheit und Gute Arbeit unter Druck (spw)


spw - Ausgabe 4/2010 - Heft 179
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

In und nach der Krise: Gesundheit und Gute Arbeit unter Druck

Von Klaus Pickshaus


Werden psychische Störungen wie Burnout zur Volkskrankheit des 21. Jahrhunderts? Psychisch verursachte Fehlzeiten steigen seit zehn Jahren steil an. Die Belastungen in der Arbeitswelt wandeln sich langfristig. Psychische Fehlbelastungen haben eine größere Bedeutung für Krankheiten von Beschäftigten. Dies reflektiert Veränderungen in den Rationalisierungsstrategien der Unternehmen mit widersprüchlichen Folgen. Arbeitskraftorientierte Managementkonzepte haben das Ziel, stärker auf Potentiale und Ressourcen der Arbeitskraft zuzugreifen, was zugleich Handlungsspielräume und Selbständigkeit in der Arbeit vergrößern kann. Doch was zuerst als humanisierungspolitischer Fortschritt erscheint, bringt auch Arbeiten ohne Ende und schleichenden Gesundheitsverschleiß.

Ökonomie der Maßlosigkeit

Die überfällige Überwindung tayloristischer Arbeitsorganisation durch Aufwertung der lebendigen Arbeit blieb in den letzten Jahren in einem Amalgam von Marktsteuerung, Renditevorgaben und Re-Taylorisierung stecken. Kalmbach und Schumann resümieren: "In der vom Finanzmarkt dominierten Denkweise und dem daraus abgeleiteten Shareholder-Value-Konzept und seiner Kurzfristökonomie ist eine systematische Vernachlässigung der Human-Ressourcen erfolgt."(1)

Die Orientierung an maßlosen Renditezielen hat einen Steuerungs- und Kontrollmodus etabliert, der nicht nur eine Ökonomie der kurzen Frist, sondern auch maßlose Anforderungen in der Arbeit zur Folge hat. Eine nachhaltige Krisenüberwindung im Interesse der abhängig Beschäftigten muss deshalb auch diesen Zusammenhang thematisieren. Die unmittelbaren Folgen für Gesundheit und Gute Arbeit liegen auf der Hand, wenn es nicht gelingt, Alternativen zur Ökonomie der Maßlosigkeit durchzusetzen.

Arbeitspolitischer Problemstau

Durch die massive Ausweitung von Kurzarbeit und die Nutzung von Arbeitszeitkonten konnte trotz Krise eine Beschäftigungskatastrophe weitgehend verhindert werden. Doch was arbeitsmarktpolitische Probleme zunächst gelöst hat, könnte den arbeitspolitischen Problemdruck erhöhen. Sicher haben Mitte 2010 viele Betriebe die Krise längst nicht überwunden. Zugleich gewinnt mit längerer Krisendauer in immer mehr Unternehmen Rationalisierung und Kostensenkung die Oberhand. Eine IAB-Erhebung zeigt, dass die Mehrheit mehr noch als durch Entlassungen die Kosten durch Umstrukturierungen senken will (IAB-Kurzbericht 18/2009). Zu befürchten ist: Die Restrukturierungsprogramme werden auf tiefe Einschnitte in Beschäftigungs-, Arbeits- und Sozialstandards zielen.

Der HIRES-Report einer EU-Expertengruppe "Gesundheit und Restrukturierung" prognostiziert: "In der momentanen Wirtschaftskrise könnten die potentiellen Auswirkungen von Restrukturierung auf die Gesundheit sogar Ausmaße einer Pandemie annehmen." Restrukturierungen führten zu "Unsicherheiten und Irritationen auf allen Ebenen" und würden als "sozialer Krieg" wahrgenommen werden. Deshalb sollten "die Gewerkschaften Restrukturierungen als Risikopotential für die Gesundheit der Beschäftigten identifizieren."(2)

Befunde dazu vermitteln zahlreiche Studien der letzten Jahre. Sie entstanden zumeist noch vor der Krise. Dennoch geben sie einen Eindruck davon, was auf Beschäftigte, betriebliche Interessenvertretungen und Gewerkschaften zukommt.

Arbeit unter permanentem Ökonomisierungsdruck

Der Druck durch die finanzmarktorientierte Unternehmenssteuerung wird auch durch Befunde der WSI-Betriebsrätebefragung 2008/2009 bestätigt:(3)

  • 42% der befragten Betriebsräte haben Erfahrung mit permanenten Umstrukturierungen und Auslagerungen. Hieraus ergibt sich offenkundig ein geschärfter Blick auf die dadurch ausgelösten Folgen für die Arbeitsbedingungen.

  • 79% der Betriebsräte geben an, dass die psychischen Belastungen in den letzten drei Jahren zugenommen haben und 26% nehmen eine Zunahme auch körperlicher Belastungen wahr.

  • 84% der Betriebsräte konstatieren, dass die Belegschaften unter ständig hohem Zeit- und Leistungsdruck stehen. Am stärksten von allen Beschäftigtengruppen sind davon mit 76% die mittleren Angestellten mit Fachausbildung betroffen. Das sollte gewerkschaftlich aufgegriffen werden.

  • Als Arbeitsstress auslösende Faktoren wurden identifiziert: Eine zu enge Personaldecke mit 84%, eine zu hohe Eigenverantwortung mit 79% und der Kundendruck mit 75%.


Psychische Belastungen und Erkrankungen nehmen zu

Im ersten Halbjahr 2009 veröffentlichten mehrere Krankenkassen Studien zur gesundheitlichen Lage der Versicherten. Deren Daten wurden zwar in der Regel 2008 vor der Krise erhoben, verweisen aber übereinstimmend auf brisante Problemkomplexe.(4) Sie zeigen einen hohen Arbeits- und Leistungsdruck auf, der sich in psychischen und psychosomatischen Erkrankungen niederschlägt. Durch die Krise und die sich ausbreitende Jobangst nehmen solche gesundheitsschädigende Belastungen zu.

Eine Studie "Gesundheit am seidenen Faden. Zur Gesundheits- und Belastungssituation in der IT-Industrie" resümiert: "In Unternehmen mit einer besonders ausgeprägten Belastungskonstellation erleben sich mehr als 50% der Befragten immer wieder an der Grenze ihrer Belastbarkeit bzw. haben diese Grenze in Form eines gesundheitlichen Zusammenbruchs schon einmal erfahren. ... Die mittlerweile auch in den Medien diskutierte Zunahme von Stress und Burnout bildet gegenwärtig nur die sichtbare 'Spitze des Eisbergs'. Sie weist darauf hin, dass sich unter der 'Oberfläche' die Belastungssituation in der IT-Branche grundlegend verschärft hat und damit die Gesundheitsproblematik eine neue Bedeutung gewinnt."(5) Als Belastungsfaktoren, die über die IT-Industrie hinaus Gültigkeit haben, werden genannt die häufigen Reorganisationen, die die Beschäftigten verunsichern und sozial entwurzeln, und eine Leistungsverdichtung, die zunehmend auf alternde Belegschaften trifft.

Andere Studien belegen, dass es sich hierbei nicht um exklusive Probleme der IT-Branche handelt. So ermittelte eine repräsentative Befragung im Januar 2009 (Stichprobe ca. 1000 Personen), die die Techniker Krankenkasse für ihren "Kundenkompass Stress" in Auftrag gegeben hatte, dass jede/r dritte Berufstätige (33%) bis ans Limit arbeitet. Als Ursachen werden neue Managementkonzepte der "Selbstorganisation" und unklare Zielvorgaben geortet. Auch die im Rahmen der IG Metall-Kampagne "Gemeinsam für ein gutes Leben" durchgeführte Beschäftigtenbefragung, an der sich 2009 - also schon in der Krise - über 450.000 Menschen beteiligten, verweist auf die große Bedeutung der Gesundheit für die Beschäftigten. An zweiter Stelle nach dem Wunsch nach sicheren Arbeitsplätzen erhält der Anspruch an eine "Arbeit, die nicht krank macht" mit 84,3% die höchste Zustimmung. Die Beschäftigten sprechen sich also für gute und gesunde Arbeit aus.


Der DGB-Index bestätigt den Wunsch nach Guter Arbeit

Schließlich bestätigt auch der aktuelle DGB-Index Gute Arbeit mit Anfang 2009 repräsentativ erhobenen Daten die Befunde der IG Metall-Umfrage.(6) Jeder Siebente gab an, dass er fast täglich unter Erschöpfung leidet. Der Anspruch auf gute Arbeit hat hohe Priorität. Allerdings bewertet ein Drittel der Beschäftigten seine derzeitigen Arbeitsbedingungen als schlecht, bei den prekär Beschäftigten sind es sogar 48%. Und nur jede/r zweite Beschäftigte geht davon aus, unter gegenwärtigen Bedingungen gesund bis zum Rentenalter arbeiten zu können. Auch der Zusammenhang zwischen Jobangst und gesundheitsproblematischem Verhalten lässt sich aus der Befragung des DGB-Index Gute Arbeit eindeutig belegen. Danach sind 78% der Beschäftigten in den letzten zwölf Monaten mindestens einmal krank zur Arbeit gegangen, insgesamt 50% sogar mehrmals. 36% der Beschäftigten haben dabei (einmal oder mehrmals) entgegen dem ärztlichen Rat gehandelt. Bei denjenigen, die in hohem Maße Angst um den Arbeitsplatz haben, sind es 71%, die mehrmals im Jahr krank am Arbeitsplatz erschienen.


Gesundheit und Arbeit - ein Konfliktfeld

Alle Befunde sprechen dafür, dass in der Krise nicht nur Grenzen einer Ökonomie der Maßlosigkeit, sondern auch Zeichen der Überforderung der Menschen durch überlange Arbeitszeiten, Verdichtung der Arbeit und Grenzen von Motivation und Engagement sichtbar werden. Insbesondere der Druck auf Kranke scheint so stark, dass die registrierten Fehlzeiten, die auf einem historischen Tiefstand liegen, keinen Aufschluss mehr über den tatsächlichen Gesundheitszustand geben. "Präsentismus" - also krank zur Arbeit zu gehen - ist zu einem relevanten Problem geworden.

Spitzen sich die Belastungen und Zumutungen zu, droht der "seidene Faden der Gesundheit" zu reißen. Das kann aber auch bedeuten: Das Ringen um Gesundheit in der Arbeit wird aller Voraussicht nach zu einem zentralen Konfliktfeld, in dem erhebliche Widerstandspotenziale gegen die Zumutungen der Shareholder-Ökonomie liegen. Möglicherweise können die Beschäftigten trotz Krise aktiviert werden, wenn ihre Gesundheit permanent bedroht ist.


Gesundheitsschutz kann einer selbstbewussten Arbeitspolitik Impulse geben

Für Widerstandspotenziale, die für eine offensive Arbeitspolitik genutzt werden können, gibt es erste Hinweise. Becker u.a. beobachten in einer Analyse von Krisenunternehmen, dass die Beschäftigten nach den Erfahrungen dauerhafter Bedrohungen und nunmehr unter dem Damoklesschwert der Arbeitslosigkeit bewusster mit der eigenen Gesundheit ressourcenorientiert umgehen.(7) Die drohende Perspektive, künftig "wieder auf dem Arbeitsmarkt zu sein", bewege die Beschäftigten dazu, ihre Gesundheit nicht weiterhin schrankenlos in den Dienst des Unternehmens zu stellen, sondern eine "individuelle Selbstbewirtschaftung" zu betreiben, bei der sie auf den Erhalt ihrer Arbeitskraft und deren Reproduktionsbedingungen achten. Voraussetzung für die Aktivierung eines solchen Widerstandspotenzials sei jedoch die kontinuierliche Verankerung des Gesundheitsschutzes im Betrieb.

Für eine arbeitskraftzentrierte gewerkschaftliche Arbeitspolitik könnte es wichtig sein, Widerstandspotenziale zum Erhalt von Gesundheit und Arbeitsfähigkeit zu stärken, damit Beschäftigte ihre autonomen Interessen artikulieren und zur Gegenmacht fähig werden.(8) Zugleich könnte sie die gesundheitsförderlichen Potenzen der Beschäftigten stärken. Denn eigenes Engagement zum Erhalt der Gesundheit, Widerstand gegen die Zumutungen der Ökonomie und selbstaktives Einwirken auf die unmittelbare Arbeitsumwelt stärken ihrerseits die Ressourcen der Betroffenen, mit denen sie Belastungen besser abfedern können. Kollegialität und Solidarität, Konfliktfähigkeit und Widerstandskraft müssen zu einer "sozialen Reformbewegung"(9) für gesundheitsförderliche Arbeit zusammengebunden werden. Dies ist Anliegen der Initiative Gute Arbeit der IG Metall.

Klaus Pickshaus ist Leiter des Bereichs Gesundheitsschutz und Arbeitsgestaltung beim Vorstand der IG Metall.


Anmerkungen:

(1) Peter Kalmbach/Michael Schumann, Finanzkrise als Schocktherapie, in: WSI-Mitteilungen 11+12/2008, S. 637.

(2) EU-Expertengruppe (Th. Kieselbach u.a.) (2009), Gesundheit und Restrukturierung. Innovative Ansätze und Politikempfehlungen, München und Mehring, S. 13-25

(3) Vgl. E. Ahlers: Arbeitsbedingungen von Beschäftigten in Betrieben mit ergebnisorientiert gesteuerten Arbeitsformen, in: WSI-Mitteilungen Heft 7/2010, S. 350ff.

(4) Dazu zählen u. a. DAK, Gesundheitsreport 2009. Analyse der Arbeitsunfähigkeitsdaten. Schwerpunktthema Doping am Arbeitsplatz, Februar 2009; Barmer Ersatzkasse, Barmer Gesundheitsreport 2008, Wuppertal o. J.; Techniker Krankenkasse, Kundenkompass Stress, Hamburg, Mai 2009; BKK Bundesverband, BKK Gesundheitsreport 2008. Seelische Krankheiten prägen das Krankheitsgeschehen, Essen, Oktober 2008; WIdO - Wissenschaftliches Institut der AOK, Pressemitteilung vom 25. Februar 2009: Psychische Erkrankungen weiterhin auf dem Vormarsch; iga-Fakten 1 - 2009 (Psychische Gesundheit im Erwerbsleben), Oktober 2008.

(5) A. Boes/T. Kämpf/K. Trinks, Gesundheit am seidenen Faden, in: ver.di (Hrsg.), Hochseilakt. Leben und Arbeiten in der IT-Branche - ein Reader -, Berlin 2009, S. 53/54.

(6) www.dgb-index-gute-arbeit.de.

(7) K. Becker/U. Brinkmann/T. Engel, Gesundheit in der Krise, Reaktionsweisen von Beschäftigten im Umgang mit der Wirtschaftskrise, in: Widerspruch Heft 56, 2009, S.79-92.

(8) Vgl. hierzu K. Pickshaus/H.-J. Urban, Krisenopfer Gute Arbeit? Gewerkschaftliche Arbeitspolitik in der Krise des Finanzmarkt-Kapitalismus, in: L. Schröder/H.-J. Urban (Hrsg.): Gute Arbeit. Handlungsfelder für Betriebe, Politik und Gewerkschaften, Frankfurt 2010, S. 39ff.

(9) R. Rosenbrock, Gesundheitspolitik, in: Hurrelmann, K./Laaser, U./Razum, O. (Hrsg.)(2006): Handbuch Gesundheitswissenschaft. 4., vollst. überarb. Aufl., Weinheim/München, S.1079-1116, hier S. 1099.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 4/2010, Heft 179, Seite 31-34
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. September 2010

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