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RECHT/476: Die Alternativen des geschädigten Patienten - Richter oder Schlichter? (Johann Neu)


Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern

Die Alternativen des geschädigten Patienten: Richter oder Schlichter?

Von Johann Neu


Bei jeder ärztlichen Behandlung kann es zu unerwünschten Ereignissen oder Ergebnissen kommen, die gemeinhin als Komplikationen bezeichnet werden. In Gesprächen zwischen Patient und Arzt ist es oftmals nicht möglich, einen Konsens darüber zu finden, ob die eingetretene Komplikation die Folge eines Behandlungsfehlers darstellt, oder ob sie eingetreten ist, obwohl der Arzt richtig gehandelt hat. Letztlich geht es um die Frage, ob Schadenersatzansprüche bestehen. Dies erfordert eine medizinische und juristische Bewertung.


Die rechtlichen Grundlagen

Die zivilrechtliche Haftung des Arztes ist in Deutschland im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) geregelt. Es gelten die allgemeinen Regeln des Bürgerlichen Rechts. Spezialgesetzliche Regeln, ausschließlich auf die ärztliche Behandlung bezogen, enthält das BGB nicht. Die Ausgestaltung der rechtlichen Beziehungen zwischen Patient und Arzt erfolgt daher in erster Linie durch die Vorgaben der im Laufe der Zeit entstandenen Rechtsprechung.

Ein Schadenersatzanspruch des Patienten ist dann begründet, wenn ein Behandlungsfehler und ein darauf zurückzuführender Gesundheitsschaden bewiesen werden kann. Liegt ein Aufklärungsmangel vor und ist der ärztliche Heileingriff deshalb nicht von einer wirksamen Patienteneinwilligung gedeckt, haftet der Arzt auch bei fehlerfreier Behandlung, wenn eine Komplikation auftritt, für die er bei korrekter Aufklärung nicht haften würde.


Die zivilprozessuale Situation

Die Beweislastverteilung im Arzthaftungsrecht ist grundsätzlich so, dass die Patientenseite zunächst einen Behandlungsfehler des Arztes zu beweisen hat. Ist der Beweis eines Behandlungsfehlers gelungen, hat der Patient darüber hinaus auch die Kausalität zwischen Behandlungsfehler und Schaden zu beweisen. Dieser Beweis ist oft schwer zu führen, weil das Krankheitsrisiko und der Behandlungsfehler in vielen Fällen in dieselbe Schädigungsrichtung zielen.

Geht es allerdings um die Frage, ob eine ordnungsgemäße Aufklärung stattgefunden hat, trifft die Beweislast den Arzt. Er hat zu beweisen, dass der Patient über Art und Umfang typischer Risiken der Behandlung, Dringlichkeit der Behandlung, Gefahren bei Nichtdurchführung einer vorgesehenen Behandlung informiert wurde und dass das Aufklärungsgespräch zum richtigen Zeitpunkt geführt wurde.

Antragsentwicklung in Norddeutschland in den Jahren 1976 bis 2009: 81.014 Anträge. - Grafik: Norddeutsche Schlichtungsstelle

Welches ist der richtige Weg, wenn Schadenersatzansprüche im Raum stehen?

Es stellt sich für geschädigte Patienten das schwer zu überblickende Entscheidungsproblem, welcher Weg eine Prüfung der Angelegenheit am besten unter folgenden Prämissen ermöglicht: Neutral, ärztlich und juristisch fachkompetent, schnell und ohne großes Kostenrisiko.

Der früher oft gewählte Weg über eine Strafanzeige ist nicht zielführend, da der angestrebte Schadenersatz für Patienten zivilrechtlich zu klären ist und unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe bestehen. Das Gleiche gilt für eine Beschwerde bei der für den Arzt zuständigen Ärztekammer. Patientenberatungsstellen helfen in diesem Zusammenhang auch nicht weiter, da sie keine Gutachten einholen und auch keine haftungsrechtliche Beratung durchführen. In Zivilprozessen ist mit hohem Kostenrisiko zu rechnen, weil in Arzthaftungssachen regelmäßig ein medizinisches Sachverständigengutachten eingeholt wird. Hinzu kommen Gerichts- und Anwaltskosten der beteiligten Parteien. Die Dauer der gerichtlichen Verfahren bis zu rechtskräftigen Entscheidung nimmt über mehrere Instanzen hinweg einige Jahre in Anspruch, verbunden mit mindestens psychischen Belastungen für beide Prozessparteien, ganz abgesehen von dem damit verbundenen Zeit- und Arbeitsaufwand.

In Betracht kommt bei gesetzlich Versicherten einmal der Weg über die Krankenkassen zu einem MDK-Gutachten. Dies ist für Patienten zwar kostenlos, führt aber oft nicht dazu, dass die Haftpflichtversicherung des Arztes bei einem festgestellten Behandlungsfehler eine Entschädigung leistet, da sie dieses Gutachten als Parteigutachten bewertet.

Eine weitere außergerichtliche Alternative stellt die Überprüfung durch eine Gutachterkommission oder Schlichtungsstelle dar.


Die ärztlichen Gutachterkommissionen / Schlichtungsstellen

Die deutschen Ärztekammern haben flächendeckend Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen eingerichtet, um Patienten wie Ärzten die Möglichkeit zu bieten, derartige Streitigkeiten in einem außergerichtlichen Verfahren zu klären und beizulegen. Das seinerzeit definierte Anforderungsprofil war: Unabhängige Stellen, die objektiv und kompetent medizinische und juristische Fragen klären können. Die Verfahren sollten sich durch Waffengleichheit, Transparenz, minimale Formalismen und kurze Dauer von dem als unbefriedigend empfundenen Zivilprozessweg abheben.

Die häufigsten beteiligten Fachgebiete (2005-2009). In absteigender Reihenfolge: Unfallchirurgie, Orthopädie, Allgemeinchirurgie, Frauenheilkunde, Innere Medizin, Hausärztlich tätiger Arzt. - Grafik: Norddeutsche Schlichtungsstelle

Die Unterschiede zum Zivilprozess am Beispiel der Norddeutschen Schlichtungsstelle

Es handelt sich um ein freiwilliges, für Patienten kostenfreies Verfahren, an dem auch der Arzt und dessen Haftpflichtversicherer beteiligt sind. Der Patient als medizinischer Laie unterliegt nicht einer Substantiierungspflicht (differenzierte Darstellung des Behandlungsfehlers und eines dadurch kausal verursachten Schadens), wie es im Zivilprozess grundsätzlich der Fall ist. An dieser Stelle greift das Prinzip der Waffengleichheit, das bei Gericht in dieser ausgeprägten Form nicht existiert. Die Schlichtungsstelle klärt von sich aus den Sachverhalt auf, in dem sie die relevanten Krankenunterlagen beschafft, ein Gutachten einholt und eine Bewertung der Haftungsfrage dem Grunde nach abgibt.

Das Verfahren wird grundsätzlich schriftlich durchgeführt. Jeder Fall wird von einem Juristen und einem Arzt in permanentem Dialog und direkter Kooperation bearbeitet. In der Regel werden zwei medizinische Sachverständige tätig: Der externe Gutachter und das zuständige ärztliche Mitglied der Schlichtungsstelle, das aus dem ärztlichen Fachgebiet stammt, in dem der Fall medizinisch angesiedelt ist. Das externe Gutachten wird stets durch das ärztliche Mitglied und den zuständigen Juristen der Schlichtungsstelle überprüft.

Schlichtungsverfahren dauern in der Regel 14 Monate. Die Entscheidung der Schlichtungsstelle ist unverbindlich. Rechtsnachteile entstehen den Beteiligten nicht, den Beteiligten steht der Weg zu den ordentlichen Gerichten jederzeit offen und die Verjährung ist während der Dauer des norddeutschen Schlichtungsverfahrens gehemmt.


Die Akzeptanz des außergerichtlichen Verfahrens

Eine von der Norddeutschen Schlichtungsstelle Ende 2007 durchgeführte Evaluation zeigte, dass in 727 von 800 Fällen Zivilprozesse vermieden werden konnten. Die "Prozessvermeidungsquote" liegt dementsprechend bei 90,9 %. Das im Vergleich zum Gericht schnelle und unbürokratische Verfahren wird mittlerweile auch in der Anwaltschaft als primär zu bevorzugende Alternative zum Zivilprozess betrachtet und hat sich als Mittel der außergerichtlichen Streitbeilegung in vielen tausend Fällen bewährt.

Die häufigsten Diagnosen, die Anlass für ein Schlichtungsverfahren waren (2005-2009). In absteigender Reihenfolge: Arthrose des Hüftgelenkes, Arthrose des Kniegelenkes, Unterschenkelfraktur, Unterarmfraktur, Mammakarzinom, Bandscheibenschäden, Femurfraktur, Kniegelenksverletzung, Schulter- / Oberarmfraktur, Appendizitis. - Grafik: Norddeutsche Schlichtungsstelle


Die Antragstellung

Antragsberechtigt sind Patienten, Ärzte (Krankenhäuser) und deren Versicherer. Antragsformulare können unter www.schlichtungsstelle.de online ausgefüllt, ausgedruckt und per Post an die Schlichtungsstelle versandt werden. Die Formulare stehen dort ebenfalls als download zur Verfügung, werden aber auch auf telefonische Anforderung an Antragsteller übersandt. Über den Ablauf des Verfahrens enthält die Homepage nähere Hinweise.


Zum Autor:
Rechtsanwalt Johann Neu ist Geschäftsführer der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern Hannover


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Quelle:
Mit freundlicher Genehmigung des Autors;
erstveröffentlicht in der AWO Zeitschrift 3.2010
Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen
der norddeutschen Ärztekammern
Hans-Böckler-Allee 3, 30173 Hannover
Telefon: (0511) 380-2416 und -2420
E-Mail: info@schlichtungsstelle.de
Internet: www.schlichtungsstelle.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Mai 2011