Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → PSYCHIATRIE

RECHT/042: 'Freiheit zur Krankheit' und Zwangsbehandlung - ein Spannungsfeld (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 138 - Heft 4, Oktober 2012
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

»... zum Wohl des Betreuten«!?
Freiheit zur Krankheit und die Garantenstellung von Betreuerinnen und Betreuern - ein Spannungsfeld

Von Dagmar Brosey



Die Autorin skizziert die Entwicklung der Rechtsprechung im Hinblick auf das Spannungsfeld zwischen »Freiheit zur Krankheit« und Zwangsbehandlung unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der gesetzlichen Betreuung und der aktuellen Entscheidung des Bundesgerichtshofs, nach der die Zwangsbehandlung im Rahmen des Betreuungsrechts nicht (mehr) zulässig ist.


Dem Thema Freiheit zur Krankheit betreuter Menschen ist durch das Inkrafttreten der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen am 26.3.2009 (UN-BRK) sowie den gesetzlichen Regelungen über die Patientenverfügung (3. BtÄndG zum 1.9.2009) neue Aufmerksamkeit verliehen worden. Zudem haben zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Zwangsbehandlung im Rahmen im Rahmen des Maßregelvollzugs (BVerfG vom 23.3.2011) bzw. nach dem Unterbringungsgesetz des Landes Baden-Württemberg (BVerfG vom 12.10.2011) neue Kontroversen ausgelöst, die durch die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs auch wesentlichen Einfluss auf die Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen im Rahmen des Betreuungsrechts genommen hat. Der Beitrag greift diese aktuelle Entwicklung auf und fragt nach der Verbindung der Garantenstellung des Betreuers und der Freiheit zur Krankheit des betreuten Menschen und erörtert so die Zulässigkeit von geschlossener Unterbringung nach § 1906 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) im Betreuungsrecht.


Freiheit zur Krankheit - Begriffsentwicklung

Bereits 1981 hat das BVerfG entschieden, dass dem psychisch Kranken in gewissen Grenzen ein Recht auf Freiheit zur Krankheit belassen bleiben muss. Diese gewissen Grenzen wurden nur undeutlich markiert. Das Gewicht lag auf der Beschreibung der Anforderungen an eine Unterbringung eines »Geisteskranken«. Diese wurde dann als legitim erachtet, wenn ausschließlich der Zweck verfolgt wurde, den psychisch Kranken vor sich selbst in Schutz zu nehmen und ihn zu seinem eigenen Wohl in einer geschlossenen Anstalt unterzubringen, wenn er für sich gefährlich oder ohne Anstaltspflege der Gefahr ernster Gesundheitsschädigung ausgesetzt war.

1998 hat das BVerfG den Begriff der Freiheit zur Krankheit wieder aufgegriffen und etwas konkretisiert: »Die Fürsorge der staatlichen Gemeinschaft schließt auch die Befugnis ein, den psychisch Kranken, der infolge seines Krankheitszustandes und der damit verbundenen fehlenden Einsichtsfähigkeit die Schwere seiner Erkrankung und die Notwendigkeit von Behandlungsmaßnahmen nicht zu beurteilen vermag oder trotz einer solchen Erkenntnis sich infolge der Krankheit nicht zu einer Behandlung entschließen kann, zwangsweise in einer geschlossenen Einrichtung unterzubringen, wenn sich dies als unumgänglich erweist, um eine drohende gewichtige gesundheitliche Schädigung von dem Kranken abzuwenden.«

Gefragt war aber nicht nur nach der Zulässigkeit einer Freiheitsentziehung, sondern auch nach der Frage der Zulässigkeit einer medizinischen Behandlung.

»Die grundrechtlich geschützte Freiheit schließt die Freiheit zur Krankheit und damit das Recht ein, auf Heilung abzielende Eingriffe abzulehnen«

Ausgangspunkt der Bestimmung des Rechts auf Freiheit zur Krankheit ist aber auch, dass alle medizinischen Maßnahmen grundsätzlich der Einwilligung des Betroffenen bedürfen. Dies gilt auch dann, wenn die Verweigerung einer Behandlung lebensgefährlich ist. Denn die grundrechtlich geschützte Freiheit schließt die Freiheit zur Krankheit und damit das Recht ein, auf Heilung abzielende Eingriffe abzulehnen, selbst wenn diese nach dem Stand des medizinischen Wissens dringend angezeigt sind. Diese Freiheit zur Krankheit haben grundsätzlich alle Menschen, auch solche die rechtlich betreut werden. Besteht aber eine Beeinträchtigung der Fähigkeit zur freien Willensbestimmung, so stellt sich die Frage der Konkretisierung der Grenze der Freiheit zur Krankheit. Im Jahr 2011 hat sich das BVerfG wieder mit der Freiheit zur Krankheit beschäftigt und zu einer Konkretisierung beigetragen, die aber insbesondere hinsichtlich der betreuungsrechtlichen Unterbringung Fragen offenließ, die der BGH durch seine Entscheidung vom 20.6.2012 beantwortet hat.


Das Spannungsfeld

Nach § 1896 BGB wird ein Betreuer für Menschen mit einer psychischen Erkrankung soweit bestellt, wie dieser aufgrund der Erkrankung seine Angelegenheiten nicht besorgen kann und eine Betreuerbestellung erforderlich ist. Eine rechtliche Betreuung ist zum Beispiel nicht erforderlich, wenn die Angelegenheiten auch durch andere Unterstützungsformen (Soziotherapie, betreutes Wohnen) oder mithilfe von Bevollmächtigten oder Vertrauenspersonen besorgt werden können (§ 1896 Abs. 2 BGB). Ist eine Betreuerbestellung hingegen erforderlich, so hat dieser Betreuer die Aufgabe im Rahmen des Aufgabenkreises die Angelegenheiten im erforderlichen Maß und zum Wohl des betreuten Menschen zu besorgen (§ 1901 Abs. 1 und Abs. 2 BGB). Der Betreuer ist nach § 1902 BGB in diesem Umfang der gesetzliche Vertreter. Die gesetzliche Vertretung ist aber nicht der Sinn und Zweck der rechtlichen Betreuung. Vielmehr ist es die Aufgabe des Betreuers, den Betreuten bei der Ausübung seiner Selbstbestimmung zu unterstützen, sodass der Betreuer in erster Linie Assistent des Betroffenen ist und nur im Ausnahmefall eine Vertretungsentscheidung für diesen treffen darf. Dies folgt aus dem Erforderlichkeitsgrundsatz und aus Art. 12 UNBRK. In jedem Fall sieht das Betreuungsrecht vor, dass der Betreuer grundsätzlich verpflichtet ist, dem Wunsch des Betreuten zu entsprechen (§ 1901 Abs. 3 BGB), und zwar selbst dann, wenn ein Einwilligungsvorbehalt besteht oder das Aufenthaltsbestimmungsrecht angeordnet wurde. Hier beginnt nun das betreuungsrechtliche Spannungsfeld, denn der Betreuer hat dem Wunsch des Betreuten dann nicht zu entsprechen, wenn dieser dem Wohl des Betreuten zuwiderläuft. Zum Wohl gehört auch die Möglichkeit, nach seinen Wünschen und Vorstellungen zu leben (§ 1901 Abs. 2 Satz 2 BGB). Für medizinische Behandlungen ist die Bedeutung von Patientenverfügungen, Behandlungswünschen und mutmaßlichem Willen in § 1901a BGB noch weiter verdeutlicht. Zum Wohl gehören hingegen nicht die Interessen Dritter, die von dem Betreuten belästigt oder gefährdet werden. Die Entscheidung zwischen Wunsch und Wohl wird vielfach als eine Frage der Abwägung verstanden, die dem Betreuer überlassen ist. Dies wäre aber eine Abwägung zwischen Freiheit und Selbstbestimmung auf der einen Seite und dem Schutz betreuter Menschen vor Selbstgefährdungen auf der anderen Seite, die das Spannungsfeld ausmachen. Für den Bereich der freiheitsentziehenden Unterbringung sieht § 1906 Abs. 1 BGB eine Konkretisierung des Betreuungswohls vor, auf die weiter unten noch eingegangen wird.

Das Spannungsfeld und die Entscheidung für Selbstbestimmung und Freiheit oder Schutz durch Zwangsmaßnahmen werden in der täglichen Praxis aber auch von der inneren Haltung und dem Wertesystem des Betreuers bestimmt, der eine Meinung dazu hat, was hier vernünftig oder das Beste für den Betroffenen ist. Die Angst vor einer Haftung für den Fall, dass sich die befürchtete Gefahr verwirklicht, sind vielfach ebenso handlungsleitend, ohne dass die grundsätzliche Verpflichtung, den Wünschen zu entsprechen, hinreichende Beachtung erfährt. Zudem wird der Betreuer auch von den Einflüssen Dritter (Nachbarn, Angehörige, Ärzte) beeinflusst werden, die erheblichen Druck auf Betreuer ausüben können. Es stellt sich zunächst die Frage, für was der Betreuer Garant ist.


Überblick: die Garantenstellung des Betreuers

Unter einem Garanten wird eine Person verstanden, die aufgrund einer rechtlichen Norm (Garantenpflicht) zum Eingreifen, also einem aktiven Handeln, verpflichtet ist. Die Verletzung dieser Garantenpflicht kann zur Folge haben, dass sich der Garant durch Unterlassen strafbar macht und/oder gegebenenfalls auch schadensersatzpflichtig. Die Pflichten des Betreuers ergeben sich aus den betreuungsrechtlichen Vorschriften, die oben bereits dargelegt wurden. Das bedeutet, besteht eine Pflicht, dem Wunsch auf Nichtbehandlung oder Nichtunterbringung zu entsprechen, ist der Betreuer Garant für die Selbstbestimmung und muss den Betroffenen bei der Ausübung seines Willens unterstützen. Denn die zentrale Rechtspflicht für Betreuer aus § 1901 Abs. 2 und 3 BGB beinhaltet, dass er dem subjektiven Wohl (aus der Perspektive des Lebensentwurfs des betreuten Menschen) und dem Wunsch des Betreuten zu entsprechen hat. Er hat dem Wunsch des Betreuten dann nicht zu entsprechen, soweit dieser dem Wohl zuwiderläuft. § 1901a Abs. 1 BGB beinhaltet überdies die Verpflichtung, dem in einer Patientenverfügung niedergelegten Willen Ausdruck und Geltung zu verschaffen. § 1901a Abs. 2 BGB gibt dem Betreuer die Pflicht auf die Behandlungswünsche oder den mutmaßlichen Willen des Betroffenen zur Entscheidungsgrundlage zu machen.

»Aus einer psychiatrischen Diagnose allein kann in keinem Fall auf die Willensfreiheit des betroffenen Menschen geschlossen werden«

Ist der Wunsch des Betreuten nicht Bestandteil der freien Willensbildung und führt ein Unterlassen einer Betreuerentscheidung gegen diesen Wunsch zu einer erheblichen Selbstschädigung, stellt sich die Frage, ob hier nicht eine Pflicht zum Handeln bestehen muss. Ein Betreuer hat dann im Rahmen seines Aufgabenkreises und des ihm rechtlich und faktisch Möglichen den Betroffenen vor einer nicht eigenverantwortlichen erheblichen Selbstschädigung zu bewahren und ist damit Beschützergarant. Besteht eine Befugnis zur Aufenthaltsbestimmung und/oder Gesundheitssorge, ergeben sich zunächst Schutzpflichten für das Leben, die Gesundheit und die körperliche Unversehrtheit des Betreuten. Der Umfang der konkreten Pflicht hängt aber von den betreuungsrechtlichen Voraussetzungen und damit vom Einzelfall ab.

Ein Betreuer ist hingegen kein Überwachergarant des Betreuten. Er hat nicht die Aufgabe, Dritte oder die Allgemeinheit vor Schädigungen durch den Betreuten zu schützen. Dies würde selbst dann nicht gelten, wenn eine zivilrechtliche Haftung aus einer Aufsichtspflicht von Betreuern zumindest in bestimmten Konstellationen bejaht würde.(1)

Nicht aus jeder zivilrechtlichen drittschützenden Verpflichtung zum Handeln und den Möglichkeiten zu ihrer Durchsetzung lassen sich gegenüber Erwachsenen nur öffentlichrechtlich begründen, wie nach den PsychKGs oder den Polizeigesetze der Länder.


Die geschlossene Unterbringung nach § 1906 BGB

§ 1906 BGB stellt Voraussetzungen auf, unter denen ein Betreuer (oder Bevollmächtigter) einen betreuten Menschen freiheitsentziehend unterbringen darf. Eine mit einer Freiheitsentziehung verbundene Unterbringung liegt vor, wenn der Betroffene gegen seinen Willen oder im Zustand der Willenlosigkeit in einer geschlossenen Einrichtung in einem bestimmten beschränkten Raum festgehalten, der Aufenthalt ständig überwacht und die Aufnahme des Kontakts mit Personen außerhalb (dieses Raumes durch Sicherheitsmaßnahmen verhindert wird (BGH NJW 2001, 888).

Grundsätzlich darf eine solche Entscheidung des Betreuers nur mit der Genehmigung des Betreuungsgerichts (§ 1906 Abs. 2 BGB) getroffen und umgesetzt werden. Das Gericht prüft in einem Verfahren nach § 312 ff. FamFG, ob der Betreuer eine pflichtgemäße Entscheidung trifft. Es hat dazu unter anderem den Betroffenen anzuhören, ein Sachverständigengutachten einzuholen und für den Betreuten grundsätzlich einen Verfahrenspfleger zu bestellen. Im Jahr 2010 wurden bundesweit 55.366 solcher Genehmigungen (oder Verlängerungen) zur Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 BGB erteilt, hingegen wurden (nur) 1861 solcher Anträge von den Betreuungsgerichten abgelehnt.

Zentrale Voraussetzungen einer Unterbringung sind, dass diese zum Wohl erforderlich ist und der Betroffene aufgrund seiner psychischen Erkrankung oder geistigen oder seelischen Behinderung keinen freien Willen bilden kann. § 1906 BGB unterscheidet dann zwei Formen der Unterbringung, die gerade im Hinblick auf die Freiheit zur Krankheit von besonderer Bedeutung sind. Es handelt sich in § 1906 Nr. 1 BGB um die Verwahrungsunterbringung und in Nr. 2 der Vorschrift um die Behandlungsunterbringung. Letztere ist seit vielen Jahren Gegenstand juristischer Kontroversen und seit der Entscheidung des BGH vom 20.6.2012 keine ausreichende Rechtsgrundlage mehr für eine betreuungsrechtliche Zwangsbehandlung.


Die Verwahrungsunterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB

Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift ist die Unterbringung des betreuten Menschen zum Wohl dann erforderlich, wenn aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt. Das bedeutet zunächst, dass die Interessen oder das Wohl Dritter in diesem Rahmen keine Berücksichtigung finden. Zudem gelten auch im Rahmen einer Unterbringungsentscheidung die Pflichten des Betreuers nach § 1901 BGB, sodass nur für den Fall, dass der Betroffene hinsichtlich der anstehenden Entscheidung keinen freien Willen bilden kann, da der Staat keinesfalls das Recht hat, einen zur freien Willensbildung fähigen Bürger zu erziehen, zu bessern oder daran zu hindern sich selbst zu schädigen (BayObLG BtPrax 1994, 209). Auch bei Problemen in der Kommunikation mit dem Betroffenen (z.B. wegen Autismus) muss feststehen, dass er nicht in der Lage ist, seinen Willen frei zu bestimmen. Aus einer psychiatrischen Diagnose allein kann in keinem Fall auf die Willensfreiheit des betroffenen Menschen geschlossen werden. Es kommt immer auf Ausmaß und Qualität der Beeinträchtigung und die Auswirkungen auf die konkrete Entscheidung an. Erst diese festgestellte Unfähigkeit zur freien Willensbestimmung eröffnet die Möglichkeit, den Wunsch auf Nichtunterbringung ausnahmsweise zu übergehen und das zuwiderlaufende Wohl im Rahmen einer Gefahrenprognose zu bestimmen und anschließend die Entscheidung anhand des Erforderlichkeitsprinzips auf ihre Zulässigkeit hin zu prüfen, wozu auch zwingend die Abwägung mit den negativen Konsequenzen der Zwangsmaßnahme gehört. Die Feststellung der Gefahr, d.h. die Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts, und ob die Unterbringung auch zum Wohl erforderlich ist, sind zwingende Prüfungspunkte (BGH FamRZ 2008, 866). § 1906 I Nr. 1 BGB verlangt keine akute, unmittelbar bevorstehende Gefahr für den Betreuten. Notwendig ist allerdings eine ernstliche und konkrete Gefahr für dessen Leib oder Gesundheit, wobei jedoch die Anforderungen an die Voraussehbarkeit einer Selbsttötung oder einer erheblichen gesundheitlichen Eigenschädigung nicht überspannt werden dürfen (BGH FamRZ 2010, 365).

Die Erforderlichkeit als Ausdruck des verfassungsrechtlichen
Verhältnismäßigkeitsprinzips enthält folgende Aspekte:

1. Unterbringung erfüllt einen legitimen Zweck (Wohl des Betroffenen);
2. Unterbringung ist geeignet, die festgestellte Gefahr abzuwenden;
3. die Gefahr kann nicht durch andere, mildere Mittel als die freiheitsentziehende Unterbringung abgewendet werden (BGH FamRZ 2010, 365);
4. Abwägung zwischen der Belastung durch die Unterbringung für den Betroffenen und dem Grad und der Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts.

Der BGH hat zu Nr. 3 der Aufzählung entschieden, dass eine Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB unzulässig ist, wenn durch diese lediglich die regelmäßige Einnahme verordneter Medikamente sichergestellt werden soll, anstelle der Unterbringung jedoch auch eine Überwachung der Einnahme im häuslichen Umfeld durch einen ambulanten Pflegedienst möglich wäre (BGH BtPrax 2011, 258, 259). Die mangelnde Eignung von milderen Alternativmaßnahmen ist daher stets zu erörtern und ausdrücklich festzustellen, andernfalls ist eine Prüfung der Erforderlichkeit unvollständig.

Hinsichtlich der Abwägung (Nr. 4 der Aufzählung) ergibt sich folgende Konkretisierung: Der Grad der Gefahr ist stets in Relation zum möglichen Schaden ohne Vornahme der freiheitsentziehenden Maßnahme zu bemessen. Die Gefahr für Leib oder Leben setzt kein zielgerichtetes Verhalten des Betreuten voraus, sodass sogar eine völlige Verwahrlosung ausreichen kann, wenn damit eine Gesundheitsgefahr durch körperliche Verelendung und Unterversorgung verbunden ist (BGH, FamRZ 2010, 365). Das setzt wiederum objektivierbare und konkrete Anhaltspunkte für den Eintritt eines erheblichen Gesundheitsschadens voraus.

»Die Unterbringung nach § 1906 BGB erfolgt allein unter dem Gesichtspunkt der Gefahr, dass der Betreute sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt«

Die Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB erfolgt allein mit dem Ziel, die erhebliche Gefahr von dem Betroffenen durch die Unterbringung abzuwenden. Normiertes Ziel dieser Unterbringungsart ist es nicht, den Betreuten medizinisch zu behandeln. Die Unterbringung erfolgt allein unter dem Gesichtspunkt der Gefahr, dass der Betreute sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt, der durch die verwahrende Unterbringung begegnet werden kann. Eine Behandlung gegen oder ohne den Willen (weder mit Zwang noch heimlich oder durch Täuschung) des Betreuten ist unzulässig. Alle medizinischen Maßnahmen bedürfen grundsätzlich der Einwilligung des Betroffenen oder unter bestimmten Umständen seines Vertreters. Soll eine medizinische Behandlung durchgeführt werden, so ist das Einverständnis des Betroffenen und regelmäßig die Einwilligung des Betreuers notwendig. Der Betreuer ist aber grundsätzlich nicht befugt, den einer solchen Behandlung entgegenstehenden Willen des Betreuten zu überwinden. Die Befugnis zu einer Zwangsbehandlung muss sich aus einem formellen Gesetz ergeben, das Inhalt, Gegenstand, Zweck und Ausmaß der vom Betreuten unter Zwang zu duldenden Behandlung hinreichend bestimmt (bereits: BGH vom 1.2.2006, BtPrax 2006, 145 ff.). § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB trifft hinsichtlich einer medizinischen Behandlung keinerlei Bestimmung.


Die Behandlungsunterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB

Nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB ist eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil eine Untersuchung des Gesundheitszustandes, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist, der ohne die Unterbringung nicht durchgeführt werden kann. Die Unterbringung ist wiederum nur dann zulässig, wenn die Untersuchung oder medizinische Maßnahme auch durchgeführt werden kann und darf.

Die Befugnis des Betreuers zu einer Zwangsbehandlung muss sich nach der Recht sprechung des BGH (BGH vom 10.11.2000, BtPrax, 32 ff.) aus einem formellen Gesetz ergeben, das Inhalt, Gegenstand, Zweck und Ausmaß der vom Betreuten unter Zwang zu duldenden Behandlung hinreichend bestimmt. Hintergrund ist die Auffassung, dass die Befugnis einer Vertretungsentscheidung des Betreuers von der Befugnis zur zwangsweisen Durchsetzung der Entscheidung zu unterscheiden ist (BGH a.a.O.) § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB regelt die Voraussetzungen einer solchen Zwangsbehandlung nicht ausdrücklich. Der BGH hatte im Jahr 2006 eine Entscheidung getroffen, die mit seiner Entscheidung vom 20.6.2012 ausdrücklich aufgegeben hat.

(a) Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2006
In seiner Entscheidung vom 1.2.2006 hatte der BGH festgestellt, dass eine Zwangsbehandlung im Rahmen der betreuungsrechtlichen Unterbringung grundsätzlich zulässig sein kann, denn einwilligungsunfähige Betreute dürfen von medizinisch indizierten Maßnahmen nicht ausgeschlossen werden, weil andernfalls ihre medizinische Versorgung und damit ihr Wohl an ihrer mangelnden Einsichts- und Urteilsfähigkeit scheitern würde. Dürfte eine medizinische Maßnahme bei entgegenstehendem Willen des Betroffenen nicht durchgeführt werden, so wäre der Anwendungsbereich des § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB sehr begrenzt. Der BGH entnahm der Vorschrift daher die Bedeutung, dass der Betreute die Behandlung, gegen die er sich wehrt, dulden müsse, und stellte strenge Kriterien für den Ausnahmefall der genehmigungsfähigen Zwangsbehandlung auf.

Da der Widerstand des Betreuten sich regelmäßig gegen Unterbringung und Behandlung richten würde, müsse die Genehmigung des Betreuungsgerichts im Hinblick auf eine bestimmte Behandlung erteilt werden und diese nach Art, Dauer und Inhalt vorab festlegen. Dazu gehörten bei einer Behandlung durch Verabreichung von Medikamenten in der Regel auch die möglichst genaue Angabe des Arzneimittels oder des Wirkstoffs und deren Dosierung sowie der Verabreichungshäufigkeit. Ob diese strengen Anforderungen flächendeckend in der alltäglichen Genehmigungspraxis der Betreuungsgerichte oder gar in der psychiatrischen Praxis Berücksichtigung erfahren hatten, erscheint fraglich.

(b) Das Bundesverfassungsgericht aus dem Jahr 2011
Das BVerfG hat zu den rechtlichen Voraussetzungen und Grenzen einer Zwangsbehandlung im vergangenen Jahr Stellung benommen. Die Entscheidung vom 23.3.2011 betrifft zwar eine zwangsweise Behandlung im Rahmen des Maßregelvollzugs Rheinland-Pfalz. Der Betroffene hatte aber einen rechtlichen Betreuer, der der Zwangsmaßnahme zugestimmt hatte. Das BVerfG entschied, dass die verweigerte Behandlung für den Betreuten, nicht dadurch weniger belastend wird, weil sein Betreuer eingewilligt hat. Das BVerfG hatte überdies anerkannt, dass eine medizinische Behandlung gegen den Willen mit Neuroleptika ein schwerwiegender Grundrechtseingriff ist, der aber unter bestimmten Umständen durch eine gesetzliche Grundlage und dem Einhalten des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Einzelfall gerechtfertigt sein kann.

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet es, dass das Behandlungsziel Erfolgsaussichten hat. Legitimes Behandlungsziel ist es, dass die tatsächlichen Voraussetzungen freier Selbstbestimmung des Untergebrachten wiederhergestellt werden. Dieses Ziel darf nicht mit milderen Mitteln erreicht werden können. Zudem dürfen sich im Rahmen der Interessenabwägung durch die Zwangsbehandlung keine unverhältnismäßigen Belastungen für den Betroffenen ergeben, die sich auch aus einem nicht vernachlässigbaren Restrisiko von irreversiblen Gesundheitsschäden ergeben können.(2)

(c) Die aktuelle Rechtsprechung des BGH
In seinen Entscheidungen vom 20.6.2012 (Az.: XII ZB 99/12 BtPrax 2012, 156 ff. und XII ZB 130/12) hat der BGH unter Bezugnahme auf die Entscheidungen des BVerfG seine Rechtsprechung aus dem Jahr 2006 ausdrücklich aufgegeben. Der BGH hat nun entschieden, dass es gegenwärtig an einer den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden gesetzlichen Grundlage für eine betreuungsrechtliche Zwangsbehandlung fehlt. Daher darf ein Betreuer derzeit keine Zwangsbehandlung veranlassen und kein Betreuungsgericht darf diese genehmigen.

Der BGH vertritt damit die Ansicht, dass die Grundrechte auch bei einer betreuungsrechtlich veranlassten Zwangsbehandlung unmittelbar Anwendung finden. Der Betreuer übt durch sein Handeln nämlich auch öffentliche Fürsorge aus. Dies hat zur Folge, dass der Betreuer für dieses Handeln eine klar bestimmte gesetzliche Vorschrift benötigt, die die wesentlichen Voraussetzungen einer Zwangsbehandlung des betreuten Menschen regelt. Eine solche ist aber gerade nicht vorhanden.

(d) Mögliche Grenzen einer gesetzlichen Vorschrift zur Zwangsbehandlung
Damit ist nun höchstrichterlich geklärt, dass die aktuellen gesetzlichen Bestimmungen des Betreuungsrechts im Hinblick auf den erheblichen Grundrechtseingriff, den eine Zwangsbehandlung für den Betroffenen bedeutet, nicht ausreichend sind. Die oben dargestellte Entscheidung des BGH vom 1.2.2006 stellte zwar bereits dezidierte Anforderungen auf, es handelt sich aber um Richterrecht und damit nicht um eine erforderliche gesetzliche Grundlage. Dies wäre eine Aufgabe des Gesetzgebers, sofern eine Zwangsbehandlung im Rahmen des Betreuungsrechts zukünftig ermöglicht werden soll. Darüber wird es in den nächsten Monaten sicher kontroverse Debatten geben, denn es wird auch die Auffassung vertreten, die Zwangsbehandlung ausschließlich im öffentlich-rechtlichen Unterbringungsrecht (PsychKG) zu regeln.

Als Anforderung an eine gesetzliche Regelung kann zunächst gestellt werden, dass hinsichtlich der medizinisch indizierten Maßnahme kein freier Wille bei dem Betroffenen vorhanden sein darf. Der Betroffene kann von seinem Recht auf Freiheit zur Krankheit also nicht mehr autonom Gebrauch machen und lehnt aufgrund dessen die Behandlung ab.

»Nach der Entscheidung des BGH darf ein Betreuer derzeit keine Zwangsbehandlung veranlassen und kein Betreuungsgericht darf diese genehmigen«

Das Erforderlichkeitsprinzips mit seinen strengen Anforderungen ist auch im Falle eines Ausschlusses des freien Willens von herausragender Bedeutung. Überdies gibt das BVerfG auf, dass vor einer Zwangsbehandlung der ernsthafte, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Druck erfolgte Versuch unternommen wurde, die Zustimmung des Betroffenen zu erlangen.

Wird dies nicht erreicht, so kann sich als legitimes Ziel einer Zwangsbehandlung nur die Wiederherstellung der Selbstbestimmungsfähigkeit oder die Abwendung einer erheblichen Selbstschädigung ergeben. Die gewählte Behandlungsform muss geeignet sein, dieses Ziel zu erreichen.(3)

Es dürfen sich keine Alternativen zur Zwangsbehandlung ergeben. Überdies müssen die Erfolgsaussichten der Behandlung und Erheblichkeit der Gefährdung durch Nichtbehandlung gegenüber den Belastungen der Zwangsbehandlung und den Nebenwirkungen der Behandlung überwiegen.

Neben einer Eingriffsschwelle, die beschreibt, unter welchen Voraussetzungen eine Zwangsbehandlung ausnahmsweise zulässig sein könnte, wird diskutiert, dass es eine »absolute Obergrenze« geben müsse, die die Legitimation einer Zwangsbehandlung mangels Erforderlichkeit ausschließt. Zu dieser Obergrenze gehören das Vorliegen einer wirksamen, gerade diese Behandlung ausschließende Patientenverfügung nach § 1901a Abs. 1 BGB, aber auch der mutmaßliche Nichtbehandlungswille. Die Beachtlichkeit eines Nichtbehandlungswunsches des Betreuten, dem der Betreuer zu entsprechen hat (§§ 1901a Abs. 2, 1901 Abs. 3 BGB), ist hingegen das Ergebnis der oben dargelegten Prüfung.

Überdies ergeben sich aus Art. 1 des Grundgesetzes (Würde des Menschen) und der UN-BRK weitere Obergrenzen, die eine Zwangsbehandlung im Rahmen der Arzneimittelforschung ausschließen. Eine zwangsweise Durchführung einer Elektrokrampftherapie wird ebenfalls für unzulässig erachtet. Gleiches gilt für Zwangsbehandlungen mit irreversiblen und lebensgefährlichen Nebenwirkungen.


Garantenstellung und Zwang

Der Betreuer hat seine betreuungsrechtlichen Pflichten zu erfüllen. Er ist Garant für die Berücksichtigung von Wille und Wünschen des betreuten Menschen. Das bedeutet auch, dass er Patientenverfügungen und Behandlungsvereinbarungen, soweit vorhanden, Ausdruck und Geltung verschafft und einem Wunsch entspricht, der seinem Wohl nicht zuwiderläuft. Er hat die Aufgabe, den Betreuten zu unterstützen, eine eigene Entscheidung zu treffen bzw. ein Einvernehmen herzustellen und hat gegebenenfalls zu prüfen, ob eine missbräuchliche Einflussnahme Dritter auf den Betroffenen vorliegt. Er steht daher auch auf der Position des Vermittlers zwischen behandelnden Ärzten und dem Betroffenen. Er hat den Betreuten aber auch im Rahmen des rechtlich Zulässigen vor uneinsichtigen erheblichen Selbstschädigungen zu schützen, das bedeutet, zu prüfen, ob eine Unterbringung geeignet und erforderlich ist, den notwendigen Schutz zu leisten. Ist eine Entscheidung hinsichtlich einer Unterbringung ausnahmsweise als Ultima Ratio nach den Kriterien des § 1906 Abs. 1 BGB notwendig, so trifft der Betreuer die Entscheidung über die Unterbringung gegen oder ohne den Willen des Betroffenen und sorgt für die Einholung der gerichtlichen Genehmigung. Er ist Garant für die Einhaltung der hier dargelegten Behandlungsgrenzen im Rahmen der Unterbringung, sodass eine Behandlung gegen den Willen des Betroffenen im Rahmen einer betreuungsrechtlichen Unterbringung bis zu einem Inkrafttreten einer gesetzlichen Regelung nicht legitimiert ist. Der Betreuer ist Garant dafür, dass während der Unterbringung, das Vorliegen der Unterbringungsvoraussetzungen fortlaufend geprüft wird.


Prof. Dr. jur. Dagmar Brosey lehrt an der Fachhochschule Köln. Bei dem Artikel handelt es sich um die bearbeitete und nach der aktuellen Rechtsprechung des BGH vom 20.6.2012 erweiterte Fassung ihres Vortrags auf der Kölner Fachtagung »Verantwortung übernehmen für die Schwierigsten« vom 23./24. März 2012.


Literatur bei der Verfasserin.


Anmerkungen:

(1) Verneinend etwa Bernau/Rau, Die Übernahme einer Betreuung - ein straf- und zivilrechtliches Haftungsrisiko?, NJW 2008, 3756 ff. MünchKomm/Schwab, Band 8, 5. Auflage 2010, § 1896 Rn. 92, bejahend zumindest bei Bestellung zur Personensorge insgesamt oder zur Aufsicht, jedoch nicht allein zur Aufenthaltsbestimmung Jürgens/Jürgens, Betreuungsrecht, 4. Auflage 2010, § 832 Rn. 2 ff. und BtKomm/Roth 3. Auflage, 2010, D Rn. 135.

(2) Vgl. Marschner, R&P 2011, 160, 162.

(3) Zur Indikation einer Zwangsbehandlung aus psychiatrischer Sicht vgl. Garlipp, BtPrax 2009, 55 ff.

*

Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 138 - Heft 4, Oktober 2012, Seite 9 - 13
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/51 10 02, Fax: 0221/52 99 03
E-Mail: dgsp@netcologne.de
Internet: www.psychiatrie.de/dgsp
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Dezember 2012