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VORTRAG/084: Wirklichkeit und Vision - Widersprüche und Parallelwelten in der psychiatrischen Arbeit (SozPsy)


Soziale Psychiatrie Nr. 138 - Heft 4, Oktober 2012
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Wirklichkeit und Vision
Widersprüche und Parallelwelten in der psychiatrischen Arbeit

Von Renate Schernus



»Die Tyrannei des Gelingens - zur Ökonomisierung der Hilfen im psychiatrischen Alltag« lautete der Tagungstitel der Jahrestagung der DGSP Niedersachsen im Juni 2012 in Lüneburg. Wir veröffentlichen eine gekürzte Fassung des Vortrags von Renate Schernus.*


Tyrannei des Gelingens? Zunächst finde ich erwähnenswert, dass manches in der Psychiatrie richtig gut gelingt, ganz ohne Tyrannei.


Lust am Gelingen

Wir profitieren immer noch von den Errungenschaften der 1970er- und 1980er-Jahre, in denen viele differenzierte Hilfeformen auf- und ausgebaut wurden. Außerdem hat sich - etwa seit 1982 - vielerorts eine bereichernde Kultur des Austauschs zwischen Psychiatrie-Erfahrenen, Angehörigen und Professionellen entwickelt. Die Interessenvertretungen der Angehörigen und insbesondere die der Psychiatrie-Erfahrenen haben in einer Weise an Gewicht gewonnen, die ich mir noch 1980 nicht hätte träumen lassen. Dass es inzwischen unter dem Namen EX-IN eine Ausbildung von Psychiatrie-Erfahrenen als Genesungsbegleiter gibt, die vielerorts Nachahmer findet, zeigt, dass diese Entwicklung der Beteiligung Betroffener noch lebendig und vital ist.


Schattenseiten des Gelingenden

Gleichzeitig lässt sich aber auch beobachten, dass es weitgehend immer dieselben Profis und dieselben Betroffenen sind, die sich an Projekten, am Psychoseseminar, am Trialog etc. beteiligen. Die Vereine der Psychiatrie-Erfahrener haben zwar eine große Mitgliederzahl, aber nur wenige der Mitglieder können sich aus gesundheitlichen Gründen dauerhaft engagieren. Diejenigen, die sich engagieren, haben so etwas wie einen Fulltimejob, nur ohne Bezahlung. Was die Angehörigen betrifft, wird in vielen Regionen Deutschlands beobachtet, dass es immer weniger gelingt, jüngere engagierte Angehörige hinzuzugewinnen.

Für den Erhalt der beschriebenen kooperativen Kultur, für die Weiterentwicklung von Projekten und den Mut zu Experimenten spielen meines Erachtens die jeweiligen Leitungen eine wichtige Rolle. Aber selbst aufgeschlossenen Leitungen und Mitarbeitern geht derzeit wegen der neoliberal gefärbten Sozialpolitik der letzten Jahre bisweilen die Luft aus. Sie haben mit den direkten und indirekten Folgen dieser Politik zu kämpfen. Auch sie unterliegen einer Tyrannei des Gelingens, insbesondere des Gelingens schwarzer Zahlen.

Jedoch auch hinsichtlich der Kooperation mit Psychiatrie-Erfahrenen könnte man eine Gefährdung durch eine Tyrannei des Gelingens sehen. Denn es ist ja deutlich, dass bei den beschriebenen kooperativen Projekten insbesondere die gesellschaftspolitisch aktiven und organisierten Psychiatrie-Erfahrenen beteiligt sind, die dem heute einseitig vorgetragenen Ideal des selbstverantwortlichen autonomen Bürgers sehr gut entsprechen. Diese Leitvorstellung könnte aber diejenigen gefährden, die sich am wenigsten selbst helfen können.

Der Tyrannei des Gelingens lässt sich auch mit wissenschaftlichen Methoden nachspüren. Bei einer Umfrage der Universität Bielefeld fand fast ein Drittel der Befragten einen Satz wie »Menschen, die wenig nützlich sind, kann sich eine Gesellschaft nicht leisten« zutreffend. Ebenfalls zutreffend fanden sie den Satz: »Wir nehmen in unserer Gesellschaft zu viel Rücksicht auf Versager.« Sogar 60 Prozent stimmten dem Satz zu: »In Deutschland müssen zu viele schwache Gruppen mitversorgt werden.«(1)

»Eine ziemlich perfide, da versteckte Tyrannei verbirgt sich in der interessengeleiteten Masche, psychisch kranke oder behinderte Menschen in 'Kunden' zu verwandeln«

Wenn solche Einstellungen sich in unserer Gesellschaft ausbreiten, müssen wir in der Psychiatrie umso mehr darauf achten, dass im Zuge der Begeisterung für kooperatives Handeln mit wortgewandten Vertretern der Betroffenenverbände die vielen psychisch sehr stark beeinträchtigten Menschen nicht vergessen werden, die sich nicht so gut selbst artikulieren können. Effektiv, kostengünstig und leitlinienkonform lassen sich bekanntlich sehr viel besser die nicht so schwer erkrankten, benachteiligten und behinderten Menschen behandeln bzw. unterstützen.

Eine ziemlich perfide, da versteckte Tyrannei verbirgt sich natürlich auch in der interessengeleiteten Masche, psychisch kranke oder behinderte Menschen in »Kunden« zu verwandeln. Dabei liegt es doch auf der Hand, dass psychisch kranke Menschen genau in der Phase, in der sie am meisten Hilfe brauchen, gerade nicht in der Lage sind, sich wie Kunden auf einem Markt zu verhalten oder auf der viel beschworenen Augenhöhe Verträge auszuhandeln, mal abgesehen davon, dass ein Kunde lediglich Anspruch auf das hat, was er bezahlen kann. Einer Demokratie würde es viel besser anstehen, wenn die auf den allgemeinen Menschenrechten basierenden Bürgerrechte psychisch erkrankter oder behinderter Menschen ernst genommen würden.


Krankheit macht arm und Armut macht krank

Psychisch erkrankte Menschen sehen sich oft weit entfernt davon, in einem der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) entsprechenden Sinn am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Mareike Schmied, eine Frau, die mehrere psychotische Episoden heil überstanden hat, formulierte dazu vor kurzem einige prägnante Sätze: »Am unbefriedigsten finde ich bei alledem meine materielle Situation, und es ermüdet mich manchmal sehr, keine Perspektive zu haben, dies zu verändern. Ich finde, auch die Bewegung der Psychiatrie-Erfahrenen müsste sich allgemein sehr viel intensiver mit der Frage der in jedem Fall demütigenden, entpersönlichenden und psychisch belastenden Armut vieler ohnehin schon beeinträchtigter Menschen befassen, denn Krankheit macht arm, und Armut macht anfällig für Krankheit. In Kombination mit der aktuellen Wirtschafts- und Armutspolitik, die im Kern behauptet, jeder sei seines Glückes Schmied, ist das ein Teufelskreis, aus dem es keinen Ausweg geben wird, solange man nicht erkennt, dass es unter dem Strich billiger und gesünder ist, die Beeinträchtigten und Kranken zu befähigen, sich sozial in alle Bereiche der Gesellschaft zu integrieren und sie vor materieller und sozialer Armut zu schützen, anstatt sie durch materielle und damit einhergehend soziale Armut verächtlich, mundtot und handlungsunfähig zu machen und aus der wertgeschätzten und respektierten Öffentlichkeit fernzuhalten.«(2)


Parallelwelten - ungesicherte und qualitätsgesicherte

In der Psychiatrie und eigentlich im gesamten Gesundheits- und Sozialwesen lassen sich derzeit viele widersprüchliche Entwicklungen beobachten. Mir kommt das manchmal vor wie kaum miteinander verbundene Parallelwelten. Es gibt auf der einen Seite visionäre Ideen eines gesellschaftlichen Zusammenlebens, in dem - jedenfalls auf dem Papier - auch noch der nervtötendste Störenfried ans teilhabebereite Herz gedrückt wird. Es gibt in der UN-BRK unter dem Stichwort Inklusion wunderbare Leitideen für sämtliche Lebensbereiche. Auf der anderen Seite gibt es - davon ziemlich unberührt - den Alltag in den Kliniken und Diensten, der trotz Personalknappheit und bürokratischer Hindernisse ja weiterhin oft tapfer und menschlich zugewandt durchgehalten wird. Daneben gibt es in verschiedenen Regionen kleine, kooperative, auf gesellschaftliche Teilhabe ausgerichtete Projekte, die auf lokaler Ebene trotz mancher Widrigkeiten bisweilen recht gut funktionieren. Es gibt verschiedenste Modellversuche und Erprobungen von effizienzorientierten Steuerungsinstrumenten und Entgeltsystemen auf struktureller Ebene. Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang die kaum mehr zu überblickenden, häufigen Gesetzesänderungen, die die Praktiker verwirren und manche eher strategisch begabte Kollegen zu allen möglichen integrierten oder weniger integrierten Experimenten verführen, bisweilen mit suspekten Kooperationspartnern. Und vor allem gibt es die von Mareike Schmied beschriebene, gerade psychisch erkrankte Menschen hart und dauerhaft ausschließende Armut in einer zwischen Arm und Reich immer mehr gespaltenen Gesellschaft.

Im Prinzip könnten sich natürlich verschiedene Entwicklungsstränge gegenseitig herausfordern und befruchten. Dazu allerdings wäre es notwendig, dass die Widersprüche nicht verschleiert werden.

Mir scheint jedoch, dass in dem Prozess, den wir unter dem Stichwort Ökonomisierung des Sozial- und Gesundheitswesens zu verstehen versuchen, vieles verschleiert wird.


Was Mitarbeiter so erleben ...

All dies kann nicht ohne Auswirkungen auf die Kultur der psychiatrischen Arbeit bleiben. Jedenfalls scheint es mir naheliegend, nicht nur die Kritik von Betroffenen, sondern auch die kritische Sicht vieler Mitarbeiter damit in Zusammenhang zu bringen.

Mitarbeiter klagen darüber, dass sich die Ziele der Arbeit in beunruhigender Weise geändert hätten. Prozessorientierte Arbeit im Sinne von »Der Weg ist das Ziel!« werde nicht mehr gewünscht, weil vorrangig die Ergebnisorientierung zähle. In Dienstgesprächen des so genannten betreuten Wohnens bewege sich der Schwerpunkt weg von dem, was der Klient braucht, hin zur Anzahl der geleisteten Fachleistungsstunden.

Erwartungen an das eigene fachliche und ethisch vertretbare Handeln werden frustriert durch einseitig erfolgsorientierte Konzepte, durch strukturell gesetzte Einschränkungen und durch unverhältnismäßig aufgebauschte Verwaltungs- und Dokumentationsaufgaben. Immer deutlicher werde signalisiert, dass die Arbeit auch von schlechter qualifiziertem Personal durchgeführt werden könne. Die Reduzierung von Stellen und die Prekarisierung der Anstellungsbedingungen führen zur Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes.

»Prozessorientierte Arbeit im Sinne von 'Der Weg ist das Ziel!' wird nicht mehr gewünscht, weil vorrangig die Ergebnisorientierung zählt«

Dies und der alltägliche Arbeitsstress, der kaum Raum lässt für zusätzliches Engagement, tragen vermutlich dazu bei, dass eine breite sozialpolitische Protestbewegung von unten bisher nicht zustande gekommen ist. Etwas Tyrannisches könnte man auch darin sehen, dass der überall empfundene ökonomische Druck der Neigung zu autoritären Leitungsstilen Vorschub leistet. Ich zitiere einen Sozialarbeiter, der in einem ambulanten Dienst arbeitet im Originalton: »Wenn ich als Mitarbeiter der Leitung gegenüber nicht sagen kann, was ich denke und fühle, wenn ich die erlebten Widersprüche nicht besprechen kann, führt das bei mir zu einem Wahnsinnsdruck, und ich kann mir gut vorstellen, dass das so eine Mischung ist, die auch zu psychischen Erkrankungen führen kann.« Eine andere Mitarbeiterin formulierte: »Früher hat die Vorgesetzten interessiert, dass gute Arbeit gemacht wird, heute muss man vor allem seine Arbeit gut darstellen.«(3)


Exkurs zur Sprache - von Worten und Unworten

An dieser Stelle erlaube ich mir einen kleinen Exkurs zur Sprache. Wenn ein einflussreicher diakonischer Arbeitgeber wie Bethel in seinen Zielvorstellungen, genannt »Visionen«,(4) unter der Überschrift »Den Markenauftritt Bethels stärken« postuliert, dass »das gute Image Bethels gezielt« genutzt werden solle, »um die Chancen unserer Dienstleistungen und Produkte im Wettbewerb zu verbessern«, wird hiermit nicht nur deutlich, wie stark das Darstellen in den Vordergrund gerückt ist, sondern auch wie selbstverständlich die ökonomisierte Sprache übernommen wird und in und mit ihr das dazugehörige Denken.

Wie wir sprechen, spiegelt unser Denken, Fühlen und Wahrnehmen, auch unsere Haltung wider. In seiner Analyse der Sprache des »Dritten Reichs« formulierte Victor Klemperer 1946: »Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewusster ich mich ihr überlasse [...]. Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.«(5)

Als ich begann, mich für diesen Vortrag vorzubereiten, wurde gerade das Unwort des Jahres 2011 gekürt. Bekanntlich heißt es »Dönermorde«. Ein Wort, das »unbemerkt verschluckt« wurde und jahrelang unbehelligt in unserer Sprache wohnen konnte, ohne dass es jemandem auffiel, in welch perfider Art es diskriminierend, verschleiernd und mit dem Bezug auf die beliebten Döner verharmlosend ist. Auf dem zweiten und dritten Platz rangierten 2011 »Gutmensch« und »marktkonforme Demokratie«. Hinsichtlich »marktkonformer Demokratie« fragte ich mich, ob in einer solchen von den Verantwortlichen im Sozial- und Gesundheitswesen überhaupt noch erwartet werden kann, sich anders als marktkonform zu verhalten. Dies sieht der Betriebswirtschaftsprofessor Urs Jäger, in einem Beitrag im »Hephata Magazin«, der Zeitschrift eines Diakonischen Trägers, wohl auch so, wenn er schreibt: »Ein funktionierender Kapitalismus braucht soziale Sicherheit. Deshalb leistet eine diakonische Einrichtung einen Beitrag zur Grundlegung einer kapitalistischen Gesellschaft.«(6)

Dass in einer marktkonformen Demokratie erhebliche Probleme für die Verantwortlichen im Sozial- und Gesundheitswesen entstehen, finde ich verständlich, eine so nahtlose und widerspruchslose Identifizierung scheint mir allerdings höchst bedenklich. Jedenfalls brachte mich das Unwort 2011 auf die Idee, mich mit weiteren so genannten Unworten zu beschäftigen und zu schauen, ob sie einen Bezug zu unserer Arbeit haben. Da sprangen mir sogleich mehrere Unworte aus den Jahren 1996, 1997 und 1998 in die Augen. Sie hießen: »Rentnerschwemme«, »Wohlstandsmüll« als Umschreibung für arbeitsunwillige ebenso wie arbeitsunfähige Menschen und »sozialverträgliches Frühableben«. 2002 hielt die »Ich-AG« Einzug und 2004 und 2005 folgten dann »Humankapital« und »Entlassungsproduktivität«. Alles Begriffe, die in unterschiedlicher Art und Weise auf die - wodurch auch immer - benachteiligten Menschen unserer Gesellschaft zu beziehen sind. 2008 folgte dann mit »notleidende Banken«, eine bemerkenswerte Akzentverschiebung, was die Subjekte des Erleidens von Not betrifft. 2009 kamen die Begriffe »betriebsratsverseucht« und 2010 schließlich »alternativlos« auf die Agenda, die deutlich anzeigen, dass unbequeme Betriebsräte wie eine ansteckende Krankheit erlebt werden und Widerstand zwecklos sei, da die weisen Entscheidungen der Politik als »alternativlos« anzusehen sind.

Manch einer wird vielleicht solche Worte, die ja häufig von exponierten Persönlichkeiten, u.a. von Politikern, in die Welt gesetzt worden sind, für zufällige Markierungen oder Entgleisungen halten, ich halte sie für entlarvend.

»Sprache«, so Ulrich Beck, »ist der Ort und das Medium der Herstellung des Sozialen. Wir wohnen in der Sprache. Und wer möchte schon in Politikersätzen wohnen. Ich fürchte die Politiker selbst nicht.«(7) Und ich ergänze: Wer möchte schon in einem modernistischen sozialtechnokratischen Jargon wohnen?

»Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht verführen lassen, uns von einem inflationären Wortzauber blenden zu lassen, der nicht mehr der Veränderung der Zustände, sondern ihrer Verschleierung dient«

Auch wir in der Psychiatrie müssen aufpassen, dass wir uns nicht verführen lassen, Worte »unbewusst zu schlucken« oder uns von einem inflationären Wortzauber blenden zu lassen, der nicht mehr der Veränderung der Zustände, sondern ihrer Verschleierung, ihrer Euphemisierung dient.

»Unbewusst verschluckt« hatte ich zum Beispiel den Begriff »Dienstleistung« als Kennzeichnung für all das, was wir so im Sozial- und Gesundheitsbereich tun. Diesbezüglich hat mir Raimund Hassemer in einer prägnanten Arbeit mit dem Titel »Soziale Arbeit im Würgegriff von Ökonomisierung und Technisierung« die Augen geöffnet. Was Hassemer für die Soziale Arbeit ausführt, lässt sich auf die meisten Facetten der psychiatrischen Arbeit beziehen. Wenn wir erst einmal geschluckt hätten, dass wir Dienstleistungen produzieren, erhielten wir, so Hassemer, »Einlass in ein technisierte Wunderland«. Dann ließe sich der Einsatz von Techniken, die sich in anderen Dienstleistungssektoren längst bewährt hätten, mühelos auf unsere Arbeit übertragen: »Qualitäts- und Case-Management mit ihren unterschiedlichsten Verfahren und Instrumenten, Wirkungs-, Kunden- und Kennzahlorientierungen, die Bemessung von Fachleistungsstunden und persönlicher Budgets, die Definition und Evaluation spezifischer Produkte - all dies und noch viel mehr wächst und gedeiht auf dem Humus der Dienstleistungskonzeption.«(8)


Widersprüche

Zurück zum Thema Widersprüche und Parallelwelten. Mir scheint, dass sich die gesamte Sozialpolitik Europas derzeit in einer ziemlichen Zerreißprobe zwischen realem Abbau sozialer Errungenschaften und hehren Visionen befindet. An verheißungsvollen Konzepten fehlt es nicht. Viele dieser Konzepte könnten im Prinzip als wichtige Ergänzungen bisheriger Praxis dienen, könnten kreatives Handeln anregen. Skepsis scheint mir dann geboten, wenn solche Konzepte durchsetzt sind vom Marktjargon, von der technisierten Dienstleistungssprache und von der Verheißung größerer Effizienz und messbarem Erfolg. Letzteres erleichtert es erheblich, die Konzepte kompatibel zu machen mit Kosteneinsparungen, und so verändert sich dann unter der Hand die primäre Zielsetzung. Dieser Zusammenhang bringt auch Konzepte, die wir im Prinzip wertzuschätzen geneigt sind - ich nenne als Beispiel nur die Stichworte »Recovery« und »Empowerment« - in die Gefahr, den Prozess des Gesünderwerdens und des Zugewinns an Autonomie unter Erfolgsdruck zu bringen und die notwendige Begleitung sowie den Schutz der mehr oder weniger Erfolglosen zu vernachlässigen. Und noch etwas: Nachdem unter dem Stichwort »Personenzentrierung« die Entdeckung der Person endlich stattgefunden haben soll, gibt es nun auch - wer hätte das gedacht? - die Entdeckung, dass zum Menschen auch andere Menschen und eine Umwelt gehören. Und jetzt wird also der Sozialraum entdeckt. Seine angemessene Pflege gerät allerdings in erheblichen Widerspruch zur Fachleistungsstundensystematik.

Hochaktuell ist zurzeit auch das Stichwort »Vernetzung«, ein neues Wort für den altbekannten Tatbestand, dass es vernünftige Zusammenarbeit im Interesse der Patienten geben muss, was allerdings wiederum in Widerspruch gerät mit dem politisch gewollten Wettbewerb.


Auf der Suche nach einer besseren Psychiatrie

Nun aber einmal ohne Ironie. Ich finde Skepsis in Zeiten von Ökonomisierung und Technisierung wichtig. Sie sollte uns aber auf keinen Fall von der Suche nach einer und dem Engagement für eine bessere Psychiatrie abhalten. Die Bemühungen, auf Bedürfnisse von Patienten frühzeitig und flexibel zu reagieren und mit ihnen und der für sie wichtigen Umgebung in einen offenen Dialog zu treten, den Neuroleptikaverbrauch so weit als irgend möglich zu reduzieren, unnötige Klinikaufenthalte zu vermeiden sowie psychotherapeutischer Begleitung viel mehr Raum zu geben als bisher bei uns üblich - all dies verdient Hochachtung und Anerkennung. Sicher, viele Praktiker bemühen sich alltäglich um solche Elemente im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten zu erweitern, darum geht es vielen unserer DGSP-Kollegen - von Volkmar Aderhold über Nils Greve bis Thomas Bock (»finnisches Modell«, »bedürfnisorientierte Behandlung«). Es geht ihnen um die Veränderung von Rahmenbedingungen, um besser in der beschriebenen Weise arbeiten zu können, und es geht ihnen wohl auch darum, eine Form der integrierten Versorgung zu gestalten, die dem in diesem Begriff enthaltenen Anspruch gerecht wird. Dabei knüpfen sie meines Erachtens erkennbar an die humanistischen, anthropologischen Traditionen der Psychiatrie an, deren Bedrohung sich mir nicht zuletzt in den zitierten Berichten der Mitarbeiter abzuzeichnen scheint. Traditionen, die im psychisch erkrankten Menschen nicht erst seit gestern die Person sehen, eine Person, die sowohl durch den Bezug auf sich selbst, auf ihre Erfahrung, ihre Subjektivität zu verstehen ist als auch in ihren Beziehungen zu anderen Menschen. Beides gehört ja zu der jeweiligen Geschichte des Menschen, einer Geschichte, die zu dem Zeitpunkt, an dem wir ihm begegnen, nicht abgeschlossen, sondern immer offen ist. Nur wenn wir Menschen so begreifen und nicht als Opfer entgleister Gehirnfunktionen, die vorrangig durch Medikamente zu reparieren sind, können wir heilsam mit ihnen umgehen. Nur dann können wir unseren Blick offenhalten für das, was ein Mensch wirklich braucht, sei es auf subjektiver, sozialer oder biologischer Ebene.

Ich glaube, all diese absolut nicht neuen Erkenntnisse können im wohl verstandenen Sinne hinter den Begriffen »integrierte Versorgung« und »bedürfnisorientierte Behandlung« stehen.

Aus den Klagen der Mitarbeiter geht ja hervor, dass derzeit vielerorts Rahmenbedingungen im Alltag der Kliniken und Dienste gerade diese Art des Arbeitens verhindern.

An dem - jedenfalls für mich - undurchsichtigen Gerangel um die Integrierte Versorgung kann man allerdings wieder beobachten, wie sehr solche vernünftigen Bemühungen von wirtschaftlichen und Profitinteressen bedroht sind und - wie mir scheint -auch von einer Politik, die den Wettbewerb im Sozial- und Gesundheitswesen hochhält und die durch ihre jahrelange ungerechte Steuerpolitik die Handlungsspielräume der Kommunen extrem eingeschränkt hat.

Neue Behandlungsmodelle lassen sich in vielen Bundesländern und Kommunen mit der Politik eigentlich nur noch verhandeln, wenn sie versprechen »effektiver« und »kostengünstiger« zu sein. Auch durch Vernetzung soll nunmehr Effektivität und Kostensenkung erreicht werden. Ob weitere Einsparungen sich realisieren lassen, ohne die Qualität der Arbeit zu beschädigen, wage ich jedoch zu bezweifeln.


Schlussbemerkung

Ich sehe also Laufendes und Gegenlaufendes. Ich sehe Kollegen, die den Freiraum haben und ihn nutzen, Umgangs- und Behandlungsansätze zu entwickeln, die den Bedürfnissen psychisch erkrankter Menschen und ihren Angehörigen besser gerecht werden wollen. Ich sehe Kollegen, die sich um eine gerechtere und bessere Versorgung ganzer Regionen Gedanken machen und die sich politisch einmischen. Ich sehe Kollegen, die im Rahmen ihrer institutionellen Arbeit mit viel Fantasie trotz manchem Gegenwind Teilhabeprojekte entwickeln oder Arbeitsgelegenheiten schaffen und die dafür kämpfen, bewährte und gut angenommene Angebote, z.B. Kontaktstellen, zu erhalten. Und ich habe viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Augen, die Tag für Tag versuchen, in ihren jeweiligen Diensten und Einrichtungen trotz erheblich erschwerter Arbeitsbedingungen Vertrauen aufzubauen zu verstörten, ängstlichen, verrückten, behinderten, verwahrlosten, manchmal aggressiven Menschen, Vertrauen, das notwendig ist, um herauszufinden, was für den jeweiligen Menschen Sinn machen könnte, was ihn verlocken könnte, gesünder zu werden. Ich sehe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich mit originellen, eigensinnigen, oft sehr anstrengenden Klienten Tag für Tag auseinandersetzen, Mitarbeiter, die - obwohl manchmal am Rande der Verzweiflung - nicht lockerlassen, die den langen Atem behalten, auch wenn ein Klient keinerlei Veränderungswünschen entgegenkommt und das nicht Gelingende auszuhalten ist.

»Nur wenn wir Menschen nicht als Opfer entgleister Gehirnfunktionen, die vorrangig durch Medikamente zu reparieren sind, begreifen, können wir heilsam mit ihnen umgehen«

Nein, keineswegs ist alles schlecht in der Psychiatrie.

Ich sehe aber auch neben Mitarbeitern, die noch in der Lage sind, ihre Kritik und ihr Leiden an dem, was die Arbeit behindert, zur Sprache zu bringen, viele Kollegen und Mitarbeiter auf allen Ebenen, die einfach unreflektiert mitziehen oder die selbst überzeugt sind von dem modernen, pragmatisch verkürzten Erfolgsdenken und den technologischen, mit ökonomischen Prioritäten höchst kompatiblen Vorgehensweisen. Zu einer solchen Haltung tragen entsprechend normierte Ausbildungspläne an manchen Lehrinstituten bei.

Ich glaube nicht, dass sich auf sozialpolitischer Ebene in der nächsten Zeit die Lage entscheidend verbessern lassen wird - aber vielleicht in der übernächsten Zeit. Und deshalb bin ich trotz allem überzeugt, dass es erstens notwendig ist, weiter an Ideen zu einer breiteren sozialpolitischen Protestbewegung zu arbeiten - diesbezüglich macht Hoffnung, dass es inzwischen viele kritische Initiativen in dieser Richtung gibt. Zweitens bin ich auch überzeugt, dass jeder, auf welcher Ebene der Hierarchie auch immer, sei es in seinem alltäglichen Umgang, sei es in Leitungsverantwortung, Spielräume finden kann, um die psychiatrische Arbeit nicht verkommen zu lassen zu einem Bündel von messbaren Leistungspaketen eines wie auch immer gearteten Dienstleisters.

Dazu greife ich nochmals auf Raimund Hassemer zurück und zitiere ihn in leichter Abwandlung: Die Antwort auf den ökonomischen Druck, dem auch die psychiatrische Arbeit ausgesetzt ist, darf und kann jedenfalls keine technologische sein, weil sich jede Technologie an dem jeweils einmaligen, eigen-sinnigen Gegenüber bricht, dem wir uns zu widmen haben. »Es ist vielmehr an der Zeit, ... den internen wie externen Technizisten deutlich zu machen, dass es Felder gibt, auf denen ihre reduktionistischen Modelle versagen.«(9)


Renate Schernus ist Diplom-Psychologin und lebt in Bielefeld. Sie ist Mitinitiatorin der 'Soltauer Initiative für Sozialpolitik und Ethik'. Bei dem Text handelt es sich um die von der Autorin stark gekürzte Fassung ihres Vortrags im Rahmen der Jahrestagung des DGSP-Landesverbandes Niedersachsen am 28.6.2012. Der vollständige Vortrag kann im Internet nachgelesen werden unter
www.soltauer-impulse.culturebase.org
Internet: www.renate.schernus.kulturserver-nrw.de


Anmerkungen:

(1) Frankfurter Rundschau, 5./6. April 2012, S. 12.
(2) Mareike Schmied in ihrem Vortrag beim »Regionalen Selbsthilfetag Psychiatrie-Erfahrener« am 26.11.2011 in Bielefeld.
(3) Schmidt, Joachim/Schernus, Renate: Das Ganze hat nicht nur eine materielle Seite - Soziale Arbeit heute - ein Interview. In: Sozialpsychiatrische Informationen 1/2012.
(4) Bethel - Gemeinschaft verwirklichen - Unsere Visionen und unsere strategischen Entwicklungsschwerpunkte 2011-2016.
(5) Klemperer, Victor (1946): LTI - Notizbuch eines Philologen. 16. Aufl. Leipzig: Reclam-Verlag, S. 26 f.
(6) Jäger, Urs: Diakonie vor neuen Zeiten. In: Hephata Magazin, 42, Juli 2010, S. 6 ff.
(7) Beck, Ulrich (Hrsg.) (1997): Kinder der Freiheit - wider das Lamento über den Werteverfall. Frankfurt am Main: Suhrkamp-Verlag, S. 30 f.
(8) Hassemer, Raimund (2011): Soziale Arbeit im Würgegriff von Ökonomisierung und Technisierung - wider eine »Soziale Arbeit als Dienstleistung«; Internet: www.Ethik-und-Gesellschaft.de
(9) Hassemer, a.a.O.

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 138 - Heft 4, Oktober 2012, Seite 4 - 8
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
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Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
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Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Dezember 2012