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POLITIK/1669: Vorschläge für ein verlässliches Gesundheitswesen (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 6/2009

Vorschläge für ein verlässliches Gesundheitswesen

Von Dirk Schnack


Verlässlich, solidarisch, gerecht: Ein Gesundheitssystem unter diesen Vorzeichen hat sich eine Arbeitsgruppe um den Kieler Gesundheitsökonomen Prof. Dr. Fritz Beske als Ziel gesetzt. Das Ergebnis, die gesundheitspolitische Agenda 2009, stellten sie vergangenen Monat in Berlin vor.

"Bekomme ich, wenn ich ernsthaft erkrankt bin, noch die notwendige Hilfe?" Diese Frage stellen sich vor dem Hintergrund der zunehmenden Diskussion über die steigenden Kosten des Gesundheitssystems immer mehr Menschen in Deutschland. Die Arbeitsgruppe um Beske (Dr. Franz Bartmann, Dr. Ulrich Thamer, Dr. Peter Froese, Ralf Büchner, Peter Knüpper) hat auf 150 Seiten detaillierte Vorschläge unterbreitet, wie diese Frage auch künftig mit "Ja" beantwortet werden kann. Warum aber diskutiert Deutschland überhaupt über die Zukunft eines der anerkanntesten und leistungsfähigsten Gesundheitssysteme? Die Bevölkerungsentwicklung und der medizinische Fortschritt, stellen die Autoren klar, lassen gar keine andere Wahl. Denn die Auswirkungen beider Entwicklungen würden den Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung von heute 15,5 auf mindestens 27 Prozent steigen lassen - eine für die Beitragszahler unzumutbare Belastung. "Ein derartiger Beitragssatz wird weder von der Bevölkerung noch von der Politik akzeptiert. Beitragssätze in dieser Größenordnung sind nicht realisierbar", stellten sie fest. Mit Einzelmaßnahmen sei dieses Problem nicht zu lösen, erforderlich sei vielmehr ein durchgängiges Konzept. Als alternative, sich gegenseitig ausschließende Handlungsoptionen für die künftige Gestaltung der Gesundheitsversorgung stehen der Politik nach Ansicht der Autoren zur Verfügung:

1. Bekenntnis zum KV-System mit allen Konsequenzen und Rücknahme aller Regelungen, die die Arbeitsfähigkeit der KVen beeinträchtigen.

2. Etablierung eines anderen, ebenfalls durchgängigen Kollektivvertragssystems ohne Körperschaften des öffentlichen Rechts.

3. Ablösung der Versicherungspflicht durch eine Pflicht zur Versicherung mit Markt und Wettbewerb als übergreifendes Prinzip und damit Aufgabe einer organisierten Gesundheitsversorgung.

4. Staatsmedizin mit zentral regulierter und kontrollierter
Gesundheitsversorgung.

5. Weiterentwicklung der beiden letzten Gesundheitsgesetze mit unklarer Zielvorgabe. Als Ergebnis vermutet die Arbeitsgruppe ein staatlich reguliertes Hausarztsystem.

Die Verfasser der Agenda fordern von der Politik, sich klar zu einer dieser Optionen zu bekennen. Sie selbst halten nur ein Kollektivvertragssystem für geeignet, die Gesundheitsversorgung auch künftig bedarfsgerecht und an den jeweiligen finanziellen Möglichkeiten orientiert sicherzustellen. Die Gruppe definierte drei Gesundheitsziele, an denen die Politik künftig ihre gesetzgeberischen Maßnahmen auszurichten hat:

1. Versorgungssicherheit für den Patienten auch im Alter.
2. Planungssicherheit für den Leistungserbringer.
3. Medizinischer Fortschritt für alle.



gesamt
0-19 Jahre
20-64 Jahre
ab 65 Jahre
Heute: Bevölkerungszahl in Millionen
­2050: Bevölkerungszahl in Millionen
82
69
16
10
50
35
16
23

Die ordnungspolitischen Grundsätze der Arbeitsgruppe orientieren sich an den Grundprinzipien "dezentral statt zentral", "Schutz der Freiberuflichkeit" und "Erhalt der freien Arztwahl". Im Folgenden einige konkrete Vorstellungen:

• Finanzierung der GKV: weiterhin solidarische Finanzierung durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Der Staat entlastet die GKV von den versicherungsfremden Leistungen; damit werden rund 48 Milliarden Euro frei. Versicherte leisten weiterhin Zuzahlungen. Der bisherige Solidaritätszuschlag wird in gleicher Höhe als Demografiezuschlag zur Einkommenssteuer der Krankenversicherung zugeschlagen.

• Die Krankenkassen erhalten ihre Finanz- und Gestaltungshoheit auf regionaler Ebene zurück. Wahltarife, die der Kasse Finanzmittel entziehen, werden abgeschafft. Auch der Spitzenverband Bund der Krankenkassen, der staatlich festgesetzte Beitragssatz und die Morbiditätsorientierung im Risikostrukturausgleich werden abgeschafft.

• Leistungskatalog der GKV: Der schon heute unterfinanzierte Leistungsumfang kann bei kontinuierlich sinkenden Einnahmen nicht aufrecht erhalten werden. Die Gruppe fordert eine öffentliche Diskussion über den Leistungsumfang, über Prioritäten, Streichungen und Zuzahlungen. Die für eine bedarfsgerechte Versorgung erforderlichen Leistungen sind Grundleistungen, die vollständig über die GKV abgedeckt werden. Zusatzleistungen müssen vom Versicherten direkt bezahlt werden.

• Zuzahlungen: Die Gruppe schlägt u. a. vor, die bisherige Praxisgebühr von zehn Euro künftig erst ab dem vierten Praxisbesuch im Quartal zu erheben. Für jeden Hausbesuch sollen zehn Euro an den Arzt gezahlt werden. Die Zuzahlungsregelung bei Arzneimitteln wird ersetzt durch eine Kombination aus fester Zuzahlung von fünf Euro und einer prozentualen Zuzahlung von zehn Prozent der Differenz zum Apothekenabgabepreis, maximal 20 Euro. Die Härtefallregelung für chronisch Kranke entfällt.

• Vertragsärztliche Versorgung: Aufhebung der Selektivverträge zur hausarztzentrierten Versorgung und ein vereinfachtes Honorarsystem, das die Versorgungsqualität und Patientengespräche fördert. In den KVen wird der hauptamtliche durch einen ehrenamtlichen Vorstand mit hauptamtlicher Geschäftsführung ersetzt.

• Private Krankenversicherung: Der Basistarif wird abgeschafft, die Wartezeit für freiwillig Versicherte zum Wechsel in die PKV von drei Jahren auf ein Jahr zurückgeführt. Die Versicherungspflichtgrenze wird abgeschafft.

• Der Gemeinsame Bundesausschuss wird als oberstes Organ der gemeinsamen Selbstverwaltung in seiner Entscheidungsbefugnis gestärkt, indem das Bundesgesundheitsministerium in seiner Rechtsaufsicht begrenzt wird - ohne die Möglichkeit, eine Genehmigung mit Auflagen zu verbinden.

Wie schwer sind solche Vorschläge, die die Belastungen für die Bürger deutlich erhöhen, durchzusetzen? Die Schlussbemerkung der Autoren macht klar, dass dafür politischer Wille unerlässlich ist: "Mit der gleichen politischen Energie und der gleichen politischen Dialektik, mit der die jüngste Gesundheitsgesetzgebung durchgesetzt worden ist, wird es auch gelingen, einen anderen Weg in der Gesundheitsversorgung zu gehen, wenn dies politisch so gewollt wird."

Die zu erwartende Kritik an den teils unpopulären Maßnahmen setzte unverzüglich ein. Thomas Wortmann, Landesgeschäftsführer der Barmer Ersatzkasse im Norden, sprach von einer "Gruppe von Lobbyisten", denen er "ständige Nörgeleien über angeblich unnötige Ausgaben" vorwarf. Prof. Beske, so Wortmann weiter, habe sich vor den Karren der Lobby spannen lassen. Diesen Vorwurf wies Kammerpräsident Dr. Franz Bartmann zurück: "Natürlich erhebt dieses Konzept nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, und einige der Vorstellungen werden sich vermutlich auch nicht umsetzen lassen. Aber immerhin ist es der Versuch einer Gesamtkonzeption für den Fortbestand einer solidarischen Krankenversicherung, die nicht gezielt unbequeme Teilaspekte einfach ausblendet, sondern die tatsächliche Situation aufgrund solider Analysen ungeschönt darstellt und Auswege aufzuzeigen versucht, bevor es dafür vielleicht zu spät ist!"


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 6/2009 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2009/200906/h090604a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
Foto: Prof. Dr. Fritz Beske (Foto)
Foto: Dr. Franz Bartmann


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Juni 2009
62. Jahrgang, Seite 50 - 51
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-119, -127, Fax: -188
E-Mail: aerzteblatt@aeksh.org
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. August 2009