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ARTIKEL/665: Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland - Probleme und Herausforderungen (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 177 - Heft 03/22, Juli 2022
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland
Probleme und Herausforderungen

von Sandra Nicklaus und Claudia Chodzinski


Der von den Autorinnen als Vertreterinnen des DGSP-Fachausschusses Kinder und Jugendliche verfasste Beitrag gibt eine Einführung in dieses SP-Themenheft und stellt grundlegende Aspekte der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland dar.


Selten war es so nötig, sich mit dem Thema der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu befassen wie in der heutigen Zeit. In den letzten elf Jahren hat sich die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die psychotherapeutisch behandelt wurden, mehr als verdoppelt. Bundesweit reden wir von rund 823.000 Kindern und Jugendlichen, die im Jahr 2019 Psychotherapie im erweiterten Sinne bezogen, davon 382.000 Kinder und Jugendliche mit Richtlinientherapie. Die Corona-Pandemie hat die Vulnerabilität für psychische Störungen von Kindern und Jugendlichen noch zusätzlich erhöht. Anfang 2021, also knapp ein Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie, veröffentlichte das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) die COPSY-Studie (1), der zufolge jedes dritte Kind unter psychischen Auffälligkeiten litt.

Hinzu kommen die jüngsten Belastungen und Krisen, wie die Kriegs- und Konfliktsituationen auf der Welt und die immer offenkundiger werdende Klimakrise, die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen haben. Bestehende Belastungen und reelle Zukunftsängste müssen angegangen und bewältigt werden. Und nicht zuletzt erwarten wir aufgrund des Krieges in der Ukraine erneut eine Welle schwer belasteter bis traumatisierter Kinder und Jugendlicher, die Schutz und Heimat in Deutschland suchen.

Umso mehr begrüßen wir vom Fachausschuss Kinder und Jugendliche, dass sich die "Soziale Psychiatrie" in dieser Ausgabe den Problemlagen und den damit verbundenen Herausforderungen für die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen in Deutschland stellt. Inhalte und Themen sollen in ihrer Komplexität dargestellt werden und nicht nur Fachleute, Betroffene und Engagierte angesprochen, sondern auch als dringender Aufruf an Politik und Gesellschaft verstanden werden.


Veränderte Lebenslagen

Wenn wir präventiv und vorausschauend psychisches Leid und die Manifestierung psychiatrischer Störungen angehen wollen, müssen wir bei den Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen beginnen. Die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen hat sich in den letzten Jahrzehnten in vielerlei Hinsicht verändert. Die Familienstrukturen wandeln sich, es gibt zunehmend Ein-Elternsituationen, aber auch veränderte Bindungssysteme, wie z. B. die Auflösung und der Verlust der Großfamilien. Viele Familiensysteme sehen sich weiteren Problemen gegenüber: finanzielle Schwierigkeiten, ungenügende qualitative und quantitative Betreuungsressourcen, generationsübergreifende Bindungsstörungen, psychische Belastungen der primären und sekundären Bezugspersonen. Nicht nur die Eltern, sondern auch Kita-Fachkräfte und Lehrerinnen und Lehrer weisen eine zunehmende Destabilisierung ihrer psychischen Belastbarkeit auf, was sich zusätzlich auf die Kinder und Jugendlichen auswirkt. Ferner muss auch hier auf den in den letzten Jahren gestiegenen Medienkonsum hingewiesen werden, der immer wieder in der Fachdiskussion für Auffälligkeiten und Störungen verantwortlich gemacht wird, sowie auf einen hohen Leistungs- und Funktionsanspruch im Elternhaus, in den Schulen und den Kitas. Insgesamt hat sich die psychische Stabilität und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, trotz zunehmender Unterstützungsangebote und Hilfeleistungen, nicht wesentlich verbessert. Es ist aus unserer Sicht auch nicht richtig, die bestehende Problematik - wie aktuell immer wieder geschehen - allein der pandemischen Lage zuzuschreiben. Die gesamten Problemlagen scheinen offenbar auch nicht mehr im System "Familie" kompensiert werden zu können. Die Gründe dafür sind ebenfalls vielfältig, wie z. B. bei psychischen Störungen der Eltern u.v.m. Das System Familie scheint somit selbst anfälliger für psychische Probleme und Störungen zu werden.


Vorschnelle Pathologisierung

Kinder und Jugendliche werden häufig, im Sinne des systemischen Denkens, zu Symptomträgerinnen und Symptomträgern von Familien- und gesellschaftlichen Systemen. Die notwendigen präventiven und systemischen Angebote zu Unterstützung und Behandlung bleiben jedoch aus Kapazitätsgründen häufig aus. Die Symptome, wie Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsverzögerungen etc. werden nur an der Oberfläche behandelt. Das bedeutet, dass Kinder und Jugendliche oft vorschnell mit psychiatrischen Diagnosen pathologisiert werden, um überhaupt erst einmal in einen Leistungsbezug zu gelangen. Die Folgen sind dann u. a., dass hier Lebensläufe nachteilig beeinträchtigt werden und die häufig darauffolgenden Angebote der Wiedereingliederungshilfen massiv expandieren (müssen).

Diese Kinder und Jugendlichen erfahren dann häufig noch zusätzliche Belastungen im Kinder- und Jugendhilfesystem: durch Mehrfachbelastungen, zuerst in den Primärfamilien, und dann möglicherweise noch im Hilfesystem durch wiederholte Bindungsabbrüche, durch Gewalt in Institutionen etc.

Spätestens in der Adoleszenz der betroffenen Kinder tritt zutage, was zuvor im Hinblick auf frühe präventive Interventionen und systemische Angebote für belastete Eltern, Familien und Kinder versäumt wurde. Hier spitzen sich die Problemlagen häufig zu, sodass wir eine beginnende Chronifizierung psychischer Belastungen beobachten und die Betroffenen als sogenannte "Systemsprenger" die Hilfesysteme und Netzwerke, in denen sie leben, "prüfen". Dies macht einen flächendeckenden Ausbau einer Transitionspsychiatrie zwingend notwendig.


Beeinträchtigte Bezugspersonen

Ca. 3,8 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland leben mit einem psychisch erkrankten oder suchterkrankten Elternteil zusammen. Die Dunkelziffer bzw. die Zahl der Eltern/Bezugspersonen, die keine diagnostizierte psychiatrische Störung haben, aber dennoch als "beeinträchtigte Bezugspersonen" gelten, liegt weitaus höher. Zu diesen beeinträchtigten Bezugspersonen gehören Eltern, die selbst instabile bis desorganisierte und traumatisierende Bindungserfahrungen gemacht haben und diese unbewusst weitergeben, sowie Eltern, die als emotional "unreif" gelten und in ihren Erziehungs- und Elternkompetenzen eingeschränkt sind. Auch das Leben dieser Kinder- und Jugendlichen ist beeinträchtigt, auch wenn diese Lebenssituation mitnichten immer eine Kindeswohlgefährdung darstellt.

Bereits die im Jahr 1998 veröffentlichte ACE-Studie (Adverse Childhood Experiences Study) (2) zu belastenden Kindheitserfahrungen weist einen Zusammenhang zwischen belastenden Kindheitserfahrungen eines Menschen und den lebenslangen gesundheitlichen Folgen für sein Wohlbefinden nach. Die Studie umfasst Daten von 17.421 Personen, die sich in einer Langzeitbeobachtung ihres Gesundheitszustands befanden, und beschäftigt sich mit Erfahrungen u. a. in den Bereichen der körperlichen Vernachlässigung und Misshandlung, der emotionalen Vernachlässigung und Misshandlung sowie des sexuellen Missbrauchs. Die höchst relevanten Ergebnisse der ACE-Studie haben in Deutschland bisher zu wenig Berücksichtigung gefunden. Gleiches gilt für die vom Robert-Koch-Institut (RKI) initiierte KIGGS-Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, einer Langzeitstudie, die Aussagen zu Trends der gesundheitlichen Situation von Kindern und Jugendlichen zwischen 0 und 17 Jahren aufzeigt. (3)

Auch die Belastungssituationen, die sich für Kinder und Jugendliche in Umgangs- und Sorgerechtsverfahren ergeben, werden immer erwähnenswerter. Besonders kleine Kinder, die willkürlichen Entscheidungen von Familiengerichten, Umgangs- und Verfahrenspfleger/-innen ausgesetzt sind, erleiden hier zunehmend psychische Belastungen.

Inwieweit das seit Juni 2021 in Kraft getretene Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) bei den genannten Problemstellungen Abhilfe schaffen kann, bleibt abzuwarten.


Traumatisierungen

Besorgniserregend sind ebenso die zunehmenden Fallzahlen zu Kindeswohlgefährdungen - auch dies bereits vor der Pandemie. Im Jahr 2019 kam es bundesweit zu 173.000 gemeldeten Verdachtsfällen, 15.800 mehr als 2018. Bei rund 55.500 Kindern und Jugendlichen wurde eine Kindeswohlgefährdung festgestellt, bei den anderen ein Hilfe- und Unterstützungsbedarf. Im ersten Corona-Jahr 2020 waren es rund 5.000 Fälle (+ 9 Prozent) mehr als 2019, jedes dritte betroffene Kind war jünger als fünf Jahre. Die psychischen Misshandlungen, wie z. B. emotionale Vernachlässigung, emotionale Gewalt und Bindungsstörungen, sind dabei besonders stark gestiegen (+ 17 Prozent). (4)

Wie hoch die Zahl traumatisierter Kinder und Jugendlicher in Deutschland ist, kann nicht klar beantwortet werden. Eine zentrale Erfassung der Fälle von Misshandlungen und Vernachlässigung über die Jugendhilfe erfolgt in Deutschland nicht. Jeden dritten Tag stirbt ein Kind in Deutschland an den Folgen von Misshandlung. (5) Das Ausmaß erfahrener emotionaler und sexueller Gewalt ist hoch, die Dunkelziffer weitaus höher. Bei welchen Kindern auffällige Symptome im Zusammenhang mit Traumatisierungen (an-)erkannt werden, ist abhängig von der Aufmerksamkeit und dem Fachwissen von Pädagoginnen und Pädagogen, Ärztinnen und Ärzten usw.

Dabei beobachten wir auch, dass betroffene Kinder nicht alle fachgerecht behandelt und unterstützt werden. Ähnlich wie im Bereich der Erwachsenenpsychiatrie werden andere Diagnosen, wie z. B. Depressionen, über die Diagnosen einer Traumatisierung gestülpt. Die Folgen sind Falsch- und Fehlbehandlungen; so wird z. B. auf ADHS diagnostiziert oder es erfolgt gar keine Behandlung. Ebenso lässt die konsequente Umsetzung des § 35a SGB VIII zu wünschen übrig, denn viele betroffene Kinder mit Traumafolgestörungen finden sich mittlerweile in Einrichtungen der Behindertenhilfe aufgrund SGB IX und erfahren keine fundierte traumapädagogische Versorgung.


Steigende Psychopharmakaverordnungen

Der Einsatz von Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen ist in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Eine gute Überblicksarbeit, die eine bundesweite Auswertung von über vier Millionen gesetzlich versicherten Kindern und Jugendlichen von 2004 bis 2012 beschreibt, findet sich im Deutschen Ärzteblatt. (6) Vergleichbare Arbeiten, wie der TK-Verordnungsreport (7) von 2022, belegen den steigenden Trend.

Psychopharmakaverordnungen sind ein weiteres Thema, welches wir nicht nur aus der Fachperspektive betrachten dürfen, sondern das auch gesamtgesellschaftlich und politisch in den Fokus genommen werden muss, nicht erst seit der "Affäre Winterhoff". Im August 2021 berichteten die Süddeutsche Zeitung und der WDR erstmals darüber, dass der gleichermaßen bekannte wie umstrittene Kinderpsychiater Michael Winterhoff dutzenden Kindern Diagnosen ausgestellt hat, die in den gängigen Klassifizierungssystemen nicht vorkommen und diesen Kindern jahrelang Neuroleptika verordnete - häufig Pipamperon, ein stark sedierendes Medikament, welches nur bei Kindern und Jugendlichen mit heftigen Aggressionen über einen kurzen Zeitraum eingesetzt werden sollte. (8) Die Diskussion um die Off-Label-Verordnungen, die Nebenwirkungen und Langzeitfolgen langjähriger Medikamentierung, resultierend aus der mangelhaften Umsetzung alternativer Behandlungsansätze, muss endlich mehr kritische Beachtung finden. Mit diesen und vielen weiteren Themen der Kinder- und Jugendpsychiatrie/-hilfe befasst sich der Fachausschuss Kinder und Jugendliche der DGSP in den regelmäßigen Treffen (zwei- bis viermal im Jahr). Wer Interesse an der Mitarbeit hat, kann sich gerne an die Sprecherin des Fachausschusses wenden. (9)


Sandra Nicklaus, Dipl.-Sozialpädagogin / Dipl.-Sozialarbeiterin, Systemische Familientherapeutin (DGSF)

Claudia Chodzinski, Dipl.-Sozialpädagogin, Soziotherapeutin, Traumafachberaterin und Bindungspsychotherapeutin
www.claudia-chodzinski.de


Anmerkungen

(1) Siehe: https://link.springer.com/article/10.1007/s00103-021-03291-3
(letzter Zugriff: 14.05.2022) und Deutsches Ärzteblatt, Jg. 117, Heft 48, 27, November 2020, 828-829

(2) Felitti, Vincent J.; Fink, Paul Jay; Fishkin, Ralph E.; Anda, Robert F. (2007) Ergebnisse der Adverse Childhood Experiences (ACE) - Studie zu Kindheitstrauma und Gewalt. In: Trauma & Gewalt, Mai 2007, 1. Jg., Heft 2, 18-32

(3) www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsJ/FactSheets/JoHM_03_2018_Psychische_Auffaelligkeiten_KiGGS-Welle2.pdf?__blob=publicationFile
(letzter Zugriff: 14.05.2022)

(4) Siehe: Pressemitteilung Statistisches Bundesamt vom 02.05.2022:
www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/07/PD21_350_225.html

(5) Siehe: Pressemitteilung Bundeskriminalamt: Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) 2020 vom 26.05.2021:
www.bka.de/DE/Presse/Listenseite_Pressemitteilungen/2021/Presse2021/210526_pmkindgewaltopfer.html?nn=143612#Start
(letzter Zugriff: 14.05.2022)

(6) Abbas, Sascha; Ihle, Peter; Adler, Jürgen-Bernhard; Engel, Susanne; Günster, Christian; Linder, Roland; Lehmkuhl, Gerd; Schubert, Ingrid (2016) Psychopharmaka-Verordnungen von Kindern und Jugendlichen. In: Dtsch. Ärztebl., 113, 22-23, 396-403;
www.aerzteblatt.de/archiv/179542/Psychopharmaka-Verordnungen-bei-Kindern-und-Jugendlichen-in- Deutschland#:~:text=Die%20Zunahme%20der%20Psychopharmaka%2DP,erneut%20eine%20Psychopharmaka%2DTherapie%20 erhielten
(letzter Zugriff: 14.05.2022)

(7) www.tk.de/resource/blob/2121446/b3a679ef9aad197e0b57c84a03c3c4bc/tk-report-kinder-und-arzneimittel-data.pdf
(letzter Zugriff: 14.05.2022)

(8) Siehe u. a.: www.ardmediathek.de/video/die-story/warum-kinder-keine-tyrannen-sind/wdr/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFn-LTFlZmMzNWE5LWE3ZWYtNDJhMS04M-jJiLTc3NjRjMmU3OTY1YQ
(letzter Zugriff: 14.05.2022)


Quellen

Fegert, J.M.; Hauth, I.; Banaschewski, T.; Freyberger, H.J. (2017) Übergang zwischen Jugend und Erwachsenenalter: Herausforderungen für die Transitionspsychiatrie. Eckpunktepapier von DGKJP und DGPPN. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 45, 80-85

www.bmfsfj.de/resource/blob/183046/9880e626ab0dfcf849ec16001538f398/kabinett-aus-wirkungen-corona-kinder-jugendliche-data.pdf
(letzter Zugriff: 14.05.2022)

*

Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 177 - Heft 03/22, Juli 2022, Seite 4-6
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/51 10 02, Fax: 0221/52 99 03
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 3. Februar 2023

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