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ARTIKEL/419: Tagung zum Thema "Echte Alternativen zur Psychiatrie umsetzen" (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 136 - Heft 2, April 2012
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Erfahrungswissen - ein anderer Blick, eine andere Praxis

Von Jasna Russo


Die Autorin kündigt die Herausgabe der Dokumentation zur internationalen Konferenz "Auf der Suche nach dem Rosengarten - Echte Alternativen zur Psychiatrie umsetzen" an.


Bei vielen psychiatrischen Tagungen und Konferenzen ist es üblich geworden, einzelne Psychiatrie-Betroffene einzuladen, um die Positionen und Sichtweisen der im Bereich Psychiatrie professionell Tätigen zu ergänzen. Eine Veranstaltung trialogisch durchzuführen ist noch populärer. Neulich, in der Pause einer Fachtagung, erzählte mir ein Teilnehmer, dass die Beiträge von Betroffenen in der Regel die Stellen im Programm sind, bei denen er eine Gedankenpause macht, indem er etwas liest oder sonst wie abschaltet. Ich schätzte seine Ehrlichkeit und wusste genau, wovon er spricht. Ich habe solchen Beiträgen jedoch immer zugehört - mit sehr gemischten Gefühlen und mir immer eine ganz andere Rolle für Betroffene wünschend. Stoff aus dem eigenen Leben zu liefern und persönliche Geschichten zur Verfügung zu stellen wird uns Betroffenen viel häufiger eingeräumt, als Konzepte der Hilfe mitzugestalten oder sogar Theorien zu entwickeln. Die Idee der Inklusion hat eine begrenzte Reichweite, bestimmte Bereiche bleiben uns nach wie vor verschlossen.

In diesem Sinne war die internationale Konferenz "Auf der Suche nach dem Rosengarten", die der Berliner Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V. im September 2011 veranstaltet hat, eine große Ausnahme. Nicht nur dass die Zahl der psychiatriebetroffenen Referentinnen und Referenten überwog, sondern auch ihre Beiträge hatten eine andere Stellung im Programm: Auf persönlichen Erfahrungen basierend, hatten die Vorträge radikal neue theoretische Ansätze zum Denken von Verrücktheit zum Schwerpunkt sowie neue Konzepte zu verantwortlichen und nicht zerstörenden gesellschaftlichen Antworten darauf.

Die zweitägige Konferenz war eine intensive Lernerfahrung. Nicht zuletzt das unerwartet große Interesse an dieser Veranstaltung seitens professionell Tätiger bestätigte den dringenden Bedarf nach nicht biomedizinischem Wissen sowie nach anderen Arbeitsweisen als den konventionell-psychiatrischen.


Worte, bei denen man schlecht abschalten kann

Die Kongressdokumentation(*) bietet einen Einblick in all die Möglichkeiten, die sich eröffnen, wenn das Erfahrungswissen Betroffener eine führende Rolle einnimmt; die Möglichkeiten, tief gehende menschliche Krisen und Erlebnisse ganz anders als klinisch zu begreifen und ihnen dementsprechend anders zu begegnen. Diese Dokumentation ist eine einmalige Zusammenstellung von Beiträgen psychiatriebetroffener Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, praktizierender Beraterinnen und Berater, deren Arbeiten breite Anerkennung gefunden haben. Erstmalig zugänglich in deutscher Sprache sind die Beiträge von Professor Peter Beresford, Alison Faulkner und Dr. Angela Sweeney - einigen der bedeutendsten zeitgenössischen psychiatriebetroffenen Forscherinnen und Forscher aus Großbritannien. Dr. David Webb aus Australien wirft einen kritischen Blick auf Suizidologie und diskutiert die notwendigen Voraussetzungen eines durchdachten und verantwortlichen Umgangs mit suizidalen Gefühlen. Clare Shaw (Großbritannien) beschreibt in überzeugender Weise die Bedeutung und den Sinn von selbstverletzendem Verhalten und stellt ein radikal anderes Verständnis der Krisenintervention dar. Beth Filson (USA) und Maths Jesperson (Schweden) stellen von Psychiatrie-Betroffenen erarbeitete Konzepte der intensiven Unterstützung vor sowie deren praktische Umsetzung. In seinem Aufsatz "Erfolgreiche Randerscheinungen, leere Versprechen oder radikale Veränderung" hinterfragt der Psychiater Peter Stastny Arbeitspartnerschaften zwischen Betroffenen und im psychiatrischen Bereich professionell Tätigen und zieht eine Bilanz seiner Erfahrungen.

Die Dokumentation enthält auch die Beiträge der deutschsprachigen Referentinnen und Referenten: Diskutiert werden die Entwicklung, Herausforderungen und Widersprüche des betroffenenkontrollierten Arbeitsansatzes; Erfolge und Misserfolge der Strategie von Betroffenen-Beteiligung und der Peer-Arbeit sowie unser eigenes Verständnis von Verrücktheit werden untersucht. Letzteres erforscht unter anderem Regina Bellion in ihrem beeindruckenden Beitrag "Das geheimnisvolle innere Zimmer".

Unter den vielen Rückmeldungen zur Konferenz erreichte mich auch die E-Mail eines Teilnehmers aus Belgien: "Ich fühlte mich nicht wie ein Professioneller, der einen Ort besucht, an welchem die (Ex-)Psychiatrie-Patienten ihre Perspektiven darstellen und ich danach entscheiden kann, ob ich daran glaube. Stattdessen fühlte ich, dass ich den Ort besuche, an welchem das wahre Wissen dieser Disziplin liegt."

Der Sammelband bietet all denen, die an dieser kostbaren Veranstaltung nicht teilnehmen konnten, die Möglichkeit, die Referentinnen und Referenten durch ihre schriftlichen Beiträge kennen zu lernen. Er ist auch ein Souvenir für alle, die dabei waren und zur Intensität und Fülle der Diskussionen beigetragen haben.

Meinem anfangs erwähnten Tagungsbekannten, der daran gewöhnt ist, bei den Beiträgen von Betroffenen abzuschalten, wünsche ich eine Konferenz wie "Auf der Suche nach dem Rosengarten". Meinen Weggefährtinnen und -gefährten, die es schwer haben, in die Sperrgebiete der Inklusion (wie der Wissenschaft) hineinzukommen, wünsche ich Einladungen, die sie nicht trialogisch "platzieren", sondern die den Raum geben, um unsere theoretischen und praktischen Arbeiten zur Diskussion zu stellen.


Jasna Russo ist langjährige Aktivistin der internationalen Bewegung von Psychiatrie-Betroffenen. Sie verfügt über einen M.A. in Psychologie und arbeitet freiberuflich in den Bereichen Forschung und Fortbildung.
E-Mail-Kontakt: contact@jasnarusso.com

(*) Die Kongressdokumentation liegt ab Ende April 2012 gedruckt vor und kann bestellt werden. Näheres im Internet unter www.weglaufhaus.de

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 136 - Heft 2, April 2012, Seite 44
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/51 10 02, Fax: 0221/52 99 03
E-Mail: dgsp@netcologne.de
Internet: www.psychiatrie.de/dgsp
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juni 2012

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