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VORTRAG/080: Soziale Psychiatrie und Alterspsychiatrie - ein Widerspruch? (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 136 - Heft 2, April 2012
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Soziale Psychiatrie und Alterspsychiatrie - ein Widerspruch?
Vortrag auf der DGSP-Jahrestagung 2011 in Ravensburg

Von Jochen Tenter



Zugegeben: Die Frage "Soziale Psychiatrie und Alterspsychiatrie - ein Widerspruch?" ist provokativ vereinfacht und nur rhetorisch zu verstehen. Wichtig ist mir ein Plädoyer für das Fach Alterspsychiatrie, das in einen fachlichen Zusammenhang, in Versorgungsstrukturen und Berufspolitik eingeordnet werden soll. Entwicklungen und Strukturen werden teils bundesweit, teils mit Blick auf unsere Region Oberschwaben vorgestellt. Schließlich sollen Grenzen und Sorgen in unserer Arbeit nicht verschwiegen werden.


Was ist Alterspsychiatrie?

Trocken ausgedrückt ist Alterspsychiatrie "die altersgerechte Anwendung psychiatrischer Behandlungsformen, nicht primär die körperliche Pflege älterer psychisch Kranker, obwohl dies natürlich vorkommt".(1) Alterspsychiatrie verlangt eigene Arbeitsbedingungen, Räume, ein speziell zugeschnittenes therapeutisches Milieu, Mitarbeiter, die sich spezifisch fortbilden, und angepasste Behandlungs- und Pflegestandards.

Wir können es kaum noch hören, dennoch sind die Folgen immer noch nicht in allen Köpfen präsent. Gemeint ist der demografische Wandel. Seit 1840 steigt die Lebenserwartung in jedem Jahrzehnt um zweieinhalb Jahre. Die Gründe sind Hygiene, sauberes Wasser, genug Nahrung, kurz gesagt wachsender Wohlstand und seit 65 Jahren kein Krieg. Erst dann kommt die Medizin mit sinkender Kindersterblichkeit, Antibiotika, Behandlung von Herz-Kreislauf- und bösartigen Erkrankungen. Der Anteil der über 65-Jährigen liegt heute bei rund 18%, die Prognose für 2030 beträgt 29%. Das Alter ist weiblich, doch je älter "Mann" wird, desto geringer wird der Unterschied in der Lebenserwartung. Ein neugeborener Junge hat eine fünf Jahre kürzere Lebenserwartung, hat er die 80er-Marke geschafft, ist es nur noch gut ein Jahr.(2)

Die geburtenstarken Jahrgänge bis 1964 werden allein wegen der großen Zahl zum Problem, da die Generation, die uns (der Autor gehört zur Gruppe) versorgen sollte, gar nicht geboren wurde. Anlass ist die "Pille" oder korrekter die Möglichkeit der generativen Selbstbestimmung seit 1964. Anders als Frank Schirrmacher in seinem Buch "Das Methusalemkomplott" sollten wir den demografischen Wandel nicht beklagen oder gar katastrophisieren, sondern uns Gedanken machen, wie wir diese Zeit mit Fantasie und Verantwortung gestalten. Möglicherweise sind wir besser gebildet, haben nicht nur in sozialen Berufen, sondern auch in Industrie, Handwerk und Handel Berufserfahrung in Teamarbeit und können diese auf die eigene Versorgungssituation übertragen. Vielleicht entwickelt sich oder präziser entwickeln wir eine neue Kultur des Zusammenlebens. Es muss nicht immer die Nobel-WG-Lösung von Henning Scherf sein. Aber Wohngemeinschaftserfahrung mag helfen. Dass "junge" Alte älteren Alten helfen, wird notwendig sein. Wenn wir aber alle länger beruflich arbeiten, wird ehrenamtliche Tätigkeit wieder schwieriger. Um Ehrenamtliche kämpfen inzwischen viele soziale Einrichtungen.

Ein Blick in die östlichen Bundesländer kann hilfreich sein, da dort die Bevölkerung im Schnitt schon älter ist, weniger Junge leben, weil sie weggezogen sind. Dort laufen Studien zur Erreichbarkeit von Ärzten, Verfügbarkeit von Pflege(3), die gar nicht so düster aussehen. Dass Dörfer aufgegeben werden müssen, weil die Infrastruktur für die wenigen Verbliebenen zu teuer ist, scheint aber zu kommen. Bezüglich Versorgungsformen kann ein Blick ins Ausland helfen, z.B. auf Cantous [betreute Haus- und Wohngemeinschaften] in Frankreich, (Demenz-)Wohngruppen in skandinavischen Ländern oder den Niederlanden.

Bezüglich Finanzierung der Sozialsysteme werden wir an den Analysen von Fritz Beske vom Institut für Gesundheits-System-Forschung (IGSF) Kiel nicht vorbeikommen: "Das Problem ist seit langem bekannt. In Zukunft werden immer weniger Beitragszahler für immer mehr ältere Menschen mit einem hohen Versorgungsbedarf Beiträge entrichten. Wenn dann die gleichen Leistungen wie heute finanziert werden sollen, müssten die Beiträge oder aber die Steuerzuschüsse erheblich steigen. Dies kann so nicht erwartet werden. Die Planung des Einsatzes der begrenzten Mittel sollte ein demokratischer und transparenter Prozess sein. Nur dann kann sich jeder darauf einstellen"(4).


Struktur und Behandlungsbedarf

Bei einem Viertel der über 65-Jährigen liegen psychische Störungen im weitesten Sinne vor. Etwa 40% dieser Erkrankungen zeigen ein behandlungsbedürftiges Ausmaß. Die Psychiatrie-Enquete hatte für Standardversorgungsgebiete von 250.000 Einwohnern 55 stationäre und 25 tagesklinisch-gerontopsychiatrische Behandlungsplätze vorgeschlagen. Im Abschlussbericht der Enquete wurde ein besonderes Gewicht in der Versorgung auf die Verbesserung der fachärztlichen Betreuung von Heimbewohnern gelegt.

Die Anzahl stationärer alterspsychiatrischer Behandlungsplätze variiert in Deutschland ganz erheblich. In unserer Region Oberschwaben sind es maximal 53 Plätze für 460.000 Einwohner, also halb so viele wie vorgeschlagen, und es gibt (noch) keine eigene Tagesklinik. Dafür hat sich die Verweildauer mehr als halbiert. In einer Stadt in Nordrhein-Westfalen (NRW) sind es etwa doppelt so viele Plätze wie in der Enquete vorgeschlagen, in Teilen Baden-Württembergs deutlich weniger, in einer Region nur 74 Betten auf 1,2 Millionen Einwohner. Künftig wird diese Zahl weniger bedeutend sein, wenn die Grenzen zwischen stationärer und ambulanter Behandlung sich lockern. Dazu am Ende mehr.

Ein Gutachten für das Bundesministerium für Gesundheit zur Lage der Gerontopsychiatrie stellt dar, dass die angemessene Versorgung psychisch kranker alter Menschen bei uns bislang kein zentrales Anliegen bei der Umsetzung von Maßnahmen der Psychiatriereform gewesen sei. Nur wenige für die Versorgung Verantwortliche hätten jene Defizite, die die Gerontopsychiatrie betreffen, als einen regelungsbedürftigen Mangel empfunden. Zudem würden in den Gesetzen der Länder die besonderen Bedarfe psychisch kranker älterer Menschen nicht berücksichtigt. Sie fänden auch keine Beachtung bei der Entwicklung gemeindepsychiatrischer Versorgungsstrukturen. Vielmehr sei man davon ausgegangen, dass die gerontopsychiatrische Versorgung durch die Geriatrie und die Altenpflege geleistet werden könne. Förderprogramme zur sozialen Integration sowie zu tagesstrukturierenden und selbstständigkeitserhaltenden Maßnahmen seien nur selten aufgelegt worden. Die gerontopsychiatrische Fachpflege sei in der Bundesrepublik Deutschland in vielen Regionen gar nicht vertreten oder deutlich unterrepräsentiert.(5)


Wo findet aktuell Versorgung statt?

Hausärzte sind besonders bei Älteren die Primärversorger. Ein Hausarzt versorgt etwa 15 demenzkranke Patienten zu Hause, weitere zehn im Heim. Ein Umbruch beginnt. Es gibt Hausärzte, die mehr Interesse und Kompetenz in der Behandlung von Demenz haben als manche Psychiater. Dennoch: Erkennungsraten von Demenzerkrankungen sind unbefriedigend,(6) Leitlinien oft nicht bekannt. Die therapeutischen Möglichkeiten werden vor allem bei Angst und Depression unterschätzt, da seelische Krankheiten als unvermeidliche Begleiterscheinungen des Alterns fehleingeschätzt werden, z.B. als "normale Altersdemenz".

In Altenpflegeheimen sind bis zu 75% der Bewohnerinnen chronisch psychisch erkrankt. Depressive Symptome sind mit 40 bis 50% häufig, davon sind 15 bis 20% "schwer" betroffen. Laut GEK-Pflegereport sind 50 bis 70% (7) der Bewohner demenzkrank, Tendenz steigend. Der Anteil an Bewohnern, der unter primär psychotischen Störungen leidet, ist mit etwa 10% konstant. Die überwiegende Mehrheit der Bewohner muss ärztlich im Heim besucht werden. Eigene Heimärzte sind selten (weniger als 5%) und werden bezüglich Patientenzentrierung kontrovers diskutiert.

In somatischen Kliniken finden sich doppelt so viele Ältere wie in der Bevölkerung. In einem Drittel der Fälle bleiben behandlungsbedürftige psychiatrische Erkrankungen unentdeckt. Dabei wissen wir, dass zum Beispiel eine Prävention für delirante Syndrome wirksam ist und depressive Störungen bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen eine Gesundung verzögern und das Risiko, in dieser Krankheitsepisode zu versterben, erhöhen.

Psychiatrische Institutsambulanzen sind bundesweit mit weniger als 10% an der Heimversorgung(8) beteiligt.

"In Altenpflegeheimen sind bis zu 75% der Bewohnerinnen chronisch psychisch erkrankt"

In unserer Region erfolgen die Besuche im Heim zu einem kleinen Teil über niedergelassene Psychiater, im Übrigen durch Institutsambulanzen zweier Träger. Kürzlich hat unsere Ambulanz nachgefragt, ob Besuchsbedarf besteht bei Helmen, zu denen noch kein regelmäßiger Kontakt besteht, und diesen auch außerhalb regelmäßiger Kontakte angeboten. Es haben also nun alle Heime bzw. Bewohner oder deren Vertreter die Möglichkeit, Facharztbesuche anzufordern.

In psychiatrischen Kliniken werden nur noch diejenigen behandelt, die ambulant nicht behandelt werden können. Bei Demenzkranken sind es diejenigen mit so genannten nichtkognitiven Störungen wie Angst, Wahn, Halluzinationen, Verkennungen, Aggressivität, massiver psychomotorischer Unruhe oder Rufen. Diese Entwicklung ist zwar gemäß der Definition von Krankenhausbehandlung eine Selbstverständlichkeit. Der Wegfall von "leichter Kranken" wird jedoch in der Personalbemessung nicht berücksichtigt. Dies bringt Mitarbeiter an die Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit und führt dazu, dass Pflegemitarbeiter sich weniger anstrengende Arbeitsplätze suchen. An anderer Stelle schießen psychosomatische Kliniken wie Pilze aus dem Boden. Die große Mehrzahl aller psychosomatischen Betten der Welt steht in Deutschland. Mit weniger aufwendig zu behandelnden Patienten lässt sich einfacher planen und in Gewinnzonen kommen. Gute ambulante Strukturen würden besonders dort viele stationäre Betten überflüssig machen.

Zwischenbilanz: Nach fachlicher Einschätzung erfordern die Problemstellungen sowie die Komplexität der Aufgaben eine spezifische gerontopsychiatrische Versorgungsplanung und -steuerung.(9) Gerontopsychiatrische Syndrome als behandlungsbedürftige Krankheiten zu erkennen ist noch lange nicht die Regel.


Warum Alterspsychiatrie als Subdisziplin etablieren?

Was ist soziale Psychiatrie? Wovon grenzt sie sich ab? Historisch sicher von den Zuständen in Großkliniken zu Zeiten vor der Enquete. Und heute? Von pharmakozentrierter Psychiatrie? Von störungsspezifischer Psychiatrie? Was sagt zum Beispiel die Homepage der DGSP zu alterspsychiatrischen Themen? Es finden sich dort Anmerkungen zur Therapeutenpersönlichkeit, Bereitschaft zu Veränderung und Sympathie, die jeder teilen kann. Völlig fehlt jedoch der Hinweis auf somatische Therapien wie auch der auf altersassoziierte Krankheiten. Konsequenterweise fehlen auch Kommentare zu Antidementiva oder zur immer noch unzureichenden Inklusion von Demenzkranken in die Pflegeversicherung. Übrigens: Die aktuell geplante Anhebung des Beitragssatzes um 0,1% oder 1,82 Euro pro Versicherten und Monat sollen die Demenzpflege verbessern. 1,5 Milliarden kommen zusammen, die sich auf 1,5 Millionen Demenzkranke verteilen, das sind 1000 Euro im Jahr oder 20 Euro die Woche. Geld ist nicht alles.

Die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie (DGGPP) 1992 war ein Meilenstein. Ziele waren die Schaffung von Lehrstühlen, Aus-, Fort- und Weiterbildung, Verbesserung von Prävention, Diagnose und Rehabilitation, Forschungsvorhaben und Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in die Praxis. Seit neuestem gibt es ein gemeinsames Zertifikat für ärztliche Weiterbildung von DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde), DGGPP und DAGPP (Deutsche Akademie für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie). Aber auch bereits die Verbesserung der Rahmenbedingungen von psychisch kranken alten Menschen und die Gleichstellung von psychisch und somatisch Kranken, die Verbesserung von regionalen gerontopsychiatrischen Versorgungskonzepten und die Zusammenarbeit von Geriatrie, Altenhilfe und Gerontopsychiatrie waren schon Gründungsziel. Damals beklagte Rolf-Dieter Hirsch, der erste Präsident, dass wesentliche Forderungen der Enquete nach fast 20 Jahren nicht verwirklicht seien. Nach Stellungnahmen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit dem Weltverband der Psychiater(10) ist eine kompetente Gerontopsychiatrie und -psychotherapie nicht durch andere Fachgebiete, etwa die Geriatrie, oder allgemeinpsychiatrische Kompetenz zu ersetzen.

Ein Schlaglicht auf Kenntnisse und Bewusstsein zu alterspsychiatrischen Erkrankungen wirft ein Artikel im "Deutschen Ärzteblatt". Im September 2011 stellte Jochen René Thyrian vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), Greifswald, fest: "Aktuellen Studien zufolge bleiben jedoch viele Demenzerkrankungen unentdeckt beziehungsweise werden nicht zu dem Zeitpunkt diagnostiziert, für den es bereits heute wirtschaftliche, einfach einsetzbare und psychometrisch ausreichend gute Instrumente gibt. Die Diagnose Demenz wird bei Patienten mit Depressionen, Gedächtnisproblemen, Hörschwierigkeiten und eingeschränkter Mobilität zu häufig gestellt. Alleinlebende Patienten werden im Vergleich dazu seltener diagnostiziert. Personen, die an einer Demenz erkranken, leiden zumeist an weiteren Krankheiten. Einer schwedischen, bevölkerungsbasierten Studie zufolge wiesen nur 34% aller Demenzkranken keine Komorbidität auf. Die Wahrscheinlichkeit, an einer Depression erkrankt zu sein, stieg einer Studie zufolge um das 1,9fache, wenn eine Demenz vorlag, ebenso stieg die Wahrscheinlichkeit einer kardiovaskulären Krankheit um das 3,1fache und die eines Oberschenkelhalsbruches um das 2,3fache. Personen mit Alzheimer-Demenz erkranken im Vergleich zu Menschen ohne Demenz häufiger an akuten Erkrankungen, wie etwa einer Lungenentzündung. Sie haben außerdem ein höheres Risiko, zu stürzen oder hospitalisiert zu werden. Eine aktuelle Untersuchung von Patienten in Allgemeinarztpraxen ergab unter anderem ein Odds Ratio [Quotenverhältnis] von 2,04 für Schlaganfälle und 1,36 für depressive Symptome bei kognitiv eingeschränkten Personen. Diese Ergebnisse legen nahe, dass auch die Behandlung der Komorbiditäten einen Einfluss auf den klinischen Verlauf einer Demenz hat. Deshalb dürfen Begleiterkrankungen keinesfalls als Ausschlusskriterien für die Erforschung wirksamer Behandlungen sein. Der ältere Patient mit der Einzeldiagnose Demenz ist nicht der Normalfall. Vielmehr verlangt die adäquate Demenztherapie gleichzeitig eine Behandlung des Bluthochdruckes, des Diabetes und weiterer chronischer Erkrankungen"(11).

Neben diesen eher wissenschaftlich-berufspolitischen Argumenten finde ich Versorgungsaspekte fast noch wichtiger. Partner in der Versorgung ist stets die Altenhilfe. Man muss deren Strukturen, die Arbeit, die Möglichkeiten kennen. In nicht spezialisierten Abteilungen ist es nahezu unmöglich, alle Aspekte einer regionalen Versorgung aller Erkrankungen und aller Altersgruppen von 18 bis 100 Jahren zu kennen.

Alterspsychiatrie hat wenig Kontakt mit anderen sozialpsychiatrischen Strukturen, Ausnahmen bestätigen die Regel. In unserer Region ist zu nennen: das ambulant betreute Wohnen in Familien, früher "psychiatrische Familienpflege", die ambulant-psychiatrische Pflege und gelegentlich passende Angebote in einem Gemeindepsychiatrischen Zentrum am ehesten für Personen mit lang andauernden Psychosen oder schweren Persönlichkeitsstörungen. Eine große Anzahl von Patienten leidet unter Demenz/Delir (bei Delir regelhaft in Kombination mit schweren körperlichen Erkrankungen) und Depression, Anpassungsstörungen oder Angsterkrankungen. Für diese Patienten passen Angebote für Jüngere wie Werkstattbesuch oder Zuverdienst leider nur selten. Zu oft sind Altere überfordert, kommen erst gar nicht oder fühlen sich (verständlicherweise) nicht zugehörig.

Dass die Gerontopsychiatrie bei der Entwicklung und Implementierung innovativer Versorgungsstrukturen im Gesamtfach eine Vorreiterrolle spielt, belegt eine Arbeit aus Bayern, deren Autoren die Effekte der Implementierung eines gerontopsychiatrischen Verbundsystems auf die Versorgung einer Region schildern und deutlich machen, dass die Ambulantisierung gerontopsychiatrischer Angebote auch unter gegenwärtigen Rahmenbedingungen möglich ist.(12)


Problem Demenzerkrankung

Der Anteil an Demenzkranken steigt von 1% zwischen dem 65. und 69. Lebensjahr bis auf 45% jenseits des 95. Lebensjahres. Wir haben in Deutschland etwa 200.000 Neuerkrankungen pro Jahr und 1 bis 1,5 Millionen Betroffene. Die Bedeutung in der Gesellschaft ist groß und steigt.(13) Konsequenzen gibt es auch für Familien: Durch Pflegebelastung erkrankt rund ein Drittel der pflegenden Angehörigen an Depressionen, Burnout-Syndromen. Die Zahl der potenziell Pflegenden nimmt auch heute schon ab. Zwei Drittel der Demenzpatienten leben zu Hause oder in der Familie, allerdings wohnt nur ein Viertel bis zum Tod zu Hause. Die Anzahl allein lebender Demenzpatienten ist - besonders in städtischen Ballungsräumen - hoch. In einer Studie der DGGPP zur Frage der Demenzversorgung durch ambulante Pflegedienste zeigte sich, dass bei 20% der "Kunden" eine ärztliche Demenzdiagnose vorlag. Weitere 10% wurden durch die betreuende Fachpflege als "dement" eingeschätzt, ohne dass dieser Verdacht ärztlich gesichert gewesen wäre.(14)

"Durch Pflegebelastung erkrankt rund ein Drittel der pflegenden Angehörigen an Depressionen, Burnout-Syndromen"

Eine fachärztliche Versorgung von Demenzpatienten ist nicht die Regel. Sie machen nur etwa 3,5% der Behandlungsanlässe in nervenärztlichen Praxen aus.(15) Außerhalb der Metropolen ist ein nervenärztliches Angebot für diese Klientel praktisch nicht vorhanden. So wird nur etwa jeder vierte Demenzkranke psychiatrisch/neurologisch untersucht und behandelt. Bei den über 90-Jährigen sind es nur etwa 10%.(16) Bemerkenswert erscheint, dass 83% der Haus- und 78% der Gebietsärzte in einer aktuellen Studie angaben, dass ihre wichtigste Aufgabe bei der Versorgung von Demenzkranken sei, "Patienten und Angehörigen bei der Bewältigung des Alltags zu helfen". In derselben Studie gaben 65% der Ärzte an, Angehörigen von Demenzpatienten wiederholt anzubieten, "ihnen bei der Organisation der Versorgung zu helfen".(17) Das Problem, das diese gute Absicht birgt, liegt nur darin, dass Hausärzte die unterstützenden Angebote kaum kennen und die notwendigen Informationen oft nicht verfügbar haben. Für die pflegenden Angehörigen, die infolge der Pflegebelastung oft selber erkranken, ist eine substanzielle Entlastung von nicht zu überschätzender Bedeutung als ein Weg, Pflegemotivation und -willen zu stärken. Dazu zählen neben "Urlaub von der Pflege" auch Möglichkeiten temporärer Entlastungen wie Tagespflegen, für die gut belegt ist, dass sie positive Effekte auf Demenzkranke wie auf ihre Angehörigen haben. Sie werden aber wegen der oft damit verbundenen nicht unerheblichen finanziellen Belastungen zu wenig in Anspruch genommen.


Warum "Spezialisierung in der stationären Behandlung"?

Delir- bzw. demenzkranke Menschen (als größte Gruppe) brauchen ein sehr spezifisches Milieu. Ihr suchendes oder desorganisiertes oder umtriebiges Verhalten bringt depressive oder Angstpatienten völlig durcheinander. Bei depressiven Patienten im mittleren Lebensalter geht es um die Verantwortung in der Familie, die Rückkehr in den Beruf, die Leistungsfähigkeit. Die nachberufliche Phase hat andere Themen. Leider werden die Wünsche von "fitten" 70-Jährigen, lieber auf Stationen für Jüngere behandelt zu werden, zu schnell als sinnvoll erachtet und damit die Leugnung meist doch vorhandener "Altersthemen" unterstützt. Fragt man weiter, sind es typische Vorurteile, denen auch psychiatrisch Tätige erliegen: In der Alterspsychiatrie sind nur "Abgebaute", eine gemeinsame Behandlung nicht "zumutbar". Aus diesem Grund wird in allen Alterspsychiatrien, die groß genug sind, zwischen Delir-/Demenzbehandlung und den übrigen Krankheitsbildern unterschieden. Teils gibt es spezielle Depressionsstationen für Altere wie hier im Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg mit dem Bühlhof bei Zwiefalten, teils werden die nicht absprachefähigen Psychosekranken wegen der geschlossenen Tür gemeinsam mit den Demenzkranken behandelt.

Es stellt sich die Frage nach Spezialisierung oder Dezentralisierung. Je spezialisierter eine Subdisziplin, desto spezifischer kann die Behandlungsstrategie sein, desto mehr Erfahrung mit ungewöhnlichen Verläufen und Kompetenz im Geflecht der Institutionen wird gesammelt. Mit der Spezialisierung wird aber auch die Anreise für die Angehörigen weiter, auf Dauer der Blickwinkel der Mitarbeiter enger, verbunden mit der Gefahr "Facharzt für das linke Knie" zu werden.

Wir Alterspsychiater sind ein kleiner Haufen, (fast) alle sehr nett und engagiert. Wir müssen Identitäten bilden im Wettstreit mit der großen Anzahl der internistischen Geriater und Allgemeinpsychiater. Unsere Fachgesellschaft hat gut 300 Mitglieder, die DGPPN mehrere tausend.

Geriater behandeln (und schreiben dies auch in ihren Konzepten) Patienten mit "leichter Demenz" oder "Depression". Die wohlwollende Interpretation: Trotz Demenz oder Depression sollen die geriatrischen Erkrankungen in einem angepassten Rahmen behandelt werden. Die weniger wohlwollende: Wenn die Patienten stören oder suizidal sind, werden die Alterspsychiater zuständig. Ähnlich geht es den Allgemeinpsychiatern. Wir gelten dann als Spezialisten, wenn die Mitpatienten sich von Verwirrten beeinträchtigt fühlen, wenn sie zum Beispiel ihr Gebiss in die Suppe werfen, stundenlang "Hallo Schwester, Hilfe" rufen oder sich nachts in fremde Betten legen. Gerne wird die "Normalität" betont, wenn 19-jährige Borderline-Patientinnen sich so nett um die 80-jährige Verwirrte kümmern. Diese Normalität im alltäglichen Zusammenleben ist allerdings eine idealisierte Vorstellung.


Typische Behandlungssituationen und Krankheitsbilder

Obwohl wir Alterspsychiater nicht müde werden zu betonen, dass es außer Demenz noch andere Krankheiten gibt, wird Alterspsychiatrie oft darauf reduziert. Die folgenden Vignetten skizzieren Betroffene mit hirnorganischen Syndromen, da sie besonders typisch für unsere Arbeit sind:

Delir ohne Demenz: Frau M., 72 Jahre, Lehrerin im Ruhestand, aktiv, viel auf Reisen, allein lebend, ein Sohn im Ausland, wird aus einer neurologischen Klinik verlegt mit der Diagnose "wahnhafte Depression". Die technischen Untersuchungen einschließlich Liquor (Alzheimer-Parameter) seien unauffällig. Wegen leichter Parkinson-Symptomatik sei eine Behandlung mit niedrig dosiertem L-Dopa [Leverdopa] begonnen worden. Anfangs war Frau M. tatsächlich ausreichend orientiert. Sie sprach davon, "Geld zu verschludern", dann aber auch "bestohlen zu sein", was erste Zweifel an der Depression nährte. Sie wurde zunehmend verwirrt, nestelig, völlig aufgelöst, ängstlich, zeigte mnestische Störungen. Absprachen waren nicht mehr möglich. Zeitweise ließ sie sich auf den Boden gleiten. Alle Medikation war zunächst ohne Erfolg. Ein nicht vollständiger Darmverschluss wurde konservativ behandelt. Dann kam es zu Fieber, eine Lungenentzündung wurde festgestellt, mit Antibiotika behandelt. Nach Rückverlegung aus der Inneren war sie nicht mehr wahnhaft, jetzt überwiegend kognitiv gestört, erholte sich sehr langsam über Wochen. Bei Entlassung war sie bis auf noch leicht verminderte Belastbarkeit wieder unauffällig. Wir gingen von einem schweren Delir aus, vermutlich ausgelöst durch L-Dopa, dass durch weitere körperliche Krankheiten kompliziert wurde.

Oft werden Bewusstseinstrübung, die typisch für ein Delir sind, im Alter nicht erkannt oder sind nicht vorhanden. Auch hypoaktive Delirien, d.h. mit fehlender motorischer Unruhe, werden leicht übersehen. Dabei stellen delirante Syndrome mit 10% und bis über 50% im Allgemeinkrankenhaus eine häufige und zunehmend wichtige Erkrankung dar. Die stets auch bestehende körperliche Erkrankung wird nicht immer erkannt. Im Psychiatrischen Zentrum Südbaden in Emmendingen wurden zum Beispiel bei 1300 Patienten in einem Jahr 132-mal eine Lungenentzündung und 22-mal ein Schlaganfall erstmals als Ursache einer Verwirrtheit festgestellt, die zur Aufnahme führte.

Delir bei Demenz: Herr B., 70 Jahre alt, früher selbstständiger Finanzberater, kam wegen einer legionellen Pneumonie, erworben im Kurzurlaub in Italien, in die medizinische Klinik der Nachbarstadt. Nach fünftägiger antibiotischer Behandlung wurde er aggressiv, drückte eine Krankenschwester an die Wand, die Feueralarm auslöste, weswegen auch die Polizei kam. Heftige Halluzinationen: Krähen im Zimmer, Bären im Klinikgelände. Auch bei uns musste er in den ersten Stunden noch festgebunden werden, auch um die wichtige medizinische Behandlung einschließlich Sauerstoff weiter zu erhalten. Glücklicherweise klarte er nach einem Tag so auf, dass er wieder leidlich orientiert und kooperativ war. Erst die "hartnäckige" Anamnese bei seiner Frau förderte zutage, dass ihr Mann seit ein bis zwei Jahren "mit Papieren beschäftigt, aber nicht fertig wurde", reizbar war, sie mit Worten beschimpfte, die sie nie zuvor von ihm gehört hatte. Nach einer Woche war er vollständig vom Delir erholt, aber die von der Ehefrau beschriebenen kognitiven Einschränkungen waren gut zu erkennen. Eine wenn auch hier noch leichte Demenz ist ein Risikofaktor für ein Delir.

Demenz mit Verhaltenssymptomen: Es sind die nächtliche Unruhe, das Wandern, die Verkennungen der Pflegenden ("Verschwinde, du bist nicht meine Frau"), die Halluzinationen, das zeitversetzte Erleben ("Ich bin 36 Jahre alt, meine Kinder kommen gleich aus der Schule") die Anlass einer Aufnahme sind. Weitere häufige Themen sind ethische und palliative Fragen zu Behandlung, Ernährung, "in Ruhe sterben lassen", Wünsche der Patienten, ob vorausverfügt oder auch nicht.


Weiterentwicklung der Versorgungsformen

Ohne umwälzende Veränderungen in der Altenhilfe wäre auch eine moderne Alterspsychiatrie nicht möglich und ohne Alterspsychiatrie hätte sich die Altenhilfe nicht so in Hinblick auf psychische Erkrankungen professionalisieren können. Weiter zu nennen ist der Ausbau ambulanter Pflege und organisierter Nachbarschaftshilfe, die auch (alters-)psychiatrischen Patienten zugutegekommen sind.

In vielen Regionen wurden Altenpflegeheime kleinräumig geplant, was die Akzeptanz vergrößert und ehrenamtliche Einsätze fördert. Es gibt aber auch Regionen mit Großheimen, die Franz Müntefering kürzlich als "Pflegekasernen" bezeichnet hat: eine eigene Welt mit wenig Bezug zur Gemeinde.

Initiativen zur Information, Beratung und Schulung bezüglich helfenden Verhaltens bei Demenzkranken sind weit verbreitet. Schon die erhöhte Aufmerksamkeit, die gemeinsame Sprache, das Wissen um Anlaufstellen und Rechte war und ist für pflegende Angehörige eine Entlastung. Gleichsinnig wirken Angehörigengruppen oft im Verbund mit der Deutschen und regionalen Alzheimergesellschaften.

Institutsambulanzen mit sehr unterschiedlicher (quantitativer) Relevanz in ihren Versorgungsgebieten wurden in den letzten Jahrzehnten aufgebaut. In Baden-Württemberg gibt es erst seit 2002 Ambulanzen, die erste als Initiative der Alterspsychiatrie in Weissenau. Zwei Schwerpunkte der spezialisierten Ambulanz sind die "Gedächtnissprechstunde" mit Frühdiagnostik von Hirnleistungsstörungen, die aber unvollständig ist ohne Frühintervention. Daher gibt es nun ein sonst seltenes Gruppenangebot, um sich über Erfahrungen auszutauschen, Hilfen kennen und individuelle Ressourcen nutzen zu lernen. 90% der Behandlungen erfolgen per Hausbesuch, meist sind es Behandlungen im Heim. Da die Non-Pharma-Behandlung die erste Option in allen neuen Leitlinien ist, versuchen wir, dies in Form von psychiatrischer Pflegeplanung mit den Altenpflegekräften im Heim zu erarbeiten. Natürlich muss die Pharmakotherapie mit Betreuern, Angehörigen, Hausärzten abgestimmt werden. Fast monatlich kommen neue Warnungen zu Interaktionen, zu EKG-Veränderungen hinzu, die umgesetzt werden müssen.

Wohngruppen für Demenzkranke (oft Hausgemeinschaften genannt) als Versorgung im angestammten "Wohnviertel vor Ort" können stationäre Pflege ersetzen. Sie sind nicht unbedingt billiger, entsprechen aber eher den Bedürfnissen der Demenzkranken nach Überschaubarkeit und familienähnlichem Wohncharakter. Diese Wohnform ist eher im Norden und Westen Deutschlands entstanden und braucht im Süden noch Förderung (zum Vergleich: Gütersloh 480 Bewohner in [Demenz-]Wohngruppen, im Landkreis Ravensburg nur heimnahe Wohngemeinschaften, im Bodenseekreis eine "echte" Wohngruppe ohne Anschluss an ein Heim).

"Wohngruppen für Demenzkranke im 'Wohnviertel vor Ort' können stationäre Pflege ersetzen"

Die stationäre Versorgung in Südwürttemberg wird durch die Zentren für Psychiatrie wahrgenommen. Ziel ist es, eine Station je Region an ein Allgemeinkrankenhaus zu verlagern. Dies ist im 'Zentrum für Altersmedizin Reutlingen' seit fünf Jahren Wirklichkeit, in Ulm seit etwa zwei Jahren mit den Partnern Universität Ulm und der geriatrischen Bethesda-Klinik und in Ravensburg in Kooperation mit der Oberschwabenklinik seit etwa fünf Jahren. Vorreiter war die heutige Asklepios Klinik Nord, Hamburg-Ochsenzoll, mit Claus Wächtler als Motor.

Spezifische alterspsychiatrische Tageskliniken sind bevorzugt in Ballungsräumen gegründet worden, die erste in Deutschland 1976 in Hamburg-Ochsenzoll (Hans Lauter). 2006 waren es schon 42, knapp die Hälfte davon in NRW. Bei allen bekannten Vorteilen gibt es aber altersbedingte Probleme: Hilfe beim Aufstehen und Anziehen, Taxifahrt, Erschöpfung nach mehreren Stunden Aktivität sind oft Hindernisse. Der Wunsch, "versorgt zu sein", die Vermeidung von Mühen sind Einwände der Patienten, wenn wir sie nach kurzer vollstationärer Zeit tagesklinisch weiterbehandeln wollen. Die Klientel besteht eher aus Menschen, die zu wenig ambulant behandelt wurden, aber Behandlung brauchen und wünschen, die alleine oder isoliert und oft depressiv sind.

Integrierte Versorgung nach § 140 Sozialgesetzbuch (SGB) V bietet die Möglichkeit, die starre Grenze von ambulanter und stationärer Behandlung zu überwinden, quasi ein "Regionalbudget" auf persönlicher Ebene. Ab Januar 2011 übernahm die Ambulanz vom allgemeinpsychiatrischen Krisenteam die Behandlung und hat dadurch mehr Flexibilität, die Behandlungsintensität zu steuern. Andererseits wird bei schweren Krankheitsverläufen auch weiterhin stationäre Krisenbehandlung erforderlich sein. Es wird nur bei Patienten, die bereits vom Team der integrierten Versorgung besucht werden, gelingen, Krankenhausaufnahmen zu vermeiden. Bei den anderen geht es eher um Abkürzung und einen gelungenen Übergang zurück in die private Wohnsituation.

Weitere Versorgungsformen, auf die sich die Alterspsychiatrie in Oberschwaben stützen kann, sind das bereits erwähnte ambulant betreute Wohnen in Familien, psychiatrische Fachpflegeheime und dezentrale Wohngruppen, die eine Leistung der Wiedereingliederung sind. Wenn Patienten über 65 Jahre alt sind, wird Wiedereingliederung vom Sozialhilfeträger hier nur mit größtem Widerstand genehmigt, auch wenn die Pflege wirklich nicht im Vordergrund steht.


Grenzen der Arbeit

Die Hoffnung auf immer mehr Ambulantisierung und immer weniger stationäre Behandlung stößt in der Altersmedizin und so auch in der Alterspsychiatrie an Grenzen. Und wieder sind es die Multimorbidität auf der einen Seite und die ausgeprägten Verhaltenssymptome auf der anderen Seite, die diese Grenzen setzen. Dies zu unterschätzen wäre fatal für die Betroffenen und ihre Familien. Bei aller Angst vor einem Aufenthalt in einer Alterspsychiatrie sind es gerade die Angehörigen von sehr schwer Kranken, die die Fürsorge und Behandlung hinterher sehr schätzen und ihre Vorurteile schnellstens relativieren. So hat sich die bange Frage von Angehörigen gewandelt. Fragte man vor 20 Jahren: Wie lang muss meine Mutter bleiben?, fragt man heute: Wie lange kann sie bleiben?

Möglicherweise ist der Eindruck erweckt worden, wir in der Alterspsychiatrie sind allen Problemen gewachsen. Dies ist natürlich nicht so. Wir erleben auch Patienten und ihre Familien, meist diejenigen, bei denen Angststörungen, Konflikte und so genannte Anpassungsstörungen im Vordergrund stehen, die Vorwürfe machen, Behandlungen abbrechen, vordergründig mit Hinweis auf die stets "viel schwerer kranken Mitpatienten" oder die unzureichende stetige Zuwendung, z.B. Arztgespräche zu jeder Zeit ohne Voranmeldung führen zu können. Man kann auch von projektiven Vorwürfen eigener Schuldgefühle, eigener Unterlassungen einer Klärung oder Verantwortung, mangelnder innerfamiliärer Streitkultur sprechen. Eine objektive Gegebenheit ist aber, dass die personelle Ausstattung der stationären Alterspsychiatrien immer unangemessener wird.

"Eine Grenze ist auch die Belastung der Mitarbeiter"

Eine Grenze ist auch die Belastung der Mitarbeiter. Nur die Beziehung wirkt, das ist Konsens. Aber es gibt Arbeitsfelder, wo diese Beziehung nur kurz oder gar nicht gelingt und doch gearbeitet werden muss. Es ist die Arbeit mit Schwerstkranken. Die Mitarbeiter in der Pflege werden täglich mit Verhalten konfrontiert, das auch an ihren Kräften zehrt: die Konfrontation mit Verweigerung, unsere Pflicht - zumindest zunächst - zu versuchen, diesbezüglich etwas zu verändern, zu verbessern. Inzwischen sind die aggressiven Verhaltensweisen auf Demenzstationen im Krankenhaus häufiger als beispielsweise im Maßregelvollzug. Gewiss: Unsere Patienten ziehen meist keine Messer (wobei auch das vorkommt), aber es sind die täglichen kleinen und mittleren Verletzungen, die Kratzer, umgebogenen Finger, der Stoß in den Bauch der Krankenschwester, die zermürben. Nicht alles ist mit angemessenem und validierendem Verhalten (nach Feil bzw. Richard)(18) zu verhindern. Auch die feste Überzeugung, dass die Mehrheit dieser Übergriffe ohne Schuld, in Verkennung oder aus subjektiver "Notwehr" geschieht, hilft nicht immer. Diese Stationen fangen die schwierigsten Patienten einer Region auf wenn Familien, Betreuungskräfte, Helme, auch solche speziell für herausforderndes Verhalten oder psychiatrische Fachpflegeheime, überfordert sind. Es gibt natürlich auch Patienten, die positiv auf die Pflege reagieren, dankbar sind, viel zurückgeben, was Jan Wojnar (Psychiater im Ruhestand, vormals bei 'Pflegen und Wohnen' in Hamburg) einmal als "Demenzsucht" bezeichnet hat.

Die Grenzen der materiellen Grundlage stationärer Behandlung sind erreicht. Durch die immer besser werdenden ambulanten und teilstationären Strukturen sowie die aufgezeichneten Entwicklungen der Altenhilfe werden stationär nur noch die am "schwersten Betroffenen" behandelt. Dies lässt sich an den nackten Zahlen absehen: In unserer Region ist die Anzahl der über 66-Jährigen in 20 Jahren um 50% gestiegen, die Bettenzahl aber nur gering. Auch haben die Antistigmaarbeit, die Ambulanzen und aufgeschlossene Hausärzte, vielleicht auch der gute "Service" dazu beigetragen. Auf jeden Fall hat sich die Verweildauer bezogen auf die Anhaltszahlen nach der Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV) von 1990, 55 Tage, etwa halbiert (Weissenau: ca. 22 bis 28 Tage je nach Diagnose). Ein intensiv zu behandelnder Älterer hat aber 50% weniger Anspruch auf Arztminuten als ein Drogenkranker. Ob die künftige Abrechnung auf der Basis von Tagespauschalen Vorteile für die Alterspsychiatrie bringt, ist offen. In den Testkrankenhäusern ist es nicht gelungen, anhand der vorgeschriebenen Dokumentation von 25-minütigen Behandlungseinheiten Kosten-Trenner zu finden. Die nicht abbildbaren Leistungen, die oft den Kern psychiatrischer Arbeit ausmachen, werden erst gar nicht erfasst, sondern abwertend als "Grundrauschen" bezeichnet. Zehnmal am Tag Kurzkontakte bei einem manischen Patienten oder Prüfung der Bewusstseinslage bei Delirpatienten werden nicht extra gezählt. Gut abbildbar sind leicht Kranke, die mit einer Laufkarte Gruppen aufsuchen können. Für die Psychiatrie insgesamt ist es ein Nullsummenspiel, d.h., der Kuchen wird nur neu verteilt, um angeblich mehr Gerechtigkeit zu erwirken. Dafür müssen aber unzählige Stunden mehr und Unsummen in EDV, Softwareentwicklung, Dokumentation von Leistungen, deren Kontrolle usw. investiert werden. Schon heute ist Untersuchungen zufolge, auch aus dem eigenen Hause, der Dokumentationsanteil höher als je in der Psych-PV vorgesehen. Die immer feinsinnigeren Regeln, die am Schreibtisch entworfen, von Juristen und Medizinischem Dienst der Krankenversicherung kontrolliert werden, vermindern den Anteil an Arbeit am und mit den Patienten und deren Familien.


Zusammenfassung

Alterspsychiatrie ist und bleibt ein sehr breit gefächertes und spannendes Arbeitsfeld. Die ärztliche Versorgung erfolgt wesentlich durch die Hausärzte. Die Vorstellung, dass das allgemeinpsychiatrische Angebot allein dem Bedarf an gerontopsychiatrischer Versorgung genügen könnte, ist durch die Realität nicht gestützt. Die Anforderungen und Themen in der Alterspsychiatrie unterscheiden sich erheblich von denen der Psychiatrie des mittleren Lebensalters. Pflegerische Kompetenz und Vernetzung mit der Altenhilfe sind unverzichtbar. Alterspsychiatrie ist angesichts der Demografie zukunftsorientiert, auch wenn es inhaltlich oft um Grenzen geht. Ohne eine kleinflächig geplante, gut funktionierende solidarische alterspsychiatrische Versorgung (d.h. Pflege, Behandlung und Ehrenamt) wird die älter werdende Gesellschaft nicht menschlich sein.

Dr. Jochen Tenter ist Chefarzt der Abteilung Alterspsychiatrie und Psychotherapie am Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in Ravensburg-Weissenau. Der Artikel ist die vom Autor bearbeitete Fassung seines Vortrags auf der DGSP-Jahrestagung 2011 in Ravensburg-Weissenau.
E-Mail-Kontakt: jochen.tenter@zfp-zentrum.de Internet: www.zfp-web.de


Anmerkungen:

(1) www.dggpp.de

(2) www.destatis.de

(3) Wolfgang Hoffmann, Institut für Community Medicine, Universitätsmedizin Greifswald, Vortrag DGGPP-Kongress Berlin 2011.

(4) www.igsf.de

(5) Hirsch RD, Holler G, Reichwaldt W, Gervink T (Hrsg.): Leitfaden für die ambulante und teilstationäre gerontopsychiatrische Versorgung. Bd. 114 der Schriftenreihe des BMG. Baden-Baden: Nomos, 2000.

(6) Stoppe G, Haak S, Knoblauch A, Maeck L: Diagnosis of dementia in primary care: a representative survey of family physicians and neuropsychiatrists in Germany. Dement Geriatr Cogn Disord 2007; 23: 207-214.

(7) Rothgang H, Borchert L, Müller R, Unger R: GEK-Pflegereport 2008. Schriftenreihe zur Cesundheitsanalyse, Band 66. Schwäbisch-Gmünd, 2008.

(8) Hallauer J, Bienstein Ch, Lehr U, Rönsch H: SÄVIP - Studie zur ärztlichen Versorgung in Pflegeheimen. Hannover: Vincentz, 2005.

(9) Hirsch RD, Holler G, Reichwaldt W, Gervink T (Hrsg.): Leitfaden für die ambulante und teilstationäre gerontopsychiatrische Versorgung. Bd. 114 der Schriftenreihe des BMG. Baden-Baden: Nomos, 2000.

(10) World Health Organization & World Psychiatric Association: Organization of care in psychiatry of the elderly - a technical consensus statement. Aging Mental Health 1998; 2: 246-252.

(11) Thyrian JR, Dreier A, Fendrich, K, Lueke S, Hoffmann W: Demenzerkrankungen: Wirksame Konzepte gesucht. Dtsch Ärztebl 2011; 108(38): A-1954 / B-1660 / C-1648.

(12) Valdes-Stauber J, Nißle K, Schäfer-Walkmann S, von Cranach M: Gerontopsychiatrie in der Gemeinde. Ergebnisse eines gerontopsychiatrischen Verbundsystems. Psychiatr Prax 2007; 34: 129-133.

(13) Gutzmann H: Die Versorgungssituation der psychisch kranken Älteren in Deutschland: Position der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie, Positionspapier für die Bundesärztekammer, 2010,

(14) Grass-Kapanke B, Kunczik T, Gutzmann H: Studie zur Demenzversorgung im ambulanten Sektor (DIAS). Schriftenreihe der DGGPP, Band 7. Nümbrecht, 2008.

(15) Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung: ADT-Panel Nordrhein. Ambulante Morbidität: Die häufigsten Diagnosen in der nervenärztlichen Praxis, NRW, 2006. Melchinger, H: Demenzerkrankungen: Chronische Versorgungsdefizite. Dtsch Ärztebl 2007; 104: 3236-3T

(16) Weyerer S, Bickel H: Epidemiologie psychischer Erkrankungen im höheren Lebensalter. Stuttgart: Kohlhammer, 2007.

(17) Kaduszkiewicz H, Wiese B, van den Bussche H: Selfreported competence, attitude and approach of physicians towards patients with dementia in ambulatory care: results of a postal survey. BMC Health Serv Res 2008; 8: 54.

(18) www.integrative-validation.de

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 136 - Heft 2, April 2012, Seite 10 - 15
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juni 2012