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AIDS/848: Forschung - Virus-Exporteur mit besonderen Aufgaben (RUBIN)


RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Frühjahr 2011
Ruhr-Universität Bochum

Virus-Exporteur mit besonderen Aufgaben

Von Meike Drießen


Um sich in seinem Wirt vermehren zu können, missbraucht das HI-Virus auf ausgeklügelte Art zelluläre Mechanismen in den von ihm infizierten Immunzellen. Dabei spielen verschiedene virale Proteine wichtige Rollen, z. B. Rev, das vor allem als "Exporteur" von "viraler Fracht" arbeitet. Dass es darüber hinaus noch andere Funktionen erfüllen muss, haben Bochumer Virologen jetzt belegen können.


Die Ansteckung mit HIV verläuft auf zellulärer Ebene in zwei Phasen: Befinden sich Viruspartikel im Blut, müssen sie zunächst an den sog. CD4-Rezeptor auf der Oberfläche von Immunzellen andocken, so dass beide Zellmembranen miteinander verschmelzen. Der Inhalt des Viruspartikels wird ins Zellinnere entlassen. Sein Erbgut liegt als RNA vor und muss in DNA umgeschrieben werden, die dann in den Zellkern importiert und ins zelleigene Erbgut eingeschleust wird (Abb. 2 links). In der zweiten Phase wird die Virus-DNA dann genau wie die zelleigene Erbinformation im Zellkern abgelesen und in RNA übersetzt. Die dabei entstehende vollständige RNA-Abschrift des Virus-Genoms wird dann weiterverarbeitet: Sie wird gespleißt, d.h. unnötige Stücke werden herausgeschnitten. So entstehen zuerst einfach gespleißte und daraus zweifach gespleißte RNA-Stränge (Abb. 2 rechts).

Normalerweise kann nur fertig gespleißte RNA den Zellkern verlassen. "Das ist auch sinnvoll, damit nicht irgendwelche halbfertigen Informationen in der Zelle herumvagabundieren und danach überflüssige oder krank machende Proteine hergestellt werden", erklärt Bastian Grewe, der am Lehrstuhl von Prof. Dr. Klaus Überla an HIV forscht. Für die Vermehrung des Virus ist es aber wichtig, dass sowohl vollständige als auch einfach und zweifach gespleißte RNA-Stränge den Zellkern verlassen und in der Zellflüssigkeit zur Verfügung stehen. HIV nutzt daher einen spezialisierten Exporteur: Die "fertige", zweifach gespleißte RNA verlässt auf normalem Wege den Zellkern. Sie enthält den Bauplan für das Protein Rev. Rev kann zurück in den Zellkern wandern und auch "unfertige" RNA hinaus schleusen. Dieser Revshuttle-Service sorgt dafür, dass alle drei RNA-Varianten in der Zellflüssigkeit verfügbar sind (Abb. 2a).

Die unfertigen Varianten tragen Informationen für die Herstellung verschiedener Proteine. Dazu gehören das Protein Gag, dessen Bauplan auf den vollständigen RNA-Strängen liegt, und das Protein Env, kodiert auf den einfach gespleißten RNA-Strängen. Gag kann vollständige RNA- Stränge "abschleppen" in Richtung Zellmembran. Dort lagert es sich mit anderen Gag-Proteinen zusammen und trifft auf Env, das sich ebenfalls zielgerichtet zur Membran bewegt. Gemeinsam erzeugen sie eine "Knospe", in die zwei ganze Virus-RNA-Stränge verpackt werden - ein neues Viruspartikel ist entstanden, das weitere Zellen infizieren kann (Abb. 2b).

Diese ausgeklügelten Mechanismen wollen die Bochumer Forscher genauer verstehen. Besonders das shuttle-Protein Rev hat es Bastian Grewe angetan. Er nutzt ein Virus, das dank gentechnischer Veränderungen keine Information zur Herstellung von Rev enthält. "Bei der sog. Transfektion schleust man veränderte Virus-DNA in Zellen ein", erklärt er. "Dann lässt man die Zelle eine Weile arbeiten und schaut sich später an, was man in der Zellflüssigkeit und im Zellkern findet."

Anfangs vermutete man, dass ohne Rev keine Virusvermehrung möglich sein könnte, weil ohne shuttle keine vollständige und einfach gespleißte RNA aus dem Zellkern herauskommen könnte. Untersuchungen in den 1990er-Jahren bestätigten diese Hypothese. Man fand wie erwartet nur zweifach gespleißte RNA in der Zellflüssigkeit, die den Zellkern auf regulärem Wege verlassen kann. "Wir hatten aber den Verdacht, dass dieser Fund mit den Nachweismethoden zusammenhing, die man damals genutzt hat", sagt Bastian Grewe. Die Bochumer Forscher prüften das ganze daher noch einmal mit sensibleren Techniken.

Als erstes suchten sie nach HIV-Proteinen in den Zellen. Wie erwartet war weder Rev noch Gag zu finden - den Bauplan für Rev hatte man vorher entfernt, der von Gag sollte laut der Theorie den Zellkern ohne Rev-shuttle nicht verlassen. Gab man aber nachträglich den Bauplan für Rev dazu, wurde nicht nur Rev hergestellt, sondern auch Gag (Abb. 3) - ganz wie erwartet.

Im nächsten Schritt untersuchten die Bochumer Forscher die Zellflüssigkeit auf die Anwesenheit von vollständiger RNA. Dazu werden die Zellen zuerst fraktioniert, d.h. man löst die äußere Zellmembran auf und zentrifugiert die Zellen. Wegen ihres größeren Gewichts liegen die Zellkerne dann unten, darüber die Zellflüssigkeit. Durch eine sensitive Nachweismethode lässt sich dann die exakte RNA-Menge in der Zellflüssigkeit bestimmen. Dabei erlebten die Forscher um Prof. Überla eine Überraschung: Auch ohne Rev hatte eine große Menge vollständiger RNA den Zellkern verlassen. "Mit Rev gelangt nur zwei- bis zehnmal mehr ganze RNA in die Zellflüssigkeit", beziffert Bastian Grewe das Ergebnis. "Interessanterweise scheint die Bildung von Gag aber trotzdem nur möglich zu sein, wenn Rev die RNA aus dem Zellkern transportiert hat. Verlässt der Bauplan für Gag den Kern ohne Rev, liegt die RNA brach und wird nicht verwendet." (Abb. 4) Die alte Vermutung war widerlegt. Und neue Fragen taten sich auf: Warum wird Gag ohne Rev nicht gebildet, obwohl der Bauplan auf den vollständigen RNA-Strängen in der Zellflüssigkeit vorliegt? "Rev muss über den shuttle-Service hinaus noch weitere Funktionen haben", folgert der Forscher.

Im nächsten Schritt untersuchte die Arbeitsgruppe also, was passiert, wenn man Gag in den transfizierten Zellen ohne Rev mittels extra eingeschleuster Gag-Baupläne bilden lässt. Die verwendeten Baupläne sind dabei so verändert worden, dass von ihnen auch ohne Rev das Protein Gag gebildet wird. Resultat: Trotzdem funktionieren die Abläufe nicht "normal". Obwohl in der Zellflüssigkeit viel RNA und jetzt auch große Mengen Gag zur Verfügung stehen, wird ohne Rev fast keine RNA in die Viruspartikel verpackt: 1.400mal weniger als mit Rev (s. Abb. 2b und 4). Mit Rev finden sich z.B. eine Millionen RNA-Moleküle in den gebildeten Viruspartikeln, ohne Rev nur noch Tausend RNA-Moleküle in der gleichen Anzahl Viruspartikel. Rev muss also auch bei den Verpackungsabläufen eine wichtige Rolle spielen.

Den zusätzlichen Funktionen von Rev versuchen die Forscher jetzt auf die Spur zu kommen. "Wir haben drei Vermutungen, warum Rev für die Herstellung von Gag und für die Verpackung von RNA so wichtig ist", erklärt Bastian Grewe. Einerseits könnte es sein, dass Rev die RNA aus dem Zellkern an einen bestimmten Ort innerhalb der Zelle bringt, wo sie dann abgelesen und weitertransportiert wird. Ohne Rev würde die RNA irgendwo hin gelangen, wo sie brach liegen bleibt; allenfalls wenige Stränge würden zufällig am richtigen Ort landen.

Eine andere Erklärung wäre, dass die RNA ohne das gebundene Rev eine ungünstige Struktur einnimmt. "Manchmal faltet sich der Strang, und gegenüberliegende Stücke passen so gut zusammen, dass sie aneinander binden", erklärt der Virologe. "Dann entstehen so genannte Haarnadeln." Möglicherweise können solche Formationen dem Ablesen und Transport im Wege stehen.

Die dritte und wahrscheinlichste Ursache ist, dass Rev die Gruppe der zelleigenen Bindungspartner der RNA verändert. Die Bindung von negativ wirkenden Partnern, die ein Ablesen und Transportieren der RNA unmöglich machen, würde dann durch Rev verhindert. "Es ist bekannt, dass zelluläre Bindungspartner eine ganz entscheidende Rolle beim Ablesen und beim Transport von RNA spielen können. Sowohl positive als auch negative Faktoren sind bekannt. Jetzt gilt es die zu finden, die bei HIV eine Rolle spielen", sagt Bastian Grewe.

Die Bochumer Forscher wollen diese Vermutungen nun überprüfen. Bastian Grewe versucht, die RNA so zu verändern, dass sie auch in Abwesenheit von Rev zur Gag-Bildung abgelesen und verpackt wird. Seine Kollegin Bianca Hoffmann untersucht, was in An- und Abwesenheit von Rev an die RNA bindet.

Warum aber der shuttle-Service, wenn die RNA auch ohne Rev aus dem Zellkern in die Zellflüssigkeit gelangt? "Wir vermuten, dass in der shuttle-Aufgabe von Rev ein Evolutionsvorteil liegt, denn sie braucht Zeit. Diese nutzt das Virus, um seine Vermehrung in der Zelle heimlich voranzutreiben, ohne dass schon Partikel freigesetzt und dem Immunsystem präsentiert werden", sagt Bastian Grewe. Würde das Immunsystem schon früh aktiv, könnte es die befallene Zelle töten und der Vermehrung von HIV schnell ein Ende setzen.

Bei der Erforschung der Grundlagen der HIV-Infektion haben die Forscher noch nicht zu allererst antivirale Strategien im Sinn. Zunächst geht es darum, die Prozesse zu verstehen, die HIV im Inneren der Zelle auslöst. "Viren sind Experten für zelluläre Mechanismen", sagt Grewe, "von ihnen können wir eine Menge lernen." So ist die Forschung zum Beispiel durch die Untersuchung des Proteins Rev überhaupt erst dem Mechanismus des Ein- und Ausschleusens von Proteinen in und aus dem Zellkern auf die Schliche gekommen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Seite 46:
Abb. 1: Die effiziente "Verpackung" von neuen Viruspartikeln ist unverzichtbar für die Vermehrung des HI-Virus. Es missbraucht dazu die zelleigene Infrastruktur.

Seite 47:
Abb. 2: Links: Frühe Phase der HIV-Infektion. Das Virus dockt an die Zellmembran an und entlässt seinen Inhalt in die Zelle. Die als RNA vorliegende Erbinformation wird in DNA umgeschrieben, in den Zellkern geschleust und in die zelleigene DNA integriert. Rechts: Die DNA wird in RNA übersetzt und zweimal gespleißt. Nur fertig gespleißte RNA kann den Zellkern verlassen. Sie enthält den Bauplan für das Protein Rev, das den "Rückfahrschein" in den Zellkern hat.
Abb. 2a: Rev schleust "unfertige" RNA-Stränge aus dem Zellkern heraus, nach deren Information dann die Proteine Gag und Env hergestellt werden.
Abb. 2b: Gag und Env lassen sich zur Zellmembran bringen, Gag bringt auch komplette RNA-Stränge mit. Es bildet sich eine Knospe, in die zwei ganze RNA-Stränge verpackt werden. Die Knospe schnürt sich ab, es entsteht ein neues Viruspartikel, das nach einer Zeit der Reifung wieder neue Zellen infizieren kann.

Seite 48:
Abb. 3: Die Western-Blot-Analyse (links) zeigt, dass kein Gag gebildet wird, wenn kein Rev anwesend ist. Gibt man Rev künstlich hinzu, wird auch Gag hergestellt. Die Untersuchung mittels eines sog. ELISA (rechts) zeigt, dass durch Rev ca. 260fach mehr Gag gebildet wird als ohne Rev. Gag kann aber auch ganz ohne Rev gebildet werden, wenn ein speziell veränderter Bauplan für Gag in die Zellen eingeschleust wird.

Seite 49:
Abb. 4: In Anwesenheit von Rev findet man nur zwei- bis zehnmal mehr komplette RNA-Stränge in der Zellflüssigkeit als ohne Rev. Fehlt Rev, wird aber 1.400mal weniger ungespleißte RNA in neue Viruspartikel verpackt. In beiden Fällen wurde der veränderte Bauplan für Gag eingeschleust, so dass Gag auch ohne Rev gebildet werden kann.


Den gesamten Artikel inkl. allen Bildern finden Sie im Internet im PDF-Format unter:
www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/


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Quelle:
RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Frühjahr 2011, S. 46-49
Herausgeber: Rektor der Ruhr-Universität Bochum in Verbindung
mit der Gesellschaft der Freunde der Ruhr-Universität Bochum
Anschrift: Pressestelle der Ruhr-Universität Bochum, 44780 Bochum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. August 2011