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MEINUNG/052: Pharmakologie - Der Kranke, sein Arzt und die Therapie (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 10/2009

Der Kranke, sein Arzt und die Therapie(*)

Von Karlheinz Engelhardt


Was erwartet der Patient von seinem Hausarzt? Gutes medizinisches Wissen und Können, er wünscht gleichzeitig, dass der Arzt an seinem Problem interessiert ist und ihm seine Symptome erklärt. Es gibt Umfragen zu dem Thema "Was erwarten Sie vom Arzt?" Am häufigsten wurde Menschlichkeit genannt, gefolgt von Kompetenz und Genauigkeit (1).

Ich möchte hier vor allem zwei Dinge zur Sprache bringen: Das eine ist, dass der Arzt lebenslang von einer unabhängigen Pharmakologie lernen sollte, um die richtigen Medikamente mit der angemessenen Dosis und mit möglichst wenigen Nebenwirkungen zu verordnen. Eine solche Pharmakologie bewahrt auch vor unnötigen Stoffen und vor einer einengenden Medikalisierung.

Das zweite ist die Tatsache, dass die Erfolge der Therapie durch eine patientzentrierte Vorgehensweise gesteigert werden. Medikamente werden im Kontext der Arzt-Patient Beziehung verordnet.


Der Beitrag der Pharmakologie zu einer vernünftigen Therapie

Glücklicherweise befinden wir uns nicht mehr im therapeutischen Nihilismus des 19. Jahrhunderts, wo einem Schwerkranken von Skoda, dem Internisten der Wiener Schule, die Diagnose gestellt wurde, die wenig später von dem Pathologen Rokitansky bestätigt wurde (2). Wir haben heute eine Vielfalt von wirksamen Stoffen, ja sogar eine Überfülle, so dass wir die Hilfe einer unabhängigen Pharmakologie brauchen. Von 1998 bis 2002 erschienen auf dem USA-Markt 415 neue Medikamente, davon waren 77% Nachahmer-, sog. "me-too"-Präparate. Mit ihnen, z. B. mit Statinen, Protonenpumpenhemmern, Antirheumatika, wollen Konkurrenzunternehmen einen Marktanteil erobern (3). Ärztemuster und von der Industrie gesponserte Fortbildungen sind Mittel, um Ärzte auf neu zugelassene und teure Medikamente einzustimmen.

Der Pharmakologe Heinz Lüllmann hat mit seinen pharmakologischen Lehrbüchern, mit seinen Vorlesungen und mit der "Disputatio Pharmakologica" ganz wesentlich dazu beigetragen, Achtung und Respekt vor den verordneten Arzneistoffen zu erzeugen. Dadurch wird uns bewusst, dass jedes wirksame Mittel einen komplexen Eingriff in den kranken Organismus bedeutet. Wir müssen Nutzen und Risiko jeder Therapie genau abwägen. Nicht jedes neue Medikament, das mit großem Werbeaufwand auf den Markt gebracht wird, hält das Versprechen wie die jüngere Geschichte des Lipidsenkers Cerivastatin und des Antirheumatikums Rofecoxib zeigt.

Ein verwirrendes Überangebot des deutschen Arzneimittelmarktes ist zu kritisieren. Bereits 1999 heißt es in der Zeitschrift der "Berliner Ärzte" mit Recht (4), dass mehr als 50% der Medikamente in der "Roten Liste" zweifelhaften Wert haben. Mutig wurde hier ausgesprochen, dass die meisten Analog-Substanzen überflüssig sind. Medikamentöse Fortbildung darf nicht der Pharmaindustrie überlassen werden. Sie ist Aufgabe einer kritischen und unabhängigen Pharmakologie, die eine rationale, wirksame und preisgünstige Therapie vermittelt. Diese Einstellung trägt zur Arzneimittelsicherheit bei.

Ärzte, die sich von der Pharmakologie objektiv beraten lassen, verordnen nicht zu viele und gehen nicht zu schnell auf neue Medikamente über, die der letzte Pharmareferent und die letzte Firmen-gesponserte Fortbildungsveranstaltung empfohlen haben. Durch eine Beachtung der Pharmakologie sind "Arzneimittelkaskaden" (5) zu vermeiden, die z. B. so verlaufen: Ein Thiaziddiuretikum verursacht eine Hyperurikämie, die mit Allopurinol behandelt wird anstatt die Thiaziddosis zu reduzieren oder Metoclopramid führt zu Parkinson-Symptomen, die Levodopa nach sich ziehen anstatt Metoclopramid abzusetzen, bzw. durch ein geeigneteres Antiemetikum zu ersetzen.


Patientzentrierte Therapie

Verordnete Medikamente - ein Analgetikum, ein Bronchodilatator, ein Antianginosum - haben neben spezifischen auch unspezifische Wirkungen. Sprechen in einer Studie 50% Depressiver auf das Placebo, 60% auf ein neues Antidepressivum an, so beträgt der spezifische Nettoeffekt für das Antidepressivum 10% (6). Das zeigt die Macht des Placeboeffekts. Patientenzentrierte Therapie bedeutet, sich bewusst zu machen, dass jedes Pharmakon zwei qualitativ völlig verschiedene Botschaften vermittelt (7): Eine chemische Botschaft, die aus der gewünschten molekularen Wirkung und einer möglichen Nebenwirkung besteht und zweitens einer psychosozialen Botschaft, die günstige Placebo- oder ungünstige Noceboeffekte verursacht. Wie kann der Arzt günstige Kontexteffekte schaffen, damit es zu einer positiven psychosozialen Botschaft kommt? Durch eine freundliche und gelockerte Atmosphäre, durch emotionelle Unterstützung und durch Erklärung von Krankheit und Therapie.

Ungefähr 50% der Medikamente, die Patienten mit chronischen Krankheiten verordnet sind, werden nicht richtig genommen (8). Viele Kranke fühlen sich mangelhaft informiert, fürchten sich vor Nebenwirkungen oder haben eigene Meinungen über Pharmaka. Der Patient will vom Sinn der Therapie überzeugt und nicht mit dem Beipackzettel allein gelassen werden.

Nur 57% der nach einem Herzinfarkt aus der Klinik Entlassenen verstanden den Sinn ihrer Arzneimittel (9). Das ärztlich pharmakologische Wissen sollte im Gespräch darauf abzielen, Ängste vor der Chemie eines Stoffes abzubauen. Eine Therapie wird dann akzeptiert, wenn sie überzeugend erklärt wird. Dazu ist die ärztliche Kunst nötig, die Wissenschaftssprache Pharmakologie in verständliches Umgangsdeutsch zu übersetzen. Viele Patienten wollen wissen, wie ein Betablocker, Kalziumantagonist oder Antidepressivum wirken. Vielleicht ist der Begriff der Compliance, wenn man ihn mit Gefügigkeit übersetzt, ein wenig zu paternalistisch und Arzt-zentriert. Es sollte mehr und verständlicher über Therapie gesprochen werden, damit es zu einer wirklichen Übereinstimmung zwischen Patient und Arzt kommt. Wenn ein chronisch Kranker von seiner Therapie überzeugt ist, bleibt er bei ihr. Patientzentrierte Therapie heißt, ein Medikament so zu vermitteln, dass es sowohl angenommen wird als auch besser wirkt.


Nicht jedes Gesundheitsproblem braucht eine Pille

50 bis 70% der Arztbesuche führen zu einem Rezept (10). Neben Pillenfeinden gibt es Pillengläubige, die glauben, für jede Beschwerde und jedes Symptom sei ein Medikament angebracht: Für besseres Gedächtnis, gegen Lampenfieber, für albtraumlosen Schlaf und den Erhalt der Jugend. Seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts galt vielen die Menopause als unnatürlich und wurde bei Millionen Frauen bis ins Alter mit einer Hormonersatztherapie behandelt. Inzwischen sind wir über die Risiken dieser Behandlung besser informiert.

Ein besorgter Patient mag bei einem Virusinfekt Antibiotika verlangen, die nichts nützen, aber Nebenwirkungen verursachen können und resistente Keime züchten.

Ein von einer rational denkenden Pharmakologie geschulter Arzt wird auch nicht im Rahmen fragwürdiger individueller Gesundheitsleistungen (IGeL) Vitaminspritzen, "Vital- und Aufbaukuren" anbieten, wodurch der Arzt zu einem Verkäufer und der Patient zu einem Kunden wird.

Die Pharmakologie erzieht dazu, so wenig wie möglich und so viel wie nötig Arzneimittel zu verordnen. Jeder kennt den Fall, wo ein älterer Patient in die Klinik kommt, der einen großen Beutel voller Tablettenschachteln mitbringt und dessen Beschwerden sich nach dem Absetzen dieser Tabletten dramatisch bessern.

Das Rezept sollte nicht ein Mittel sein, die Sprechstunde schnell zu beenden. Wichtig ist auch die Beratung, z. B. über die Reduktion von Stress, den richtigen Lebensstil mit angemessener Diät und körperlicher Bewegung oder über Verhaltensstrategien bei Schlafstörungen.

Medikamente können viel, aber unrealistische Erwartungen führen zu einer Übertherapie und zu einer unnötigen Medikalisierung des Lebens. Ein kritischer Arzt gibt indizierte Pharmaka und vermeidet Übertherapie und Medikalisierung. Nicht alle Pillenwünsche eines Patienten sind zu erfüllen. Es ist aber wichtig, nicht mit barschen Worten abzulehnen, sondern zu erklären, warum ein Medikament keinen Nutzen bringt und welche nichtmedikamentösen Alternativen bestehen.


Die Moral von der Geschichte

Als Schulmediziner, der nie alternative Methoden benutzte, beobachte ich seit langem die große Popularität der alternativen Medizin (11, 12). Diese Popularität hat etwas mit der Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit zu tun. Der Begriff Ganzheitlichkeit darf aber kein missbrauchtes Modewort für eine spezielle alternative Methode sein. Er ist vielmehr der Imperativ, nicht nur die Krankheit als Objekt, sondern auch den Patienten als Person zu berücksichtigen.

Der Arzt hat eine schwere und gleichzeitig schöne Aufgabe: Er muss Naturwissenschaft und Pharmakologie einerseits, teilnehmende Betreuung des Kranken andererseits verbinden, damit der angemessene Arzneistoff in der richtigen Dosis auch vertrauensvoll und damit wirksamer genommen wird (13). Deshalb sollten beide, Pharmakologie und patientzentrierte Medizin, Hand in Hand gehen und eine therapeutische Allianz bilden. Pharmakologie braucht patientzentrierte Medizin, damit Medikamente glaubhaft vermittelt werden. Patienzentrierte Therapie braucht gute Arzneimittel. Vereint ist die Behandlung effektiver, der Krankheitsverlauf günstiger und der Patient zufriedener. Ich bin mir sicher, dass dann die alternative Medizin weniger populär wäre.

(*) Herrn Prof. Dr. Heinz Lüllmann gewidmet


Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Karlheinz Engelhardt,
Jaegerallee 7, D-24159 Kiel


Literatur:

  1. Coulter A. What do Patients and the public want from primary care?
      BMJ 2005; 331: 1199-1201
  2. Herken H, Abshagen U. Die Beurteilung des therapeutischen Wertes von Arzneimitteln -
      eine Aufgabe der klinischen Pharmakologie. Internist 1986; 27: 3-12
  3. Angell M. Der Pharmabluff - Wie innovtiv die Pillenindustrie wirklich ist. Kom Part Verlag, Bonn 2005
  4. Lüllmann H. Nachdenkliches zum Arzneimittelmarkt. Berliner Ärzte 1999; 7: 28-29
  5. Rochon PA, Gurwitz JH. Optimising drug treatment for elderly people: the prescribing cascade.
      BMJ 1997; 315: 1096-1099
  6. Engelhardt K. Ethische Probleme der Placebobenutzung. Dtsch Med Wochenschr 2004; 129: 1939-1942
  7. Habermann E. Wappen schlägt Zahl. Die biologische Grundlage des Placebo und Nocebo. Futura 1996; 3: 178-188
  8. Marinker M, Shaw J. No to be taken as directed. BMJ 2003; 326: 348-349
  9. Calkins DR, Davis RB, Reiley P et al. Patient-physician communication at hospital discharge
      and patients-understanding of the postdischarge treatment plan.
      Arch Intern Med 1997; 157: 1026-1030
10. Pickering WG. Does medical treatment mean patient benefit? Lancet 1996; 347: 379-380
11. Engelhardt K. Alternative Medizin. In Kranke Medizin. Das Abhandenkommen des Patienten.
      Agenda, Münster 1999: 102-112
12. Engelhardt K. Ist alternative Therapie nur Placebotherapie? Nicht konventionelle Behandlungsmethoden
      unter besonderer Berücksichtigung von Homöopathie und Akupunktur.
      Internist. Prax. 2007; 47: 615-624
13. De Craen AJM. The placebo effect and health: combining science and compassionate care. BMJ 2006; 332: 243.


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 10/2009 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2009/200910/h091004a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Oktober 2009
62. Jahrgang, Seite 30 - 31
(Der Schattenblick veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung
des Autors die ungekürzte Originalfassung des Beitrags.)
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. November 2009