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ARTIKEL/472: Pharmaindustrie - In Verruf geraten (Securvital)


Securvital 4/18 - Oktober-Dezember 2018
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen

Pharmaindustrie
In Verruf geraten

von Norbert Schnorbach


Die Rückruf-Aktion für verunreinigte Blutdruckmedikamente hat das Vertrauen in die Pharmabranche erschüttert. Millionen Patienten sind betroffen, die Verunsicherung ist groß. Wie sicher sind Arzneimittel? Wie gut sind die Kontrollen? Welche Gefahren bringt die Globalisierung der Pharmaherstellung?


Der Wirkstoff Valsartan soll den Blutdruck senken und bei Herzschwäche helfen. Doch in den vergangenen Wochen haben die häufig verordneten Tabletten in vielen Ländern für Unruhe gesorgt. Millionen Patienten fürchten um ihre Gesundheit. Ärzte und Apotheker werden mit Fragen überhäuft. Gesundheitspolitiker sind alarmiert und Kontrollbehörden stehen gemeinsam mit Pharmaherstellern - deren Branche reich an Skandalen ist - in der Kritik.

Was ist passiert? Anfang Juli haben europäische Aufsichtsbehörden einen Rückruf und Verkaufsstopp verhängt. Zahlreiche Valsartan-Produkte seien möglicherweise mit einer Substanz verunreinigt, die Krebs erregen kann. Verursacher ist offenbar ein chinesisches Unternehmen, das den Wirkstoff Valsartan in großen Mengen produziert und damit Arzneimittelhersteller in vielen Ländern beliefert.

Die Rückrufaktion ist eine der größten, die es in der Pharmaindustrie je gegeben hat. In zwei Dutzend Ländern wurden die Pillenpackungen aus den Apotheken zurückgerufen, nicht nur in Europa, sondern anschließend auch in den USA, Kanada, China, Japan und weiteren Staaten. In Deutschland sind 17 Medikamentenhersteller betroffen, darunter bekannte Firmen wie Hexal, Ratiopharm, 1A Pharma und Stada. Da Valsartan-Präparate zu den häufig verkauften Medikamenten gegen Bluthochdruck und Herzschwäche gehören, sind die wirtschaftlichen Schäden gewaltig.

Vor allem aber sind die Konsequenzen für die betroffenen Patienten alarmierend. 900.000 Patienten allein in Deutschland könnten nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums das verunreinigte Mittel eingenommen haben. Viele nehmen seit Jahren ein bis zwei Tabletten täglich. Über die gesundheitlichen Auswirkungen sind die Experten besorgt, aber es gibt nur bisher wenig gesicherte Erkenntnisse über die Krebsgefahr.

Soviel ist immerhin bekannt: Die Substanz NDMA (N-Nitrosodimethylamin), die beim chinesischen Pharmazulieferer Zhejiang Huahai Pharmaceuticals in die Valsartan-Produktion geriet, ist von der Internationalen Agentur für Krebsforschung als "wahrscheinlich krebserregend" eingestuft. Sie ist auch in Zigarettenrauch enthalten, in kleineren Mengen auch in gegrilltem Fleisch und geräuchertem Fisch. Nach Informationen des Zentrallaboratoriums Deutscher Apotheker enthält zum Beispiel geräucherter Schinken maximal 2,5 Mikrogramm NDMA pro Kilogramm, für Bier existiere ein technischer Richtwert von 0,5 Mikrogramm. In Valsartan-Blutdruckmitteln wurde ein Vielfaches gefunden, bis zu 22 Mikrogramm pro Tablette. "Das entspricht der 20- bis 70-fachen Menge des Nitrosamins, das wir über Lebensmittel zu uns nehmen", sagte eine Sprecherin des Zentrallaboratoriums.

Wie sich das auf die Gesundheit auswirkt, soll nun genauer untersucht werden. Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) hat ein offizielles Risikobewertungsverfahren eingeleitet. Viel zu spät und viel zu langsam, monieren Kritiker. Nitrosamine gehören zu den stark krebserregenden Stoffen, warnt der Toxikologe Prof. Thomas Eschenhagen aus Hamburg, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Deutschen Herzstiftung.


Nitrosamine

Die Substanz NDMA gehört zur Stoffklasse der Nitrosamine. Für viele Nitrosamine wurde eine krebserzeugende Wirkung in Tierversuchen nachgewiesen. Sie kommen in geringen Mengen in Lebensmitteln vor, etwa in Fleisch, Fisch, Bier und Käse, außerdem auch in Tabak. Sie bilden sich u.a. beim Grillen und Räuchern, wenn Eiweiß mit Nitritpökelsalzen chemisch reagiert. Als Faustregel gilt: Je naturnäher Lebensmittel sind und je weniger Konservierungsstoffe zugesetzt sind, desto geringer ist der Nitrosamingehalt.


Kontrollmängel

Außer dem Verursacher stehen auch die Gesundheitsbehörden in der Kritik, weil die Produktion des chinesischen Zulieferers möglicherweise schon seit 2012 mit NDMA verunreinigt ist und im Kontrollsystem nicht auffiel. Dass die verunreinigten Valsartan-Arzneien jahrelang unbeanstandet in den Handel gelangten, zeugt nicht nur von Qualitätsmängeln in China, sondern auch von einem Versagen bei der Kontrolle vor Ort ebenso wie bei Importen und Weiterverarbeitung. In Deutschland liegt eine Überwachungsaufgabe bei den jeweils zuständigen Länderbehörden. Diese seien aber "maximal überfordert", meint Prof. Wolf-Dieter Ludwig, der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft.

Die Prüfungen müssen dringend intensiviert und die Analysemethoden verbessert werden, fordern Pharmazeuten. Das deutsche Arzneimittelrecht schreibt vor, dass jede in einer Apotheke verwendete Substanz geprüft werden muss, aber für die "Global Player" und ihre Produkte scheine das nicht zu gelten, kritisiert ein Apotheker, der es täglich mit verunsicherten Patienten zu tun hat.

Der Fall Valsartan ist besonders eklatant, aber durchaus nicht der einzige Skandal in dieser Branche. Hohe Wellen schlug kürzlich auch der Fall des brandenburgischen Pharmaunternehmens Lunapharm. Die Firma importierte offenbar dubiose Arzneimittel aus Griechenland und Italien, vor allem teure Medikamente gegen Krebs. Sie waren jedoch nach Erkenntnissen der Behörden nicht mehr gebrauchsfähig, weil die notwendige Kühltemperatur nicht eingehalten wurde. Lunapharm verkaufte sie dennoch an Medikamentengroßhändler und Apotheken in mehreren Bundesländern.

"Die Probleme häufen sich, und wir beobachten das mit großer Sorge. Das Vertrauen in die Sicherheit von Arzneimitteln sinkt", meint der Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA), Friedemann Schmidt. "Wir müssen ausbaden, was uns Deregulierung und der Drang zu immer günstigeren Medikamenten eingebrockt haben." Die Folgen von Globalisierung und Konzentration in der Pharmabranche werden an diesen Problemen deutlich. Die großen Hersteller sind Konzerne mit multinationalen Vertriebs- und Produktionsstrategien. Sie haben beträchtliche Teile der Herstellung in Niedriglohnländer ausgelagert und die Lieferwege so verflochten, dass Qualitätsprüfungen und Kontrollen unsicherer werden. Nach Schätzung von Experten werden mindestens drei Viertel der hierzulande benötigten Wirkstoffe im Ausland produziert, größtenteils in China und Indien.

Impfstoff-Skandal

Beide Länder haben selbst mit Pharma-Skandalen zu kämpfen. In China gab es in diesem Sommer einen Aufschrei, als öffentlich bekannt wurde, dass eine der größten Arzneimittelfirmen des Landes minderwertige Impfstoffe in großer Zahl verkaufte. Das börsennotierte Unternehmen Changsheng Biotechnology fälschte offenbar Unterlagen über die Qualität eines Tetanus-Impfstoffs und lieferte minderwertige Kombi-Impfungen gegen Keuchhusten, Diphterie und Tetanus für staatliche Impfprogramme. Mehr als 200.000 Säuglinge seien damit geimpft worden. Als der Skandal bekannt wurde, fielen die Börsenkurse von etlichen Pharmaunternehmen. Staatspräsident Xi Jinping forderte Konsequenzen. Gegen viele Verantwortliche ergingen Haftbefehle, eine Rückrufaktion im In- und Ausland wurde eingeleitet.

In Indien wiederum kam ein Umweltskandal ans Licht, als Wissenschaftler die Wasserqualität in der südindischen Stadt Hyderabad untersuchten. Dort gibt es zahlreiche Pharmahersteller, die zum Teil auch im Auftrag deutscher Arzneimittelfirmen produzieren. Offensichtlich fließen Abwässer der Pharmabetriebe in den Fluss Musi, der durch die Sieben-Millionen-Stadt Hyderabad fließt. Darin fanden die Wissenschaftler Antibiotika in tausendfach erhöhter Konzentration - eine Brutstätte für multiresistente Erreger und eine unmittelbare Gesundheitsgefahr für die Bewohner. Das zeigt die schmutzige Kehrseite der globalisierten Wirtschaft: Die dort hergestellten Arzneimittel gehen in den Export, auch nach Deutschland. Das Abwasser, die Keime und die Gesundheitsgefährdung bleiben in Indien.

Doch auch in den Industrieländern rumort es mächtig. Insbesondere in den USA, dem weltweit größten und lukrativsten Pharmamarkt weltweit, herrschen im Marketing schlechte Sitten. Eine Geldstrafe von 90 Millionen US-Dollar muss aktuell der britische Pharmakonzern AstraZeneca dem Bundesstaat Texas dafür zahlen, dass der Konzern sein Antidepressivum Seroquel unter der Hand auch für die Behandlung von Kindern bewarb. "Die Anschuldigungen, die zu diesem Vergleich geführt haben, sind besonders beunruhigend, weil das Wohlergehen der Kinder und die Integrität des staatlichen Krankenhaussystems gefährdet wurden", sagte der texanische Generalstaatsanwalt Ken Paxton im Juli. AstraZeneca ist ein Wiederholungstäter, denn eine vielfach höhere Strafe war ihm wegen unerlaubten Seroquel-Marketings bereits im Jahr 2010 (520 Millionen US-Dollar) auferlegt worden. Zudem zahlte der Konzern 350 Millionen US-Dollar, um mehr als 20.000 Klagen wegen unerwähnter Nebenwirkungen dieser Pille beizulegen.


Die häufigsten Arzneimittel

Bluthochdruck (Renin-Angiotensin-System):
59 Millionen Packungen

Schmerzmittel (Analgetika):
55 Millionen Packungen

Herz-Kreislauf (Beta-Blocker):
41 Millionen Packungen

Antirheumatika:
35 Millionen Packungen

Antibakterielle Arzneimittel:
34 Millionen Packungen

Magen-Darm-Präparate:
32 Millionen Packungen

Diabetes-Medikamente:
32 Millionen Packungen

Schilddrüsentherapeutika:
28 Millionen Packungen

Mit 59 Millionen Packungen pro Jahr sind Blutdruckmittel, zu denen auch Valsartan gehört, die am häufigsten verschriebene Arzneimittelgruppe in der gesetzlichen Krankenversicherung. Auf Platz zwei folgen die Schmerzmittel mit 55 Millionen Packungen. Alle Angaben gelten für Deutschland im Jahr 2017.


Geldstrafen

In den ersten fünf Jahren dieser Dekade zahlten weitere acht Branchengrößen, darunter Johnson&Johnson, GlaxoSmithKline und Merck&Co. in den USA saftige Geldbußen wegen Gesundheitsgefährdung und Betrugs von zusammen rund 10 Milliarden US-Dollar. Hinzu kommen immer wieder Kartellstrafen wegen illegaler Preisabsprachen und Marktmanipulationen, in den USA wie auch in Europa. Es scheint, als preisen die Konzerne hohe volkswirtschaftliche Schäden in ihren Vermarktungseifer ein.

Entsprechend ausgefeilt ist auch die Preisgestaltung der Konzerne, soweit sie nicht gesetzlich geregelt ist. In den USA sind die Arzneipreise weitgehend unreguliert. Das führt zu enormen Gewinnmargen und zu solchen Skandalfällen wie jenem Investor, der vor einigen Jahren in den USA ein Medikamentenpatent kaufte und den Preis der für manche Patienten lebenswichtigen Arznei kurzerhand um das 55-fache erhöhte. Statt 13,50 Dollar kostete die Tablette plötzlich 750 Dollar. Der Fall gilt heute noch als Beispiel für Wuchermethoden in dieser Branche.


Informationen für Valsartan-Patienten

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) rät dazu, nicht panisch zu reagieren. Nicht alle Blutdrucksenker enthalten Valsartan und nicht alle Valsartan-haltigen Mittel sind verunreinigt. Ärzte und Apotheker können Auskunft geben, welche Herstellerchargen vom Rückruf betroffen sind. Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) veröffentlicht eine aktualisierte Liste auf www.abda.de im Internet. Niemand sollte ein gewohntes Medikament einfach auf eigene Faust absetzen, raten Mediziner, sondern mit dem Arzt über Alternativen sprechen.

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Quelle:
Securvital 4/18 - Oktober-Dezember 2018, Seite 6-10
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Oktober 2018

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