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INFEKTION/1166: Einschleppung von Polioviren in poliofreie Regionen - eine stetige Gefahr! (RKI)


Epidemiologisches Bulletin 42/2010 - 22. Oktober 2011

Welt-Poliotag 2011

Einschleppung von Polioviren in poliofreie Regionen - eine stetige Gefahr!


Zum Gedenken an den Entwickler des ersten Polioimpfstoffes (IPV), den USamerikanischen Arzt und Immunologen Dr. Jonas Salk, wird jährlich an seinem Geburtstag, dem 28. Oktober, der Welt-Poliotag begangen. Er wurde erstmals 1998 durch die UNICEF und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ausgerufen und hat u. a. das Ziel, die Bevölkerung für diese fast vergessene Krankheit zu sensibilisieren und folglich zur Polioimpfung zu motivieren, um damit die globale Polioeradikationsinitiative der WHO (GPEI) zu unterstützen. Seit Beginn der GPEI 1988 wurden beträchtliche Erfolge bei der Bekämpfung dieser Infektionskrankheit erzielt. Bereits 2004 konnte eine Reduktion der weltweit registrierten Fälle um 99 % vermeldet werden; drei von sechs WHO-Regionen wurden als poliofrei zertifiziert (Amerika 1994, Westpazifik 2000 und Europa 2002). Doch seit 2005 stagniert der Prozess und auch im Jahr 2011 hielten sich Erfolge und Rückschläge die Waage. Problematisch sind vor allem die wiederholten Reimporte von Wild-Polioviren (WPV) aus den bestehenden vier Endemiegebieten (Pakistan, Afghanistan, Indien und Nigeria) in bereits poliofreie Gebiete. Nach Angaben der WHO waren in den Jahren 2009 bis 2010 23 Länder von solchen Reimporten betroffen.

Nachdem im letzten Jahr durch aus Indien eingeschleppte WPV 1 erstmalig wieder Poliofälle (n=475) in der WHO-Region Europa (Tadschikistan, Russische Föderation, Turkmenistan und Kasachstan) auftraten (s. Epid. Bull. 27 & 42/2010), wurden nun Fälle von Kinderlähmung aus dem Westen Chinas gemeldet (autonome Region Xinjiang Uygur). Seit Anfang Juli wurden 10 Erkrankungen offiziell bestätigt, darunter auch ein Todesfall. Genetische Untersuchungen belegen, dass die WPV 1-Viren aus dem benachbarten Pakistan stammen, wo die Zahl der Poliofälle im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (78 Fälle) stark angestiegen ist (aktuell 111 Fälle, d. h. ein Viertel aller Fälle weltweit). Zuvor wurde der letzte Poliofall in China im Jahr 2000 registriert. Bei umfassenden Impfaktionen wurden innerhalb sehr kurzer Zeit über 4,5 Millionen Personen geimpft. Obwohl Poliomyelitis gewöhnlich bei Kindern unter 5 Jahren auftritt, waren in China auch junge Erwachsene betroffen. Um ein Szenario wie beim Ausbruch im letzten Jahr in der Republik Kongo zu verhindern (s. Epid. Bull. 3/2011), werden in den Impfkampagnen in der betroffenen chinesischen Provinz auch Personen im Alter zwischen 15 und 40 Jahren eingeschlossen.

Wegen der kritischen Poliosituation in Pakistan ist die WHO besorgt, dass sich die Erkrankung mit den islamischen Pilgerfahrten (Hadsch und Umra) auf andere Länder ausbreiten könnte. Daher wurden insbesondere die muslimischen Länder im Mittelmeergebiet und in Asien aufgefordert, die Surveillance der akuten schlaffen Lähmungen zu verstärken. Reisende von und nach Pakistan sollten ihren Impfstatus prüfen. Die saudiarabische Regierung verlangt von den Pilgern einen Impfnachweis beziehungsweise impft alle Personen, die aus Endemieländern einreisen oder aus Ländern kommen, in denen es nach einem Reimport von Polioviren zu einer fortgesetzten Übertragung gekommen ist, unabhängig von Alter und vorherigen Impfstatus mit einer Dosis OPV.

Insgesamt konnte 2011 die Zahl der weltweiten Poliofälle im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 40 % gesenkt werden (444 Fälle in 2011 vs. 717 in 2010 - Stand 12.10.2011). Von insgesamt 1.002 Fällen, die innerhalb der letzten 12 Monate an die WHO gemeldet wurden, betrafen nur 290 die letzten sechs Monate. Dies könnte eine Verlangsamung der Poliotransmission bedeuten. Besonders hervorzuheben ist die Situation in Indien, wo es seit nunmehr neun Monaten keine neuen Erkrankungen gegeben hat. Auch die intensive Suche nach WPV im Abwasser verlief negativ.

Ein weiteres positives Signal für die GPEI ist der Stopp des im vergangenen Jahr aufgetretenen dramatischen Polioausbruches in der Republik Kongo. Da auch der Polioausbruch in der WHO-Region Europa (Tadschikistan) 2010 gestoppt werden konnte, hat die Regionale Zertifizierungskommission der WHO für Europa aktuell den Erhalt des poliofrei Status für Europa bestätigt.

Wiederkehrende Polioausbrüche auch in seit Jahren poliofreien Staaten erinnern an das Risiko nicht geimpfter Bevölkerungsgruppen, an Polio zu erkranken. Sie heben gleichzeitig die Bedeutung einer kontinuierlichen Überwachung und Analyse der Poliosituation hervor. Auch in Deutschland haben die Aufrechterhaltung einer hohen Durchimpfungsrate der gesamten Bevölkerung sowie die Durchführung eines Überwachungssystems zur schnellen Detektion importierter Polioviren einen hohen Stellenwert. In Deutschland wird eine Enterovirus-Surveillance (EVS) durchgeführt, die von der seit April 2010 am Robert Koch-Institut (RKI) ansässigen Geschäftsstelle der Nationalen Kommission für die Polioeradikation in Deutschland (NCC) koordiniert wird. Jährlich werden durchschnittlich 2.500 Proben untersucht. Dabei wurden Polioviren bisher nicht nachgewiesen.


Bericht des NRZ für Poliomyelitis und Enteroviren am RKI.
Als Ansprechpartnerinnen stehen Dr. Sabine Diedrich (E-Mail: DiedrichS@rki.de) und
Dr. Katrin Neubauer (E-Mail: NeubauerK@rki.de) zur Verfügung.


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Quelle:
Epidemiologisches Bulletin 42/2011 - 22. Oktober 2011
Herausgeber: Robert Koch-Institut
Nordufer 20, D-13353 Berlin
Telefon: 030/18 754-0, Fax: 030/18 754-23 28
E-Mail: EpiBull@rki.de
Internet: www.rki.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Oktober 2011