Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → KRANKHEIT


SCHLAGANFALL/468: In Corona-Zeiten ... Gewartet, bis das Zeitfenster geschlossen war (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 4, April 2021

Gewartet, bis Zeitfenster geschlossen war

von Uwe Groenewold


SCHLAGANFALL. Stationäre Zahlen sind während der Corona-Pandemie rückläufig - die Sterblichkeit dagegen ist gestiegen. Experten fordern mehr Aufklärung.


Weniger Patienten behandelt, mehr verstorben - auf diesen verkürzten Nenner lässt sich die Situation der Schlaganfallversorgung im ersten Jahr der Corona-Pandemie bringen. Verschiedene Untersuchungen haben inzwischen belegt, dass die Zahl der in Kliniken behandelten Patienten mit Schlaganfallsymptomen 2020 rückläufig war. Und weil viele der Betroffenen oder ihrer Angehörigen offensichtlich zu spät zum Telefonhörer gegriffen haben, hat auch die Sterblichkeit zugenommen. Eine Umfrage unter Kliniken in Schleswig-Holstein, die mit einer Stroke Unit ausgestattet sind, bestätigt diese Beschreibung.

"Der Schlaganfall bleibt auch in Corona-Zeiten die häufigste Ursache für eine bleibende Behinderung und die dritthäufigste Todesursache. Je früher er behandelt wird, umso besser sind die Chancen auf ein Leben ohne Behinderung", sagt PD Dr. Georg Royl, Neurologe am UKSH-Campus Lübeck. Genau wie sein Kollege Prof. Ulrich Pulkowski von der Imland Klinik Rendsburg bestätigte er den Rückgang von Schlaganfallpatienten. Während dieser in Rendsburg in der ersten Welle etwa 15 Prozent betrug und sich in den vergangenen Monaten wieder auf dem Niveau von vor Corona einpendelte, beobachteten die Lübecker Neurologen in den Monatsauswertungen 2020 Rückgänge von bis zu 28 Prozent. In Schleswig-Holstein kommt es jährlich etwa zu 8.000 Schlaganfällen. Die Patienten werden mehrheitlich in einer der zwölf zertifizierten Stroke Units (neun regionale, drei überregionale Behandlungseinheiten) versorgt.

Einer ersten Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zufolge sank die Zahl der behandelten Schlaganfälle von März bis Mai 2020 um 18 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum; bei den Schlaganfall-Vorläufern, den transitorisch-ischämischen Attacken (TIA), gab es sogar einen Rückgang von 37 Prozent. Das Robert Koch-Institut ist über seinen Notaufnahme-Situationsreport zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. Bereits in der frühen Phase der Pandemie zeigten sich viele Neurologen über den spürbaren Rückgang an Patienten, die sich wegen Schlaganfallsymptomen in einer Notaufnahme vorstellten, alarmiert und richteten Appelle an die Bevölkerung, entsprechende Symptome nicht zu ignorieren.

Anfang Texteinschub
Info

Die bundesweit erste Erhebung zur Schlaganfallversorgung während der ersten Pandemiephase beinhaltet Daten aus allen 1.463 Krankenhäusern in Deutschland, die in dieser Phase Schlaganfall-Patienten behandelt haben. In dieser Zeit wurden 17,4 Prozent mehr Patienten aufgenommen als zu erwarten gewesen wäre. Das Abwarten der Patienten erklärt nach Ansicht von Experten eine höhere Sterblichkeit. Laut WIdO ist die 30-Tage-Sterblichkeit von 12 Prozent im Frühjahr 2019 auf 15 Prozent im Frühjahr 2020 gestiegen.
Ende Texteinschub

Dass der damalige Eindruck der eher leeren Stroke Units nicht täuschte, bestätigt jetzt die erste bundesweite Erhebung zur Schlaganfallversorgung während der ersten Pandemiephase vom 16. März bis 15. Mai 2020. In der in Stroke veröffentlichten Studie (https://doi.org/10.1161/STROKEAHA.120.033160) wurden die Daten aus allen 1.463 Krankenhäusern in Deutschland, die in dieser Zeit Schlaganfallpatienten behandelt haben, mit denen des gleichen Zeitraums im Vorjahr und mit denen des Prä-Pandemie-Zeitraums 16. Januar bis 15. März 2020 verglichen. In der Pandemiephase wurden 31.165 Patienten mit akuten ischämischen Schlaganfällen aufgenommen, im Vergleich zur Prä-Pandemiephase war das ein Rückgang von 17,4 Prozent, im Vergleich zum gleichen Zeitraum im Vorjahr von 18,5 Prozent. Bei Patienten mit TIA betrug der Rückgang 22,9, respektive 26,1 Prozent, bei solchen mit Hirnblutungen war zwischen der Prä-Pandemiephase und der Pandemiephase ein Rückgang von 15,8 Prozent zu verzeichnen.

Bei der Schlaganfallbehandlung gilt: Je schneller ein Gefäßverschluss wiedereröffnet wird, desto höher sind die Chancen auf vollständige Genesung ("Time is brain"). Die medikamentöse Auflösung des Gefäßverschlusses sollte innerhalb von viereinhalb Stunden nach Symptombeginn erfolgen, die mechanische Entfernung des Gerinnsels per Katheter-Eingriff ist auch später noch möglich. "Auffällig ist ein Rückgang der Lyserate bei den ischämischen Schlaganfällen, was als Ausdruck einer verzögerten Vorstellung der Patienten in der Klinik gewertet werden kann. Die Patienten warten einfach länger, bevor sie in die Klinik kommen", hat PD Dr. Frederick Palm von der Helios Klinik Schleswig beobachtet. Dem können Prof. Hans-Christian Hansen und Oberarzt Claas Fokke Wermann aus dem Friedrich-Ebert-Krankenhaus (FEK) Neumünster nur zustimmen: "Die Patienten wurden häufig außerhalb der für die Rekanalisation zu wahrenden therapeutischen Zeitfenster im FEK vorstellig. Grund hierfür war nach Patienten- und Angehörigenaussagen häufig die Sorge, sich im Krankenhaus mit dem Coronavirus zu infizieren. Dies erklärt auch die in der Gesamtschau jetzt schwer betroffenen Patienten mit ausgeprägteren neurologischen Defiziten."

Das veränderte Patientenverhalten hat den verschiedenen Quellen zufolge zu einer erhöhten Sterblichkeit geführt. Das WIdO-Institut der AOK teilte unter Verweis auf aktuelle Krankenhaus-Abrechnungsdaten mit, dass die 30-Tage-Sterblichkeit von 12 Prozent im Frühjahr 2019 auf 15 Prozent im Frühjahr 2020 gestiegen ist. Auch die bereits genannte, in Stroke veröffentlichte Studie hat einen Anstieg der Krankenhaussterblichkeit von Patienten mit ischämischen und hämorrhagischen Schlaganfällen registriert. Diese war im Beobachtungszeitraum während der Pandemie im Vergleich zum Zeitraum unmittelbar davor signifikant erhöht (bei Hirnblutungen 8,1 versus 7,6 Prozent, bei Hirninfarkten 34,9 versus 29,9 Prozent). Die Autoren der Auswertung führen die erhöhte Sterblichkeitsrate auf die Tatsache zurück, dass während der Pandemie verhältnismäßig mehr Patienten mit schwereren Symptomen und somit schlechterer Prognose eingeliefert wurden. "Dass die Schlaganfallpatienten später und 'kranker' in die Kliniken kamen, lässt sich auch an der erhöhten Thrombektomierate ablesen. Offensichtlich war bei mehreren das Zeitfenster für die medikamentöse Lysetherapie abgelaufen, sodass nur noch der interventionelle Eingriff als Therapieoption blieb", erklärte Studienautor Prof. Christos Krogias aus Bochum.

Was tun? "Die Bevölkerung muss noch ausführlicher über dieses Phänomen aufgeklärt werden", wünscht sich Prof. Pulkowski aus Rendsburg. "Die Gefahr, in der Klinik an Corona zu erkranken, ist viel niedriger, als durch zu späte oder gänzlich vermiedene Hospitalisierung nach einem Schlaganfall zu sterben oder dauerhaft behindert zu bleiben." Deshalb, so sein Lübecker Kollege Georg Royl, sollten Betroffene und Angehörige bei jedem plötzlichen Auftreten von Lähmungen (Gesicht, Arm oder Bein), Sprach- oder Gangstörungen den Notruf 112 wählen. Einen anderen Ansatz verfolgen Prof. Hans-Christian Hansen und Oberarzt Claas Fokke Wermann aus Neumünster, sie plädieren für eine kontrollierte Lockerung der Besuchsregelung in Krankenhäusern. "Erfahrungsgemäß meiden viele Patienten das Krankenhaus unter anderem auch deshalb, weil sie dort keinen Kontakt mehr zu ihren Angehörigen haben."

Wer bereits einen Schlaganfall hatte und in der Folge eine Infektion mit dem Corona-Virus erleidet, ist besonders gefährdet, schwer an COVID-19 zu erkranken. Das haben Untersuchungen der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) ergeben, deren Erkenntnisse jetzt in die überarbeitete Fassung der im August 2020 erstmals veröffentlichten S1-Leitlinie "Neurologische Manifestationen bei COVID-19" eingegangen sind. Überraschend sei die Erkenntnis gewesen, dass Menschen mit zerebrovaskulären Erkrankungen in der Anamnese oft sehr schwer an COVID-19 erkranken und eine besonders vulnerable Gruppe sind, erklärt DGN-Generalsekretär Prof. Peter Berlit aus Berlin, der federführend an der Erstellung der Leitlinie beteiligt war. "Wer bereits einen Schlaganfall gehabt hat, ist COVID-19-Risikopatient und sollte sich besonders vor dem Virus schützen, die Kontaktbeschränkungen und Hygieneregeln strikt einhalten und ein Impfangebot unbedingt wahrnehmen", so Berlit. Die Leitlinie ist einsehbar unter
www.dgn.org/leitlinien/neurologische-manifestationen-bei-covid-19/

Neurologische Komplikationen nach COVID-19

Unabhängig von einem erlittenen Schlaganfall untersuchen Wissenschaftler der DGN die neurologischen Folgen einer durchgemachten COVID-19-Erkrankung. Typisch sind Geruchs- und Geschmacksstörungen, Kopfschmerzen, Muskelschmerzen, Erschöpfung und Abgeschlagenheit (Fatigue-Syndrom) sind bereits während der Akutphase häufig. Bei schweren Verläufen kommt es auch zu Bewusstseinsstörungen und Störungen der Hirnfunktionen, lebensbedrohliche neurologische Komplikationen wie Schlaganfälle oder das Guillain-Barré-Syndrom sind ebenfalls möglich.

Erste Untersuchungen weisen darauf hin, dass neurologische Symptome nach abgeklungener SARS-CoV-2-Infektion anhalten: Fatigue gilt als häufigste Langzeitkomplikation, wurde in verschiedenen Untersuchungen sogar noch häufiger als die typische Kurzatmigkeit genannt. Schmerzen und Schlafstörungen gehören ebenfalls zu den beobachteten Langzeitsymptomen, genauso wie Depressionen und Angstzustände bei schwer erkrankten COVID-19-Patienten. "Bei vielen Betroffenen verbessern sich die neurologischen Symptome zwar im Laufe der Zeit, aber wir haben auch Patienten, die bereits in der ersten Welle der Pandemie im Frühjahr 2020 erkrankten und bis heute nicht beschwerdefrei sind. Da es sich bei COVID-19 um eine neuartige Krankheit handelt, müssen wir die Ursachen der Symptome und Spätfolgen klären, um gezielt etwas gegen die neurologischen Beschwerden unternehmen zu können", so Berlit.

Um diese zu analysieren, wurde eine Arbeitsgruppe Neurologie im Nationalen Pandemie Kohorten Netz (NAPKON) etabliert. NAPKON ist eines von 13 Projekten im Netzwerk Universitätsmedizin (www.netzwerk-universitaetsmedizin.de), das aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung finanziert wird und in dem sich Wissenschaftler aller deutschen Universitätskliniken fachübergreifend austauschen. Die von Prof. Christine Klein, Institut für Neurogenetik der Universität Lübeck, geleitete Arbeitsgruppe Neurologie will in den kommenden Jahren die COVID-19-Spätfolgen genauer unter die Lupe nehmen. Insbesondere die Fragen, ob sich neurologische Symptome dauerhaft auf die Kognition auswirken oder die Entwicklung degenerativer Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson beschleunigen, sollen erforscht werden.

*

Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 4, April 2021, 74. Jahrgang, Seite 34-35
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-0, Fax: 04551/803-101
E-Mail: info@aeksh.de
Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Mai 2021

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang