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SCHMERZ/734: Clusterkopfschmerzen - Späte Diagnose mit Folgen für die Patienten (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 10/2015

Clusterkopfschmerzen
Späte Diagnose mit Folgen für die Patienten
Internationale Tagung über Clusterkopfschmerzen in Kiel macht die Versorgungsdefizite für die Betroffenen deutlich. Ärzte erfahren im Medizinstudium zu wenig über das Krankheitsbild.

von Dirk Schnack


Rund 150 Teilnehmer, darunter zur Hälfte Patienten, diskutierten auf dem Kongress in der Kieler Schmerzklinik mit Experten aus Griechenland, Belgien, den Niederlanden, der Türkei, Estland, der Schweiz und Deutschland. Sie berichteten von stark unterschiedlichen Versorgungssituationen und Therapieansätzen in ihren Ländern. Nun streben sie einen stärkeren internationalen Austausch an, damit die Zentren voneinander lernen können. Die Kieler Clusterkopfschmerztage waren der Anfang, sie sollen zu einer grenzüberschreitenden Optimierung der Versorgung beitragen. Die wichtigsten Probleme fassten die Teilnehmer zusammen:

• In allen Staaten der EU ist die Zeit bis zur angemessen Diagnose zu lang. Die durchschnittlichen Zeiten in der EU betragen je nach Land von 3,5 (Niederlande) bis zu zehn Jahren (Ungarn). Diese Zeiten müssen verkürzt werden.

• Es existieren keine einheitlichen europäischen Therapieleitlinien. Sie müssen erarbeitet werden.

• In allen Staaten liegt eine offensichtliche Unterversorgung der Clusterkopfschmerz (CKS)-Patienten vor. Die Art der Unterversorgung differiert in den verschiedenen Ländern. In einigen Staaten gibt es eine Unterversorgung mit Akutmedikamenten, in anderen Staaten gibt es Unterversorgung mit vorbeugenden Medikamenten. Erforderlich ist in allen Ländern der EU der Zugang zu wirksamen Medikamenten, Hilfsmitteln und Therapien, einschließlich psychologischer Behandlung. Auch Angehörige müssen einbezogen werden.

• Besondere CKS-Patientengruppen (Kinder, Schwangere, Senioren) wurden bisher in der EU nicht beachtet. Es existieren keine speziellen Programme zur Versorgung dieser Patientengruppen. Diese müssen geschaffen werden.

• Es gibt zu wenige wirksame Medikamente, wirksame Medikamente wurden aus wirtschaftlichen Gründen vom Markt genommen. Eine deutliche Intensivierung der Forschung ist notwendig, um zu wirksamen Medikamenten zu gelangen.

• Es gibt erst in wenigen Staaten spezialisierte Kopfschmerzzentren. Gefordert wird, in allen Staaten spezialisierte Zentren aufzubauen und den unlimitierten Zugang zu diesen Zentren herzustellen und zu gewährleisten. Kann im jeweiligen Land eine spezialisierte Behandlung oder Diagnose nicht durchgeführt werden, muss es möglich sein, dass Patienten den grenzüberschreitenden Zugang zu einem spezialisierten Zentrum eines anderen Landes erhalten.

• Eine EU-weite Vernetzung der spezialisierten Kopfschmerzzentren soll gefördert werden.

• Die stärkere Berücksichtigung der trigemino-autonomen Kopfschmerzen (TAK) in der Ärzteausbildung ist notwendig.

• Bisher finden präventive Maßnahmen zu wenig Beachtung. Diese müssen ausgebaut werden.

Initiatoren der Veranstaltung waren die Kieler Schmerzklinik von Prof. Hartmut Göbel und der Bundesverband der Clusterkopfschmerz Selbsthilfe-Gruppen (CSG). Sie berichteten in einer Pressekonferenz auch aus dem Alltag der Betroffenen. Zwischen 15 Minuten und drei Stunden dauern die extrem schmerzhaften Attacken. Bis zu acht solcher Anfälle pro Tag müssen die Betroffenen erleiden. Die einseitig um das Auge auftretenden Schmerzen sind von Augenrötung, Tränen und Nasenlaufen und/oder -verstopfung begleitet. Sie können in zeitlich abgesetzten Perioden in Clustern für mehrere Wochen oder Monate auftreten, es gibt aber auch chronische Verläufe ohne Pausen. Trotz der von vielen als "Folter" beschriebenen Schmerzen erhalten rund 60 Prozent der Betroffenen nie eine adäquate zeitgemäße Behandlung. Nur rund 30 Prozent werden überhaupt adäquat diagnostiziert. Harald Müller, Präsident der CSG, lebt seit rund 25 Jahren mit Clusterkopfschmerzen - einer von rund 400.000 Betroffenen in Deutschland. Nach Angaben Göbels verstreichen von der ersten Attacke bis zur richtigen Diagnose in Deutschland durchschnittlich acht Jahre. Er selbst sieht monatlich zwischen 50 und 70 Patienten mit Clusterkopfschmerzen, weil seine Einrichtung eines von bundesweit acht Kompetenzzentren für diese Erkrankung ist. Ein Hausarzt dagegen bekommt in seinem ganzen Berufsleben nach Schätzung Göbels ein oder zwei Patienten mit Clusterkopfschmerzen zu sehen und kann sie deshalb auch nur schwer diagnostizieren. Im Studium wird über Clusterkopfschmerzen kaum etwas vermittelt, und anschließend kommt alle 15 Jahre ein Patient mit dieser Erkrankung in die Praxis. Die Folgen sind oft Doctor-Hopping und Fehldiagnosen. "Daran können Biografien scheitern und Familien zerbrechen", sagt der Präsident der CSG, Harald Müller. Seine Organisation hat die Kriterien, die sie von einer kompetenten Einrichtung erwarten, selbst formuliert und stellt die Zertifizierung für die Kompetenzzentren aus. Dass inzwischen acht Einrichtungen in Deutschland diese Voraussetzungen erfüllen, betrachtet Müller als Fortschritt, aber nicht als ausreichend. Nördlich von Bochum gibt es derzeit nur Kiel als Kompetenzzentrum. Bundesweit sollte es nach Vorstellungen Müllers ungefähr doppelt so viele geben wie derzeit. Ein paar mehr werden es nach seiner Beobachtung demnächst noch schaffen, die Voraussetzungen zu erfüllen. Außerhalb Deutschlands gibt es bislang keine Kompetenzzentren. Müller hofft nun, dass die deutschen Zentren Vorbild für vergleichbare Einrichtungen in anderen Ländern werden.

Um die Situation zu verbessern, verstärken die Betroffenen die Arbeit auf politischer Ebene. Immerhin konnte für die Kieler Konferenz Martin Schulz als Schirmherr gewonnen werden. Der Präsident des Europäischen Parlamentes schrieb den Teilnehmern: "Unser Organ erkennt an, dass im Bereich der medizinischen Forschung, Analyse und folglich auch der Behandlung von Patienten in Europa ein besser koordinierter Ansatz erforderlich ist." Zugleich machte Schulz deutlich, dass er die Vernetzung zwischen Patienten und medizinischem Fachpersonal schätzt. Auch Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) hofft nun auf grenzüberschreitende Erkenntnisse.

Müller und Göbel sprachen sich außerdem dafür aus, den Zugang zu den Kompetenzzentren zu erleichtern. Zwar hat die Kieler Schmerzklinik inzwischen Verträge mit allen Krankenkassen, ist aber eine Ausnahme. Nicht jede Kasse zahlt an jedem Kompetenzzentrum die Behandlung. Und auch bei der ärztlichen Selbstverwaltung ist laut Müller noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Wenn er in Kassenärztlichen Vereinigungen über die Notwendigkeit von Verordnungen für seine Gruppe sprechen will, fühlt er sich nicht immer ernst genommen.

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150 Teilnehmer, unter ihnen zur Hälfte Patienten, waren vergangenen Monat zur ersten Europäischen Clusterkopfschmerzkonferenz gekommen. Berichtet wurde über die Versorgungssituation in mehreren europäischen Ländern. Zehn Jahre vergehen, bevor Patienten mit Clusterkopfschmerzen in Ungarn adäquat diagnostiziert werden. In Deutschland sind dies acht Jahre, in den Niederlanden nur 3,5 Jahre. Nun soll der grenzüberschreitende Wissensaustausch zu diesem Thema verbessert werden - Kiel war hierfür der Auftakt.

Acht Kompetenzzentren für die Behandlung von Clusterkopfschmerzen gibt es in Deutschland. Die Kieler Schmerzklinik war das erste zertifizierte Zentrum in Deutschland und ist in ganz Norddeutschland bislang das einzige. Das nächstgelegene befindet sich in Bochum. Die Selbsthilfeverbände, die die Einrichtungen selbst zertifizieren, wünschen sich doppelt so viele Zentren und vergleichbare Einrichtungen auch in anderen europäischen Ländern. Auch der Zugang müsse erleichtert werden.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
68. Jahrgang, Nr. 10/2015, Oktober 2015, Seite 12-13
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. November 2015

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