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FORSCHUNG/1255: Reaktion des Gehirns auf Opioide - Aus-Schalter für Nebenwirkungen (idw)


Max-Planck-Institut für Biochemie - 22.06.2018

Aus-Schalter für Nebenwirkungen


Opioide sind starke Schmerzmittel, die eine Reihe schädlicher Nebenwirkungen haben und zu Abhängigkeit führen können. Forscher aus Deutschland, Österreich und den USA haben jetzt ein Verfahren entwickelt, das tiefere Einblicke in die Reaktion des Gehirns auf Opioide erlaubt. Die Forscher analysierten mittels Massenspektrometrie Veränderungen der Protein-Phosphorylierungsmuster in verschiedenen Gehirnregionen und ordneten sie erwünschten und unerwünschten Wirkungen der Opioidbehandlung zu. Mit diesem Ansatz sollen neuartige Arzneimittel-Targets identifiziert werden. So können neue Klassen von Schmerzmitteln mit weniger Nebenwirkungen entwickelt werden. Die Studie wurde in Science publiziert.

Die Signalkaskaden, derer sich Zellen bedienen, um auf äußere Reize zu reagieren, ähneln der Weisungskette eines Unternehmens. Durch die Aktivierung eines Rezeptors erhalten andere Proteine in den Zellen Anweisungen, vergleichbar mit der Kommunikation des Firmenchefs mit Gruppen von Untergebenen. Diese Informationen werden dann über Signalkaskaden anderer interagierender Proteine an niedrigere Stufen in der Organisationsstruktur weitergegeben. Wie Mitarbeiter, die verschiedene Aufgaben übernehmen, um ein Unternehmen am Laufen zu halten, sind Proteine die molekularen Maschinen in den Zellen, die den Großteil der Funktionen ausüben. In den Zellen werden die Anweisungen durch Veränderung der Funktion dieser "Zellmitarbeiter" an andere Proteine weitergeleitet. Eine Möglichkeit, die Funktion zu verändern, sind "Phosphorylierungen", d. h. die Anlagerung eines Phosphatmoleküls an die Proteine. Indem sämtliche molekulare Schalter gleichzeitig analysiert werden, lässt sich die Aktivität von Signalwegen in Zellen oder einem Organ bestimmen. Die Erforschung dieser Weisungskette erlaubt einen genaueren Einblick in die aktuell stattfindenden Prozesse in den Zellen als die Analyse der DNA, der genetischen "Blaupause", die in allen Zellen mehr oder weniger identisch ist.

Momentaufnahme der Proteinaktivitäten

Forscher im Labor des Max-Planck-Institut für Biochemie (MPIB)-Direktors Matthias Mann beschreiben mittels Massenspektrometrie - einem Verfahren zur Bestimmung der Identität und Quantität von Proteinen in einer Probe - die Phosphorylierungsmuster von Tausenden von Proteinen in verschiedenen Organproben. Dieser Ansatz wird als Phospho-Proteomik bezeichnet. In der jüngst durchgeführten Studie untersuchten die Forscher die Aktivierung von Signalwegen in den unterschiedlichen Gehirnregionen, die auf opioidartige Medikamente ansprechen. Zu diesem Zweck verwendeten die Wissenschaftler eine kürzlich entwickelte Methode namens EasyPhos.

Um die Wirkungsweise von Medikamenten wie zum Beispiel Opioiden zu verstehen, müssen die Forscher ihre Auswirkung auf das Gehirn kennen. "Mit Hilfe der Phospho-Proteomik können wir mehr als 50.000 Phosphorylierungsorte auf einmal untersuchen. Wir erhalten eine Momentaufnahme der Aktivität aller Signalwege zu einem bestimmten Zeitpunkt in den Gehirnproben. Nach Applikation eines opioidartigen Medikaments stellten wir mehr als 1000 Veränderungen fest, was einen globalen Effekt dieser Arzneimittel auf die Signalgebung im Gehirn belegt", erklärt Jeffrey Liu, der Erstautor der Studie. Mit den bislang angewendeten Methoden ließen sich die Proteinphosphorylierungen nicht in einer vergleichbaren Größenordnung erfassen, so dass das An- oder Abschalten vieler wichtiger Signalwege unbemerkt bliebe.

Phospho-Proteomik - ein vielseitiges Werkzeug

"In unserer Studie haben wir die Aktivierung von Signalwegen im Gehirn, die für gewünschte Wirkungen von Opioiden wie zum Beispiel Schmerzlinderung verantwortlich sind, untersucht. Im Gegensatz dazu führt die parallele Aktivierung anderer Signalwege zu unerwünschten Nebenwirkungen", so Liu. Die Forscher bestimmten mittels Phospho-Proteomik, wie aktiv diese zu positiven Effekten bzw. Nebenwirkungen führenden Signalwege sind. Christoph Schwarzer von der Medizinischen Universität Innsbruck, der im Rahmen dieser Studie mit Liu und Mann zusammenarbeitete, legt den Schwerpunkt seiner Forschung auf diese Opioid-aktivierten Signalkaskaden im Gehirn. Bei der Entwicklung neuer Medikamente können die Phospho-Proteomik-Daten der Identifizierung von Substanzen dienen, die eine starke therapeutische Wirkung aufweisen und weniger Nebenwirkungen haben. Darüber hinaus verspricht diese Studie auch eine Reduktion der Nebenwirkungen durch das Eingreifen in die hierfür verantwortlichen Signalkaskaden. Die aktuellen Medikamente aus der Opioidfamilie sind zwar starke Schmerzmittel, bewirken aber eine rasche Abhängigkeit. Daher besteht ein dringender Bedarf an neuartigen Opioiden, die kein Abhängigkeitspotential aufweisen.

Stellt man sich die Proteine im Gehirn als Unternehmen vor, so können Forscher mit Hilfe der Phospho-Proteomik die Aktivität des gesamten Personals gleichzeitig verfolgen anstatt sich auf ein paar ausgewählte Mitarbeiter zu konzentrieren. Die Massenspektrometrie ist ein wirkungsvolles Instrument zur Erforschung von Medikamenten-Targets im Gehirn oder anderen Organen. Massenspektrometrie-Experte Matthias Mann meint dazu: "Die derzeit epidemisch auftretenden Todesfälle im Zusammenhang mit Opioiden in den USA sind ein schockierendes Beispiel für die möglichen Folgen der Verschreibung von Arzneimitteln mit starken Nebenwirkungen wie beispielsweise Abhängigkeit. Mit Hilfe der Massenspektrometrie lassen sich die Wirkungen von Medikamenten umfangreich erfassen, so dass die Entwicklung neuer Medikamente mit weniger Nebenwirkungen optimiert werden kann." Dies sei aber nur eine von vielen Anwendungsmöglichkeiten der Phospho-Proteomik, erklärt Mann. Mit dem Verfahren ließen sich auch Erkenntnisse über die Art und Weise, wie Zellen ihre Weisungsketten zur Informationsverarbeitung einsetzen, und die Wirkungen von Medikamenten in anderen Organen gewinnen. [CW]


Originalpublikation
J. Liu, K. Sharma, L. Zangrandi, C. Chen, S. Humphrey, Y.-T. Chiu, M. Spetea, L.-Y. Liu-Chen, C. Schwarzer and M. Mann:
In vivo Brain GPCR Signaling Elucidated by Phosphoproteomics,
Science, Juni 2018

Über Matthias Mann
Matthias Mann studierte Physik an der Georg-August-Universität Göttingen und promovierte an der Yale University, New Haven, USA. Vor seiner Ernennung zum Direktor des MPIB im Jahr 2005 war er als Gruppenleiter am European Molecular Biology Laboratory (EMBL) sowie der Syddansk Universitet in Odense tätig. In seiner Abteilung "Proteomik und Signaltransduktion" wird das Proteom, d. h. die Gesamtheit aller Proteine eines Organismus, anhand massenspektrometrischer Verfahren untersucht. Zusätzlich wurde Mann 2007 zum Direktor des Instituts für Proteomics an der Universität Kopenhagen ernannt. Mann erhielt zahlreiche Auszeichnungen für seine Forschung, unter anderem den Louis-Jeantet-Preis für Medizin, den Körber-Preis für die europäische Wissenschaft und den Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis.

Über Christoph Schwarzer
Christoph Schwarzer studierte Mikrobiologie und Biochemie an der Universität Innsbruck und erwarb seine Venia docendi in Neurobiochemie an der Medizinischen Universität Innsbruck. Seit 2002 ist er Leiter der Arbeitsgruppe Neurobiochemie im Department Pharmakologie der Medizinischen Universität Innsbruck. Schwerpunktmäßig beschäftigt sich seine Arbeitsgruppe mit den funktionellen Auswirkungen endogener Opioide im gesunden und kranken Organismus. Seit mehreren Jahren ist die pharmakologische Abgrenzung von positiven Effekten und Nebenwirkungen bei Opioiden eines seiner Hauptforschungsinteressen.

Über das Max-Planck-Institut für Biochemie
Das Max-Planck-Institut für Biochemie (MPIB) in Martinsried bei München zählt zu den führenden internationalen Forschungseinrichtungen auf den Gebieten der Biochemie, Zell- und Strukturbiologie sowie der biomedizinischen Forschung und ist mit rund 35 wissenschaftlichen Abteilungen und Forschungsgruppen und ungefähr 800 Mitarbeitern eines der größten Institute der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V. Das MPIB befindet sich auf dem Life-Science-Campus Martinsried in direkter Nachbarschaft zu dem Max-Planck-Institut für Neurobiologie, Instituten der Ludwig-Maximilians-Universität München und dem Innovations- und Gründerzentrum Biotechnologie (IZB). http://biochem.mpg.de

Über Medizinische Universität Innsbruck
Die Medizinische Universität Innsbruck umfasst etwa 2000 Mitarbeiter und circa 3150 Studenten und ist, gemeinsam mit der Universität Innsbruck, die größte Lehr- und Forschungsanstalt im Westen Österreichs. Außerdem fungiert sie als regionale Universität von Tirol, Vorarlberg, Südtirol und Liechtenstein. Die Medizinische Universität Innsbruck bietet die Studiengänge Humanmedizin und Zahnmedizin an; hier können Studierende einen akademischen medizinischen Grad erlangen und im Rahmen eines Promotionsstudiums zum Erwerb des Doktortitels (PhD) wissenschaftlich tätig sein. Der Bachelor-Abschluss in Molekularer Medizin ist seit Herbst 2011 neu im Lehrplan vertreten. Es besteht die Möglichkeit, das Studium bis zur Erlangung des Master-Titels in Molekularer Medizin fortzusetzen. Die Medizinische Universität Innsbruck ist an zahlreichen internationalen Programmen und Netzwerken in Lehre und Forschung beteiligt. Die Forschungsschwerpunkte umfassen die Bereiche Onkologie, Neurowissenschaft, Genetik, Epigenetik und Genomik sowie Infektionskrankheiten, Immunologie & Organ- und Gewebereparatur. Neben der wissenschaftlichen Forschung ist die Medizinische Universität Innsbruck auch auf dem wettbewerbsintensiven Gebiet der Forschungsfinanzierung national und international sehr erfolgreich.
https://www.i-med.ac.at/mypoint/

Weitere Informationen finden Sie unter
http://www.biochem.mpg.de
Webseite des Max-Planck-Institutes für Biochemie
http://www.biochem.mpg.de/mann
Webseite der Abteilung von Matthias Mann

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution25

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Max-Planck-Institut für Biochemie - 22.06.2018
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juni 2018

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