Nachrichten der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V. Selbsthilfe Demenz
Alzheimer Info Nr. 2/2023
Abschied mitten im Leben - die weiße Trauer
von Antje Koehler, Geschäftsführerin von Demenzsensibel in Kirche und Kommune, Köln
Vor einigen Jahren bat mich die Ehefrau eines demenzerkrankten Mannes um ein persönliches Gespräch. Sie schrieb von einem Anliegen, das sie drückte und drängte: "Ich habe gerade einen so großen Zugehörigkeitskummer. Den fühl ich immer dann, wenn es mir so gar nicht gelingen will, meinen Mann zu erreichen. Wenn wir in so unterschiedlichen Sphären schwingen, dass mir mein Kontakt zu ihm wie eine Einbahnstraße vorkommt. In diesen Momenten ist er mir so fremd, dabei sind wir uns doch so vertraut - darunter leide ich sehr." Als wir uns trafen, schüttete sie mir ihr Herz aus. Sie teilte unterschiedliche Gesichter ihres Kummers mit mir - bis zu dem Moment, als ich ihre Schilderungen mit den Sätzen zusammenfasste: "Ich fühle mit Ihnen. Sie trauern um vieles, was vorher so vertraut und selbstverständlich war. Das schmerzt. Zu trauern tut weh." Empört und geradezu fassungslos schaute sie mich an - und verließ kurze Zeit später abrupt unser Gespräch. Erst Monate später erzählte sie mir, dass das Wort Trauer sie damals kalt erwischt habe. "Trauern tut man doch um den Tod eines Menschen!" Dass sie schon vorher, mitten im Leben, um die vielen schmerzlichen Veränderungen und Abschiede trauerte, war ihr bis dahin weder bewusst noch erschien es ihr als Gedanke und Gefühl legitim.
Trauer taucht in der Demenzliteratur, wenn überhaupt, am Rande auf. Dabei ist Trauer definiert als "natürliche Reaktion auf den Verlust eines Menschen, eines Lebewesens, einer Sache, einer Gewohnheit u.a.m., zu denen eine emotionale Bindung bestand" (1) Trauer ist der gesunde Prozess der Anpassung an eine Umwelt, in der etwas Vertrautes spürbar fehlt. In einer Krankheit wie der Demenz, die durch anhaltende Verluste gekennzeichnet ist, leben alle Beteiligten mit dem stückweisen Abschiednehmen. Menschen mit Demenz trauern - in einer natürlichen Reaktion, die weder bewusstes Erleben noch kognitive Fähigkeiten voraussetzt. Im Anfangsstadium der Demenz realisieren und benennen viele Betroffene die Verluste und den damit verbundenen Kontrollverlust oft selbst mit großer Sorge. Dabei geht es um so viel mehr als den Verlust ihrer Gesundheit oder eines nachlassenden Gedächtnisses. Sie spüren die Bedrohung und trauern um den Verlust von Sicherheit, Souveränität, Sorglosigkeit, Kraft, Zugehörigkeit, Ansehen, Nähe, Leichtigkeit, Heimat, Schutz usw. - und die Vertrautheit eines Lebens, das sie überwiegend selbst in der Hand hatten. Ist die Demenz weiter fortgeschritten, lassen sich auffallende Unruhe und herausforderndes Verhalten wie lautes Rufen etc. auch als Traueräußerungen deuten.
Manchmal zeigt sich die Trauer als Wut, wenn zum Beispiel der oft geäußerte Wunsch, nach Hause zu wollen, bagatellisiert oder ignoriert wird. Wer die Geborgenheit eines vertrauten Zuhauses sucht und den Weg dahin nicht findet, macht kein Drama. Er erlebt eins! Und er hat jedes Recht der Welt zutiefst traurig darüber zu sein. "Bleibt die Trauer von Menschen mit Demenz unerkannt und werden ihre möglichen Trauerreaktionen pathologisiert, entwickelt sich aus einer erschwerten Trauer eine traumatische Trauer, die Menschen mit Demenz weiter in das dementierende Erleben flüchten lässt. Umgekehrt gilt: Werden Menschen mit Demenz in ihrer Trauer und in den oft verdeckten Trauerreaktionen ernst genommen und findet man darauf eine kommunikative Antwort, weckt man die Ressourcen der Betroffenen und der Verlauf der Demenz ist ein lebenszugewandter." (2)
In Bezug auf das Trauerempfinden ihrer Zu- und Angehörigen ist mir der Begriff der weißen Trauer wertvoll geworden. Ich erinnere mich noch gut an den Moment, als ich den Begriff das erste Mal hörte. In einem Workshop, den ich begleitete, ging es um die Frage, was Angehörigen helfen könne, ihre an Demenz erkrankten Eltern oder Partner nicht nur als die zu lieben, die sie einmal waren, sondern als die, die sie jetzt sind. Eine alte Dame erzählte, wie schwer ihr dieser Prozess in Bezug auf ihren demenzerkrankten Mann gefallen sei. Und flüsterte fast auf die Frage einer Nachbarin, was ihr dabei am meisten geholfen hätte: "Traurig zu sein. Und mir zu erlauben, meine weiße Trauer immer wieder als Freundin zu betrachten." In der Gruppe machte sich Stille und Staunen breit. Weiße Trauer? Den Begriff hatten wir anderen noch nie gehört ... Und doch spürten wir alle, dass es sich für diese Frau um ein Wort für ein bedeutsames Nadelöhr handelte, deren Durchgang ihr zu neuer Kraft, Versöhnung und Weite verholfen hatte. Meine Nachfrage zeigte, dass der Begriff der weißen Trauer ein Spezifikum und eine herausfordernde Besonderheit ins Wort bringt. Mit diesem Begriff, der mir vor allem in der Schweiz begegnete, ist ein Trauerprozess und ein Abschiednehmen gemeint, das weit vor dem Tod beginnt. Er gibt der Herausforderung einen Namen, an Demenz erkrankte Menschen mehr und mehr als die, die sie waren, zu verlieren, obwohl sie noch gar nicht gestorben sind. Weil der, der noch da ist, uns zugleich schrittweise verlässt. An- und Zugehörige von Menschen mit Demenz stehen deshalb vor der schmerzhaften Aufgabe, mitten im Leben loslassen zu lernen und Abschied zu nehmen. Von Menschen. Rollen. Gewohnheiten. Liebgewonnenen Traditionen. Erwartungen. Vertrautheiten. Vom tief verwurzelten Bild eines anderen. Und oft auch Bildern von uns selbst.
Häufig treffe ich in Begegnungen mit Angehörigen auf eine nicht wahrgenommene weiße Trauer. Sie schwebt als nagendes Gefühl über Allem und Allen, wird aber wenig benannt, geschweige denn als wichtige Entwicklungsaufgabe gewürdigt und durchlebt. Praktische Fragen in der Betreuung demenzerkrankter Menschen treten oft so in den Vordergrund, dass die im Schatten des Alltags stehende Mammutaufgabe der Bewältigung von Trauer und Abschied vielen fast zweitrangig erscheint. Oft haben Angehörige eine Scham und ein schlechtes Gewissen, wenn ich danach frage, wo die Räume und Orte ihrer Trauer sind. Trauer scheint fehl am Platze und geradezu pietätlos, schließlich sei der Andere ja noch da! Schwarze Trauer tragen wir nach dem Tod eines Menschen. Weiße Trauer aber beginnt mitten im Leben. Sie kann überall anfangen, wo Menschen sich ohne ihr Zutun verändern und hört nie ganz auf. Vielleicht ist der Begriff nicht zufällig und nicht nur in Abgrenzung zur Tradition der schwarzen Kleidung, als der in unserer Kultur üblichen Trauerfarbe gewählt. Weiß gilt wie Schwarz als sogenannte unbunte Farbe. Aus Sicht der Farbenlehre ist Weiß jedoch die Summe aller Farben. Unser Auge sieht dort die Farbe Weiß, wo Licht aller Wellenlängen im gesamten Lichtspektrum reflektiert wird. Wie gut das passt! Die weiße Trauer kommt in Wellen und weiß um das gesamte Leben und Lichtspektrum eines sich radikal verändernden Alltags. Die schmerzhaften Erfahrungen darin wollen gespürt und betrauert werden, damit sie sich wandeln können. Der Schmerz des Abschieds braucht Raum, Zeit, Ort und Platz. Da, wo wir der Trauer etwas zutrauen und sie als mehr betrachten als das, was wir "jetzt auch noch erleben und hinter uns bringen müssen", wartet meist ein Schatz und ein Atmenholen zu neuer Freude. Was einfach klingt, ist keineswegs leicht. Zu Trauern, mitten im Leben, während die Herausforderungen eines Alltags mit Demenz weitergehen, ist schwer. Jeder, der sich an ein gebrochenes Herz erinnert, kennt Augenblicke, in denen die Verlustgefühle so überdimensioniert groß werden wie ein kleines Loch im Zahn durch die Lupe unserer Zunge.
In unserer Gesellschaft sind inzwischen mehr Vielfalt und Freiheit in Bezug auf die Gestaltung einzelner Trauer- und Abschiedsrituale möglich. Und doch steht der Einzelne in vielen Familien mit Blick auf die Akzeptanz und einen gelingenden Umgang mit den Veränderungen und dem langsamen Verschwinden geliebter Menschen oft unsicherer da denn je. Es ist schwer genug, nach dem Tod eines Menschen einen Weg durch den wilden Mix und Trauerdschungel an Gefühlen, Gedanken, Zuschreibungen und Erwartungen zu finden. Daran, dass Ehepartner, Kinder, Freunde oder Nachbarn schon vor dem Tod trauern und eine Trauerarbeit brauchen und leisten, daran wird selten gedacht. Oftmals am wenigsten von ihnen selbst. "Sie nehmen sich nicht als Trauernde wahr, sondern als chronisch belastet." (3) Eine Gesellschaft, die weiße Trauer nicht wahrnimmt, wird Trauernden kaum die Unterstützung zukommen lassen, die sie bräuchten, um in ein neues, heilsames Verständnis für die Veränderungen in sich, bei anderen und für die Demenz hineinwachsen zu können. Vielleicht ist die anhaltende gesellschaftliche Abwehr des Themas Demenz nichts anderes als ein Indiz dafür, dass unsere Gesellschaft um die im Krankheitsbild Demenz verborgene Anfrage an ihr Menschenbild und Prinzipien der Leistung, Effektivität, Kontrolle, Schnelligkeit, Nützlichkeit und Unsterblichkeit trauert.
Trauer ist keine Krankheit. Sie ist eine Fähigkeit, die uns Menschen angeboren ist. Im Erleben von Verlusten ist sie die Lösung und nicht das Problem. Wir brauchen in unserer Gesellschaft aus Menschen mit und ohne Demenz mehr Trauermutige, die sich durch die schwierigen Emotionen eines Abschieds mitten im Leben zu tasten versuchen. Die als mitfühlende Begleitpersonen helfen, den Trauerstress der Betroffenen zu reduzieren. Die der weißen Trauer von Zu- und Angehörigen ihre Berechtigung vermitteln und die teils schwierigen Gefühle als Trauer einzuordnen helfen. Trauer ist und kann mehr. Öffnen wir uns für sie, kann sie ein Nadelöhr sein, hinter dem wir neuen Perspektiven eine Chance geben. Wir können üben, sie als Freundin zu betrachten.
(1) Birkholz, C., Trauer und Demenz. Trauerbegleitung als verstehender Zugang und heilsame Zuwendung, Göttingen 2018, 67
(2) A.a.O., 101
(3) A.a.O., 118
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Quelle:
Nachrichten der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V. Selbsthilfe Demenz
Alzheimer Info Nr. 2/2023, Seite 3-4
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 30. Juni 2023
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