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ARTIKEL/666: Zwischen Biomedizin, Recovery und Neurodiversität - Braucht die Sozialpsychiatrie ein Krankheitsmodell? (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 178 - Heft 04/22, Oktober 2022
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Zwischen Biomedizin, Recovery und Neurodiversität - Braucht die Sozialpsychiatrie ein Krankheitsmodell?

von Dirk Richter


Der Beitrag gibt einen Überblick über die verschiedenen Positionen und Fragestellungen zu einem psychiatrischen Krankheitsmodell und versucht einen sozialpsychiatrischen Lösungsansatz zu skizzieren.


Die Sozialpsychiatrie hat - historisch gesehen - ein durchaus ambivalentes Verhältnis zum Konzept der "psychischen Krankheit". Ein Teil der sozialpsychiatrischen Bewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts orientierte sich an der Anti-Psychiatrie, also der Infragestellung des Krankheitskonzepts und der Autorität der psychiatrischen Profession sowie der Macht der psychiatrischen Institutionen (1). Ein anderer Teil der sozialpsychiatrischen Bewegung hingegen machte sich auf, die traditionelle Institutionszentrierung der psychiatrischen Versorgung durch eine Orientierung an der Lebenswelt der betroffenen Personen und ihrer sozialen Bezüge zu reformieren. Dieser Teil der Bewegung hatte keine prinzipiellen Einwände gegen das Krankheitskonzept und die Nutzung von Diagnosen, sondern befürwortete die Normalisierung der Psychiatrie im Sinne einer medizinischen Disziplin, wie sie denn auch im Verlauf des 20. Jahrhunderts stattgefunden hat (2).

Das konventionelle Krankheitskonzept der Psychiatrie wird gegenwärtig auch weniger von einer kritischen Anti-Psychiatrie infrage gestellt, sondern eher von Nutzenden und Betroffenen der Versorgung. Darüber hinaus wird aus einer wissenschaftlichen Perspektive - wie gleich noch zu zeigen sein wird - die Validität, also die biologische Fundierung psychiatrischer Diagnosen bezweifelt. Zwischen diesen Polen, der mehr oder minder unkritischen Anwendung des Konzepts psychischer Störungen, der massiven Kritik von Teilen der Betroffenenbewegung sowie der Grundlagenforschung, welche die Nutzung konventioneller Diagnosen für die Therapieforschung hinterfragt, ist die Diskussion um das psychiatrische Krankheitsmodell angesiedelt.


Die Bedeutung des Krankheitskonzepts

Wieso haben das medizinische Krankheitskonzept und die daraus abgeleiteten Diagnosen für psychische Störungen überhaupt eine solche Relevanz? Mit der bereits angedeuteten Entwicklung der Psychiatrie zu einer "normalen" medizinischen Disziplin ging eine deutlich gesteigerte Bedeutung der "psychischen Krankheit" und der formalen Diagnosen einher. Die Frage "Ist diese Person psychisch krank? / Bin ich psychisch krank?" hat zunächst einmal Auswirkungen auf die Finanzierung von Massnahmen der psychiatrischen Versorgung: ohne Diagnose keine Leistung. Die spezifische Diagnose, aber auch die Feststellung einer psychischen Störung generell, sind darüber hinaus für die Selbstwahrnehmung der betroffenen Personen sowie für die Kommunikation unter Fachpersonen und zwischen Fachpersonen und Betroffenen von Bedeutung. Nicht wenige Nutzende sind froh, wenn ihnen eine bestimmte Diagnose als "Erklärung" ihrer Schwierigkeiten mitgeteilt wird.

Es bleibt jedoch nicht nur der Aspekt der Verständigung. Die Feststellung einer psychischen Störung und die Mitteilung einer Diagnose sind nicht selten auch Anlässe für Konflikte zwischen Nutzenden und Fachpersonen in der psychiatrischen Versorgung (3). In Kombination mit Fremd- oder Selbstgefährdung kann die Attestierung einer psychischen Störung bekanntermaßen zu einem unfreiwilligen Klinikaufenthalt und - je nach rechtlichen Bedingungen - auch zu einer Zwangsbehandlung führen. In einem weiteren Zusammenhang damit stehen zudem forensisch-rechtliche Aspekte. In zahlreichen juristischen Verfahren spielt hinsichtlich Schuldfähigkeit und Urteilsfähigkeit die Frage des Vorliegens einer psychischen Krankheit eine zentrale Rolle. Und schließlich werden psychische Krankheiten im Allgemeinen und einzelne Störungsbilder im Besonderen für den Ausschluss von Personen vom Zugang zu bestimmten Leistungen und Sozialsystemen herangezogen. Dies betrifft beispielsweise die Möglichkeit, mit Unterstützung in den allgemeinen Arbeitsmarkt inkludiert zu werden. Psychische Störungen werden in vielen Regionen als Begründung angeführt, wieso dies nicht möglich ist und weshalb eher der zweite Arbeitsmarkt in Form von Werkstätten angemessener sein soll. Aus empirischen Untersuchungen ist etwa bekannt, dass Menschen mit einer Psychose heute weniger Chancen auf Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt haben als in früheren Jahren (4) - und dies, obwohl einschlägige Programme wie das Supported Employment eigentlich ausschließlich für diesen Personenkreis entwickelt worden sind.


Krankheitsmodelle in der Psychiatrie

In der psychiatrischen Forschung sowie in der Versorgung werden zahlreiche unterschiedliche Krankheitsmodelle diskutiert. Eine kürzlich publizierte Übersichtsstudie konnte über 30 verschiedene Modelle identifizieren, welche seit der Jahrtausendwende in der wissenschaftlichen Literatur verwendet wurden (5). Die wesentlichen und am häufigsten gebrauchten Modelle werden nachfolgend kurz skizziert. Die bibliografischen Details zu den Modellen sind in der gerade zitierten und frei zugänglichen Übersichtsstudie enthalten.

Das biologische / biomedizinische Modell geht von einer Störung der Hirnfunktion aus, wenn eine psychische Krankheit diagnostiziert wird. Diese Störung wird gewissermassen als ein natürliches Ding (engl. "natural kind") verstanden.

Das Modell der schädlichen Dysfunktion beschränkt die Dysfunktionalität nicht ausschließlich auf das Gehirn, sondern bezieht auch psychische Funktionen mit ein und sieht darüber hinaus soziale Folgen und Interpretationen als relevant an.

Das in der Sozialpsychiatrie relevante Konzept ist das biopsychosoziale Modell. Dieses Modell geht einerseits von der Gleichwertigkeit der Bedeutung der Biologie, der Psyche und des sozialen Umfelds für die Entstehung psychischer Störungen aus. Andererseits betont das Modell auch diese drei Bereiche in therapeutischer Hinsicht, also Pharmakotherapie, Psychotherapie und Massnahmen im Lebensumfeld der betroffenen Personen. Was genau die psychische Störung ist, das lässt dieses Modell im Ungefähren. Psychische Störungen werden als praktische Dinge (engl. "practical kinds") betrachtet, bei denen man nicht genau weiß, was das denn ist.

Das derzeit in der Forschung für besonderes relevant gehaltene psychologische Modell ist die sogenannte Netzwerk-Theorie. Diese geht von sich gegenseitig bedingenden Triggern psychischer Symptome aus: Soziale Probleme führen zu Grübeln, dies führt zu Schlaflosigkeit, welche dann innere Unruhe auslösen kann und schließlich in eine depressive Verstimmung mündet. Dieses psychologische Modell betont die Eigenständigkeit der psychischen Phänomene und bestreitet die ausschließlich biologischen Ursachentheorien.

Das Recovery-Modell hingegen siedelt sich nicht mehr nur im Krankheitsbereich an, sondern betont Sinnsuche und individuelle Entwicklungsmöglichkeiten trotz und teils sogar wegen der psychischen Probleme, die eben nicht nur negativ betrachtet werden.

Das Konzept der psychosozialen Behinderung geht zurück auf die Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen (UN-BRK). Die UN-BRK betont dabei die Tatsache, dass nicht die individuellen Personen behindert sind, sondern diese durch die soziale Umwelt in ihren Möglichkeiten behindert werden.

In eine ähnliche Richtung argumentiert auch das Neurodiversitätsmodell. Dieses aus der Autismus-Community stammende Konzept beschreibt die Unterschiedlichkeit menschlicher Biologie und kognitiver Eigenschaften. Diese Unterschiedlichkeit rechtfertigt dem Modell zufolge nicht die Feststellung einer psychischen Störung.

Und schließlich wird auch das aus den 1960er Jahren stammende Konzept des Mythos der psychischen Störung nach wie vor vertreten. Das Mythos-Konzept bestreitet die Möglichkeit einer psychischen Krankheit, da Krankheiten per Definition an physische Läsionen gebunden seien.


Existieren die heute bekannten psychischen Störungen überhaupt?

Die beschriebenen Modelle widersprechen sich - wie deutlich geworden sein sollte - fundamental. Da keine objektiven Merkmale für psychische Krankheiten vorhanden sind, kann die Frage nach der Existenz dieser Phänomene im Sinne medizinischer Objekte nicht bejaht werden. Dies gilt auch für die aktuell in der Neurowissenschaft propagierten Biomarker, deren Aussagekraft als unabhängige Kriterien eben nicht vorhanden ist.

Interessanterweise wird die Existenz der gebräuchlichen Diagnosen gemäß ICD oder dem amerikanischen Manual DSM heute nicht von der Anti-Psychiatrie überwiegend bestritten, sondern von der neurowissenschaftlichen und der taxonomischen Forschung. Letztere befasst sich mit Ordnungssystemen. Diese Forschung propagiert schon seit Längerem, dass Diagnosen wie die Depression oder die Angst und die entsprechenden Klassifikationssysteme nicht valide und damit für die Forschung und für die Therapie nicht zu gebrauchen sind (6). Eines der zentralen Probleme der heutigen Klassifikationssysteme ist die sogenannte Komorbidität, also die oftmals gleichzeitig vorkommenden Symptome wie Angst und Depression. Ein weiteres Problem ist die Tatsache, dass die Systeme willkürlich zwischen krank und gesund trennen, während die psychischen Phänomene unbestritten als kontinuierliche Dimensionen aufzufassen sind.

Neben der Problematik der schwierigen Abgrenzbarkeit einzelner Störungsbilder und der Schwierigkeit, krank und gesund zu definieren, besteht in der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung zudem eine grosse Unsicherheit hinsichtlich der Existenz der menschlichen Psyche. Ähnlich der zitierten Übersichtsarbeit über Krankheitsmodelle hat eine weitere Studie unlängst ca. 20 unterschiedliche Ansätze von Theorien über das menschliche Bewusstsein identifiziert, die sich zum Teil ebenfalls fundamental widersprechen (7). Das heißt, wir wissen aus einer naturwissenschaftlichen oder medizinischen Perspektive nicht, ob Menschen überhaupt eine Psyche oder ein Bewusstsein haben und ob es psychische Störungen im bekannten Sinne gibt.

Angesichts der gleichwohl weitverbreiteten Überzeugung, dass psychische Krankheiten existieren, lässt dies den Schluss zu, dass es sich dabei um soziokulturelle Konstrukte handelt. In der Soziologie beobachtet man seit den 1950er Jahren eine Entwicklung, die Psychologisierung genannt wird. Damit ist eine deutlich zunehmende Relevanz des psychischen Erlebens in der modernen Gesellschaft gemeint (8). Mit dem Konzept der Psychologisierung kann auch der Widerspruch zwischen der - zumindest bis zur Corona-Pandemie - nicht steigenden Rate psychischer Probleme in der Bevölkerung einerseits und des wahrgenommenen Anstiegs psychischer Belastungen in der Gesellschaft aufgeklärt werden.


Braucht die Sozialpsychiatrie denn nun ein eigenes Krankheitsmodell?

Psychische Störungen sind soziokulturelle Konstrukte. Das macht sie nicht weniger real als andere derartige Konstrukte, die für unser Leben von massiver Bedeutung sind, wie etwa Geld, Liebe oder politische Macht. All dies existiert nicht materiell, aber ist dennoch vorhanden. Und all dies hat gemeinsam, dass es viele Menschen gibt, die von der Existenz und Relevanz der Phänomene nicht überzeugt sind. Ähnlich verhält es sich auch mit psychischen Krankheiten. Viele Menschen sind - wie gesagt - von deren Existenz und Bedeutung für ihr Leben überzeugt, aber viele - und sicher weniger - Menschen lehnen die Konstrukte für sich ab. Empirisch zeigt sich dies beispielsweise in den gleichzeitig ansteigenden Zahlen der freiwilligen Inanspruchnahme therapeutischer Leistungen und eben auch in der Zahl der unfreiwilligen Einweisungen in psychiatrische Kliniken, wie es etwa in den letzten Jahren in der Schweiz zu beobachten war.

In der Zusammenschau heißt dies, dass weder bei den Krankheitsmodellen noch bei den in der Bevölkerung vorhandenen Überzeugungen zu psychischen Störungen Klarheit besteht. Wenn zudem weder die Wissenschaft noch die Fachpersonen es wirklich besser wissen, dann lässt das für mich nur den Schluss zu, dass die betroffenen Menschen selbst entscheiden sollen, ob sie psychisch krank sind oder nicht. Die Sozialpsychiatrie braucht kein eigenes Krankheitsmodell, sie muss hingegen in der Lage sein, die widersprüchlichen Überzeugungen zu integrieren, und auch Unterstützung für Menschen anbieten können, die sich nicht für krank halten.

Mit einer derartigen Selbst-Deklaration könnte die Sozialpsychiatrie dem Vorbild in der biologischen / sozialen Geschlechtsidentifikation (9) folgen, bei der die entsprechende Selbstbestimmung in vielen Ländern gegenwärtig in geltendes Recht umgesetzt wird. Zudem könnte die Sozialpsychiatrie den aktuellen Forderungen der Nichtdiskriminierung von Menschen mit bestimmten Eigenschaften gerecht werden. Im englischsprachigen Raum wird dies unter den Stichworten "epistemische Ungerechtigkeit" (10) sowie "Ableism" und "Sanism" (11) verhandelt. Damit ist gemeint, dass die Sichtweisen von betroffenen Menschen nicht von vornherein infragestellt oder diskriminiert und diskreditiert werden dürfen. Abwertung und Pathologisierung bestimmter Eigenschaften und damit verbundener Menschen soll auf diese Weise vorgebeugt werden.


Praktische Folgen und Dilemmata

Eine der wenigen Gewissheiten, die über alle psychiatrischen Lager hinweg geteilt werden, ist die Tatsache, dass psychische Phänomene dimensionaler Natur sind. Wir alle befinden uns hinsichtlich dieser Phänomene wie Stimmungen, Stimmenhören oder Suchtmittelkonsum auf einem gewissen Spektrum: manche haben mehr davon, andere weniger. Mit einem abgewandelten Begriff aus der Autismus-Community kann dies "neurokognitive Diversität" genannt werden. Damit wird verdeutlicht: Man bleibt agnostisch bezüglich der Gehirn / Psyche-Trennung und geht von einem Spektrumkonzept aus, das sowohl neurowissenschaftlich als auch in der Betroffenenbewegung anschlussfähig ist.

Ein weiteres relevantes Spektrum könnte an die oben skizzierte Selbst-Deklaration anschließen. Hinsichtlich der Krankheitskonzepte existiert ebenfalls ein Spektrum, welches die betroffenen Personen für sich bewerten können. Dies reicht unter anderem von "krank im biologischen Sinne" über "traumatisiert" bis hin zu "behindert durch meine soziale Umgebung" oder "Ich bin neurodivergent".

Eine derartige Selbst-Deklaration hätte recht drastische Konsequenzen zur Folge. Wenn wir weder wissenschaftlich noch aus fachlicher Sicht wissen, ob es psychische Störungen im medizinischen Sinne gibt, müsste die Legitimation für psychiatrische Zwangsmassnahmen entfallen. Zwangsmassnahmen in der Medizin werden durch die Kombination einer Gefahr und einer Krankheit legitimiert. Wenn die Existenz dieser Krankheit in Zweifel steht - wie bei psychischen Störungen - könnte lediglich die Gefahrenabwehr gerechtfertigt werden, nicht aber die Einweisung in eine Klinik.

Im gleichen Zuge dürften auch Leistungen nicht mehr aufgrund einer psychiatrischen Diagnose vorenthalten werden. Das heißt, nicht mehr die Diagnose ist relevant, sondern das Unterstützungsbedürfnis der Person. Und das kann selbst bei Menschen recht ausgeprägt sein, die sich nicht als krank erleben. Wenn die Personen sich jedoch durch die soziale Umwelt behindert fühlen, könnte dies dennoch eine Indikation für eine Unterstützung beim Wohnen, bei der Arbeit / Beschäftigung oder bei der Freizeit mit dem Ziel einer "unterstützten Inklusion" (12) bedeuten.

Entscheidend wären dann die Präferenzen der betroffenen Menschen. Für psychiatrische Interventionen, und zwar sowohl für die Pharmako- als auch für die Psychotherapie, hat die Evidenzforschung nicht einmal moderate Effekte identifizieren können (13). Demnach könnte die Evidenzbasierung der Psychiatrie ohne Probleme durch die Präferenzbasierung ersetzt werden; Fachpersonen wissen heute nicht besser, was Menschen mit psychischen Problemen wirklich hilft.

Selbst-Deklaration und Präferenzorientierung in der sozialpsychiatrischen Unterstützung würden ohne Zweifel erhebliche Schwierigkeiten in der jetzigen Versorgung nach sich ziehen. Im Zusammenhang mit Zwangsmaßnahmen würde dies etwa bedeuten, dass Menschen, die andere Menschen gefährden, sich ausschließlich im Polizeigewahrsam und im Gefängnis wiederfänden. Die Psychiatrie würde einen Teil ihrer Probleme gewissermaßen ausgliedern - und wir wissen um die schlechte Qualität der psychosozialen Versorgung in diesen Institutionen.

Mit einem erheblichen Dilemma wäre zudem der Umgang mit Suizidalität behaftet. Da keine Zwangsmaßnahmen gegen den Willen der Person ausgesprochen werden dürften, käme es möglicherweise zu Suizidhandlungen, die unter Umständen mit dem jetzigen Versorgungssystem vermieden werden könnten. Allerdings ist es auch nicht ausgeschlossen, dass sich in einem System ohne Zwang Menschen in suizidalen Krisen eher an Unterstützungssysteme wenden, wenn sie nicht die Zwangseinweisung im Hintergrund fürchten müssten.

Ein letztes Dilemma betrifft die Finanzierung und das Sozialrecht. Aktuell ist die Leistungsgewährung, wie beschrieben, auf die Feststellung einer Diagnose oder einer Behinderung gestützt, welche durch Fachpersonen validiert sind. Eine auf Selbst-Deklaration und Unterstützungspräferenzen beruhende Leistungsgewährung liefe womöglich auf eine erhebliche Leistungsausweitung hinaus. Dies alles sind Dilemmata, für die momentan noch keine Lösungen vorhanden sind. Sicher ist jedoch, dass sich die derzeitige Praxis des Gebrauchs des konventionellen psychiatrischen Krankheitsmodells und der Diagnosen nicht mehr auf wissenschaftliche Grundlagen berufen kann. Und da auch vonseiten der Betroffenenbewegung erhebliche Zweifel an dem Modell geäußert werden, braucht es - gerade in der Sozialpsychiatrie - neue Ideen für diese Problemlagen.


Prof. Dr. Dirk Richter, Berner Fachhochschule, Departement Gesundheit
Universitäre Psychiatrische Dienste Bern, Zentrum Psychiatrische Rehabilitation

Hinweis
Der Beitrag basiert auf dem Vortrag, den der Autor auf der Tagung "Die Zukunft der Sozialpsychiatrie" am 10. Juni 2022 in Berlin gehalten hat.


Literatur

(1) Nasser, M. (1995) The rise and fall of antipsychiatry. In: Psychiatric Bulletin, 19(12), 743-746

(2) Forster, R. (1997) Psychiatriereformen zwischen Medikalisierung und Gemeindeorientierung. Eine kritische Bilanz. Opladen: Westdeutscher Verlag

(3) Dixon, J.; Richter, D. (2018) Contemporary public perceptions of psychiatry: some problems for mental health professions. In: Social Theory & Health, 16(4), 326-341

(4) Richter, D.; Hunziker, M.; Hoffmann, H. (2019) Supported Employment im Routinebetrieb: Evaluation des Berner Job Coach Placement-Programms 2005 - 2016. In: Psychiatrische Praxis, 46(06), 338-341

(5) Richter, D.; Dixon, J. (2020) Models of mental health problems: a quasi-systematic review of theoretical approaches. In: Journal of Mental Health, 2022, 1-11
https://doi.org/10.1080/09638237.2021.2022638

(6) Richter, D. (2021) Diagnostische Klassifikation in der
Psychiatrie. In: Psychiatrische Pflege, 6(6), 9-11

(7) Seth, A.K., Bayne T. (2022) Theories of consciousness. In: Nature Reviews Neuroscience, 23(7), 439-452

(8) Richter, D. (2020) Die vermeintliche Zunahme psychischer Erkrankungen - Gesellschaftlicher Wandel und psychische Gesundheit. In: Psychiatrische Praxis, 47(7), 349-51

(9) Whyte, S.; Brooks, R.C.; Torgler, B. (2018) Man, Woman, "Other": Factors Associated with Nonbinary Gender Identification. In: Archives of Sexual Behavior, 47(8), 2397-2406

(10) Fricker, M. (2007) Epistemic injustice: Power and the ethics of knowing. Oxford: Oxford University Press

(11) Guidry-Grimes, L. (2015) Modelling psychiatric disability. In: Journal of Evaluation in Clinical Practice, 21(3), 490-495

(12) Richter, D.; Hertig, R.; Hoffmann, H. (2016) Psychiatrische Rehabilitation - von der Stufenleiter zur unterstützten Inklusion. In: Psychiatrische Praxis, 43(8), 444-449

(13) Leichsenring, F.; Steinert, C.; Rabung, S.; Ioannidis, J.P.A. (2022) The efficacy of psychotherapies and pharmacotherapies for mental disorders in adults: an umbrella review and meta-analytic evaluation ofrecent meta-analyses. In: World Psychiatry, 21(1), 133-145

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 178 - Heft 04/22, Oktober 2022, Seite 13-16
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 26. Mai 2023

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