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DEMENZ/514: "Dahin, wo die Menschen sind" - das Beratungsmobil Demenz zog seit Mai 2021 seine Kreise in Schleswig-Holstein (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 10, Oktober 2023

"Dahin, wo die Menschen sind"

von Dirk Schnack


DEMENZ. In drei schleswig-holsteinischen Kreisen stand das Beratungsmobil Demenz in den vergangenen Jahren in verschiedenen, meist ländlich gelegenen Orten. Inzwischen ist das Projekt beendet, der Evaluationsbericht liegt vor. Das Ergebnis zeigt, wie sinnvoll solche niedrigschwelligen Angebote sein können.

Wo möchten Sie alt werden? Die meisten Menschen werden auf diese Frage mit der eigenen häuslichen Umgebung antworten. Damit das möglich ist, sind Beratungs-, Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen erforderlich. Die aber sind besonders im ländlichen Raum zum Teil schwer erreichbar. Hier setzte das Modellprojekt Beratungsmobil Demenz des Projektträgers Alzheimer Gesellschaft Schleswig-Holstein/Selbsthilfe Demenz und des Kooperationspartners Kompetenzzentrum Demenz an, das vom Sozialministerium und dem Spitzenverband Bund der Pflegekassen gefördert wurde.

Für das Projekt waren Beraterinnen in mehreren Kreisen (Plön, Dithmarschen, Herzogtum Lauenburg) Schleswig-Holsteins mit einem Beratungsmobil unterwegs und führten zahlreiche Gespräche mit Betroffenen, Angehörigen und Interessierten. Der im vergangenen Monat veröffentlichte Evaluationsbericht gibt Einblick in die Arbeit.

Wie kam es zu der Idee? Neu ist der Gedanke der aufsuchenden Beratung nicht. Im Bericht wird darauf verwiesen, dass zum Beispiel ein mobiles Mammografiemobil schon seit Jahren eine mobile Brustkrebsfrüherkennung vor Ort anbietet. In Hessen ist sogar eine rollende Landarztpraxis im Bus unterwegs. Auch aus anderen Bereichen sind mobile Angebote an der Tagesordnung - etwa als Einkaufsmobile oder als Büchereibusse. Das Projekt "Mobi-Dem" (mobile Demenzberatung - ein niedrigschwelliges Angebot für pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz) hat gezeigt, dass über die mobile Beratung viele Menschen erreicht wurden, die sonst keine andere Beratungsstelle aufgesucht hätten. "Gemeinsam haben alle Angebote, dass sie sich darauf eingestellt haben, dorthin zu kommen, wo die Menschen leben", heißt es im Evaluationsbericht. Damit werden leicht erreichbare Zugangswege geschaffen und Versorgungslücken ausgeglichen.

Dieser Erkenntnis folgte das Projekt. In Schleswig-Holstein leben inzwischen mehr als 68.000 Menschen mit einer Demenz, deren Angehörige Beratung benötigen. Ein dafür umgebauter VW Crafter war von Mai 2021 bis zum April 2023 im Rahmen des Modellprojektes unterwegs. Angefahren wurden unterschiedliche Orte in den Kreisen Dithmarschen, Herzogtum Lauenburg und Plön. Da sich die Projektpartner als ergänzendes Angebot in den Kommunen verstanden, wurde das Team laut Evaluation "wohlwollend vor Ort empfangen und bei der Logistik und Öffentlichkeitsarbeit unterstützt".

Als Gesamtergebnis hält Silke Steinke, Projektmitarbeiterin der Alzheimer Gesellschaft Schleswig-Holstein fest: "Mobile Beratung erreicht die Menschen frühzeitig und unkompliziert direkt vor Ort, bevor sie eventuell andere der vielen Beratungsstellen in Schleswig-Holstein aufsuchen." Als Empfehlung heißt es im Bericht: "Beratung für Menschen mit einer (potenziellen) Demenz und die An- und Zugehörigen sollten dahin gebracht werden, wo die Menschen sind, nämlich in die Städte, an die Orte und Dörfer, auf die Marktplätze und an öffentlich zugängliche Plätze."

Die wichtigsten Ergebnisse:

• 238 Menschen kamen für ausführliche Beratungsgespräche in den Bus, rund die Hälfte von ihnen spontan. Faustregel: Je ländlicher, desto eher wurde ein Termin vereinbart. Drei Viertel der Gespräche dauerten länger als eine halbe, aber unter einer Stunde. Länger als 60 Minuten dauerten nur sechs Prozent der Termine. Neun Prozent der Gespräche waren Folgekontakte, alle anderen Erstgespräche. Zwei Drittel der Aufsuchenden waren Frauen, 79 Prozent waren zwischen 50 und 80 Jahre alt.

• Die meisten der Aufsuchenden kamen wegen einer Betroffenheit im eigenen familiären Umfeld (63 Prozent), weitere 17 Prozent wegen eines solchen Verdachts. Zwölf Prozent der Aufsuchenden äußerte den Verdacht, möglicherweise selbst an Demenz erkrankt zu sein, zwei Prozent gaben an, dass diese Diagnose bei ihnen schon gestellt worden sei. Andere hatten Bezug zur Demenz in der Nachbarschaft, im Bekanntenkreis oder im Beruf. Insgesamt gaben 57 Prozent der Ratsuchenden an, dass bei der Person, um die es im Gespräch gehe, bereits die Diagnose Demenz gestellt worden sei. Von dieser Gruppe gaben 43 Prozent eine Alzheimer-Demenz als Diagnose an, acht Prozent eine vaskuläre Demenz. 45 Prozent konnte oder wollte hierzu keine Angabe machen.

• 52 Prozent der Ratsuchenden im Mobil hatten bereits einen Pflegegrad zuerkannt bekommen, die meisten Pflegegrad 3 (31 Prozent) oder 2 (29 Prozent). 58 Prozent kam zu einem Zeitpunkt ins Mobil, als sie noch selbstständig im eigenen Umfeld lebten. Nur zehn Prozent lebten bereits in einer komplett stationären Versorgung.

• Bei den in der Familie (potenziell) Betroffenen handelt es sich zu 56 Prozent um Frauen. Zu 40 Prozent wurde berichtet, dass es um die eigene Mutter gehe. Über die Hälfte der Familienmitglieder, deretwegen die Beratung aufgesucht wurde, war zwischen 76 und 85 Jahre alt. Zu 49 Prozent wurde die Beratung von der Kindergeneration in Anspruch genommen, hier zumeist von den Töchtern (79 Prozent). Zu 40 Prozent nahmen die Ehepartner des potenziell Betroffenen die Beratung in Anspruch. In 16 Prozent der Beratungen war der Betroffene dabei.

Selbst (potenziell) Betroffene kamen in aller Regel, weil sie an sich selbst Symptome festgestellt hatten. Dies waren insgesamt 34 Menschen (14 Prozent). Fast die Hälfte von ihnen (48 Prozent) waren unter 71 Jahre alt, sechs Personen (20 Prozent) unter 65 Jahre. Auffällig war, dass drei Viertel dieser Gruppe der potenziell selbst Betroffenen männlich war. Keiner aus dieser Gruppe hatte bereits einen Pflegegrad, alle lebten noch allein oder mit einem Partner im eigenen häuslichen Umfeld.

• 28 Prozent der Ratsuchenden hatten Fragen zum Krankheitsbild, 26 Prozent zum Umgang mit der Erkrankung. 13 Prozent hatten Fragen zu Sozialleistungen, jeweils neun Prozent zu medikamentösen oder zu nicht-medikamentösen Therapiemöglichkeiten. Auch rechtliche Aspekte (sieben Prozent) wurden thematisiert.

• 42 Prozent der Beratenen wurden an einen Pflegestützpunkt weitervermittelt. Jeder Zehnte wurde an eine Gedächtnissprechstunde verwiesen, neun Prozent zum Facharzt und ein Prozent zum Hausarzt. Ein Krankenhaus war für drei Prozent die nächste Anlaufstelle, ein Pflegedienst für ein Prozent.

• Aufmerksam auf das mobile Angebot wurden 44 Prozent, weil ihnen das Fahrzeug auffiel. Weitere 28 Prozent erfuhren über klassische Medien von dem Mobil, acht Prozent per Internet, sechs Prozent über das private Umfeld. Arzt, Pflegestützpunkt oder andere Beratungsstellen (jeweils ein Prozent) spielten in dieser Frage kaum eine Rolle.

Zur Zufriedenheit mit dem Angebot lassen sich nur wenige Aussagen treffen, weil nur 5 Personen im Nachgang telefonisch befragt werden konnten und zwölf weitere an einem Interview im Nachgang zur Beratung befragt wurden. Das Gesamtergebnis zeigte eine hohe Zufriedenheit, alle Befragten würden das Angebot weiterempfehlen.

Im Gesamtergebnis kommt die Evaluation zu dem Fazit, dass sich die Implementierung eines mobilen Beratungsangebotes zur Verbesserung der Angebotsvielfalt bewährt habe. Niedrigschwellige Beratung erreiche die Menschen, in diesem Fall auch spontan. Ein weiteres Ergebnis: Die mobile Beratung erreiche die Menschen frühzeitig. Und: Es konnte für das Thema insgesamt sensibilisiert werden. Im Bericht heißt es dazu: "An vielen Stellen wie Arztpraxen, Physiotherapiepraxen, Apotheken, Gemeindeverwaltungen und sonstige Geschäfte im Umfeld wie Supermärkte lagen die Flyer des Projektes aus und wurden auch von Ratsuchenden mit zum Fahrzeug gebracht. Damit wird das Thema im Alltag sichtbar."

Mobile Beratung kann nach Überzeugung der Initiatoren dazu führen, dass die Chance für eine zielgerichtete Planung und Lenkung der Ratsuchenden im Versorgungssystem erhöht wird. Es könnten passgenaue Angebote zur Unterstützung und Entlastung aufgezeigt werden - die mobile Beratung könne als Lotse dienen, zugleich auch als psychosoziales Beratungsinstrument vor Ort: "Diese Doppelfunktion ist ein ausgewiesenes Alleinstellungsmerkmal im Vergleich zu anderen Strukturen der Pflegeberatung oder der (ehrenamtlichen) Lotsen und Begleitungsstrukturen".

Ein bundesweit angelegtes Folgeprojekt soll Erkenntnisse dazu liefern, an welchen Orten Angebote ausgebaut werden müssen. Dieses Projekt läuft noch bis Februar 2024.

 Der/die Ratsuchende hatte Fragen: 
... zum Angebot der mobilen Beratung
5%         
...zum Krankheitsbild
28%         
...zur medikamentösen Behandlung
9%         
...zu nichtmedikamentösen Therapiemöglichkeiten
9%         
...zum Umgang mit der Erkrankung
26%         
...zu Sozialleistungen
13%         
...zu rechtlichen Aspekten
7%         
...zu anderen (Begleit-)erkrankung
4%         

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 10, Oktober 2023
76. Jahrgang, Seite 28-29
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-0, Fax: 04551/803-101
E-Mail: info@aeksh.de
Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 27. Oktober 2023

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