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VORTRAG/089: Über eine neue Beziehungskultur zw. Psychiatrie-Erfahrenen, Angehörigen und Professionellen (Klaus Dörner)


Soziale Psychiatrie Nr. 147 - Heft 1, Januar 2015
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Begegnung und Gegnerschaft

Von Klaus Dörner


Auf der Jahrestagung 2014 der Aktion Psychisch Kranke (APK) sprach KLAUS DÖRNER über eine neue Beziehungskultur zwischen Psychiatrie-Erfahrenen, Angehörigen und Professionellen.


Als Ursula Plog und ich 1978 "Irren ist menschlich" schrieben, haben wir damit versucht, die damals noch neue Tagesklinik-Erfahrung theoretisch zu verdichten. So kamen wir auch auf die heute viel öfter gestellte Frage, ob psychische Störungen vielleicht nicht so sehr medizinische Krankheiten, sondern zwischenmenschliche Beziehungsstörungen sein könnten, an denen immer mehrere Menschen beteiligt sind.

Entscheidend dafür war unsere "Erfindung" der "Angehörigengruppen", denn dann wären Beziehungen in der Psychiatrie nicht mehr privat-intime Zweierbeziehungen (Arzt-Patient-Beziehung), sondern sozial-verbindlichere, also trialogische Profi-Patient-Angehörigen-Beziehungen auf derselben Ebene, enthierarchisiert.

Dann könnte man nicht mehr sagen "Ich verstehe dich", im Sinne von "Subjekt versteht Objekt", sondern man müsste davon ausgehen, dass diese drei Figuren jeder psychiatrischen Situation sich zunächst fremde Andere sind, wo auch von Empathie zunächst nicht die Rede sein könnte. Vielmehr haben wir das Bild der Handwerkersprache zugrunde gelegt, wo jeder sich auf einen fremden Anderen versteht, wobei uns zusätzlich einfiel, dass in einer demokratischen Gesellschaft der Andere zunächst nur in seinen andersartigen Interessen und Bedürfnissen zu achten ist, woraus später vielleicht Freundschaftsbeziehungen werden können, aber vor allem garantiert ist, dass ich den Anderen als Gegenüber, als Gegner, in der Begegnung zu respektieren habe, eben damit er mir nie zum Feind werden kann, den ich ablehnen, vernichten oder mir aneignen kann. Dieser Grundsatz "In der Begegnung begegnen sich Gegner" ist das Fundament für die Grundhaltung jeder Beziehung, z.B. auch zwischen mir und meiner Frau. Davon hat uns zudem überzeugt, dass fast alle europäischen Sprachen ihrem Beziehungsbegriff das Wort "contra" zugrunde legen.

Wir haben also in den Siebzigerjahren (noch mit dem Rückenwind der 68er-Bewegung) ziemlich wild mit Beziehungen sprachlich experimentiert, wobei die meisten Neuerungen noch von uns Profis ausgingen, die wir damals noch allein den Hut aufhatten.

Aber ab den Achtzigerjahren begann der Prozess der Systematisierung und der Vernetzung der brauchbaren Neuerungen, und erst seither kann man von den Beziehungen und deren Qualität in der neuen Hilfekultur sprechen.

Denn seit 1980 die Angehörigen und 1990 die psychisch Kranken sich auf Bundesebene organisierten und Letztere sich dank Dorothea Buck die "Psychiatrie-Erfahrenem nannten, haben wir Profis nicht mehr allein den Hut auf, besteht das Hilfesystem aus Beziehungen, wobei zu den Angehörigen - insbesondere in Bezug auf die Inklusion der chronisch psychisch Kranken (also der "Unheilbarem) - noch die Nachbarn und letztlich alle Bürger eines Sozialraums im Sinne eines Wohnviertels hinzukommen.

So sind wir in Gütersloh bei der Integration sämtlicher 435 Langzeitpatienten eigentlich mit dem "Lehrsatz" ausgekommen: "Solange ich von Profis umzingelt bin, bin ich nicht integriert." Daher können wir Profis zwar viel, wir können aber nicht andere Bürger in der Alltagsbegleitung nachhaltig integrieren; vielmehr können Bürger nur von anderen Bürgern integriert werden. Somit ist der Beziehungsunterschied zwischen Profihelfern und Bürgerhelfern nicht nur ein ökonomisch-quantitativer, sondern ein qualitativer.

Inzwischen besteht nicht nur das Hilfesystem aus den Beziehungen zwischen mehreren Personen oder Gruppen, sondern auch die psychischen Störungen selbst werden anthropologisch-philosophisch zunehmend als Beziehungsstörungen zwischen mehreren Menschen aufgefasst, was seit dem Buch von Thomas Fuchs "Das Gehirn - ein Beziehungsorgan"(*) selbst neurobiologisch gilt. Psychiatrie ist also nicht mehr nur naturwissenschaftlich-medizinisch, sondern auch geisteswissenschaftlich-philosophisch fundiert - nämlich so, wie die Psychiatrie ursprünglich um 1800 entstanden ist (vgl. etwa Kants "Anthropologie").

Mit Blick auf unsere zukünftigen Aufgaben sind wir daher mit der Annahme gut beraten, dass wir uns gegenwärtig in einem Epochenumbruch befinden, von der 150-jährigen Industrie-Epoche zu einer noch nicht benennbaren sozial-ökologischen (Dienstleistungs-)Epoche. Fortschritt würde dann erstens nicht mehr - wie bisher - Institutionalisierung der chronisch psychisch kranken und behinderten Menschen bedeuten, sondern Deinstitutionalisierung und Inklusion. [...]

Fortschritt wäre zweitens nicht mehr, psychische Störungen einseitig nach dem medizinischen Defizit-Modell nur als Krankheit, die immer nur ein isoliertes Individuum betrifft, aufzufassen. Sondern die psychische Störung ist mehr ganzheitlich als philosophisch-anthropologisches Ausdruckspotenzial der zwischenmenschlichen Beziehungen wahrzunehmen, wie die Psychiatrie noch an ihrem Beginn formuliert hatte.

Und drittens wäre Fortschritt nicht mehr - wie bisher - die möglichst vollständige Professionalisierung des körperlichen, psychischen und sozialen Helfens; sondern die einzig zukunftsfähige Mischung bestünde aus Profihelfern, Bürgerhelfern und Selbsthelfern; denn dann wären Psychiatrie-Erfahrene nicht mehr "Objekte" medizinischer Behandlung, sondern Subjekte gemeinsamen "trialogischen Handelns", und dem praktischen Handeln wäre organisatorisch ein Sozialraumbudget zugrunde zu legen - mit einem größeren Personalbudget für uns Profihelfer, aber auch einem kleineren Personalbudget für Bürger- und Selbsthelfer, was sich heute immerhin schon andeutet. Für Karl Jaspers sind alle Akteure jeder psychiatrischen Situation sich gegenseitig existenzielle "Schicksalsgefährten".

Genau auf diesen Weg haben wir uns in den letzten zehn Jahren (nach England, Skandinavien und den Niederlanden) mit den Peer-Beratern und den EX-IN-Genesungshelfern bereits gemacht, worin zum Beispiel die Psychiatrische Klinik Bremerhaven zurzeit Tabellenführerin ist, wo zu jedem Stationsteam auch ein fortgebildeter Psychiatrie-Erfahrener (ein EX-INler) gehört und nach Pflegehelfer-Tarif bezahlt wird. Es war wohl von hoher symbolischer und zukunftsträchtiger Bedeutung, dass der historische Durchbruch in dieser Richtung ausgerechnet bei der Schicksalsfrage zustande kam, ob auch die Zwangssterilisierten und "Euthanasie"-Mordopfer als Nazi-Verfolgte Anerkennung und gegebenenfalls Entschädigung erhalten sollten. Denn über viele Jahrzehnte waren gerade wir Profis entweder dagegen (selbst Pastor von Bodelschwingh war ein überzeugter Sterilisationsbefürworter) oder konnten uns als Befürwortungsminderheit mangels Glaubwürdigkeit nicht durchsetzen. Als aber 1987 Klara Nowak und Dorothea Buck den "Bund der 'Euthanasie'-Geschädigten und Zwangssterilisierten" und bundesweit gründeten, die Betroffenen also erstmals mit eigener Stimme sich für ihre Belange einsetzen konnten, dauerte es nur einige Monate, bis in den zuständigen Bundestagsausschüssen sowohl die Anerkennung als auch die Entschädigung - wenn auch nur zweiter Klasse! - durchgesetzt war! Inzwischen hat sich in vielen weiteren Belangen dieser Grundsatz durchgesetzt, dass Eigen-Sprache besser als Fürsprache ist.

Zum Schluss noch ein paar praktische Perspektiven für die neue Beziehungskultur, mit der wir zugleich das Feld bestellen, um uns langfristig der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und damit dem Menschenrecht zu nähern:

1. Die Niederlande planen für 2015 einen Kongress mit dem Titel "Machtwechsel in der Psychiatrie - die Psychiatrie-Erfahrenen an die Macht".

2. Nur durch meine eigene Profihelferrollenperspektive denke ich, dass ich mich gut in den Dienst der Inklusion stellen kann, wenn ich nicht - wie bisher - alle Hilfen selber leiste, sondern meine Zeit nutze, um Bürger in Nachbarn zu verwandeln und sie bei ihrem heute größeren "Helfensbedürfnis" zu begleiten.

3. Im Übrigen halte ich mich gern an meine philosophischen Lehrer und Rabbi Emmanuel Levinas, für den Beziehungen stets von Anderen und "Letzten" her zu denken sind.

4. Leiste ich als Profi nur das, was nur ich leisten kann. Damit aber mein Leisten nicht zur Machtfrage ausartet, ist sie in eine für alle tragfähige Beziehung einzubetten, was mir jedoch nur möglich ist, wenn ich dem Anderen (den Psychiatrie-Erfahrenen und Angehörigen) und damit unserer Beziehung diene. Damit bekommt aber der heutige Begriff der "Dienstleistungsepoche" einen schon halbwegs vernünftigen Sinn (Helfen = Leisten + Dienen = Technik + Zeit), der es hier sogar erlaubt, von der "guten Qualität" von Beziehungen zu sprechen.


Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner, ehem. leitender Arzt der Psychiatrischen Klinik Gütersloh, lebt in Hamburg und ist unter anderem seit seiner Pensionierung 1996 als bahnreisender Vortragsredner bekannt und gefragt.

(*) Fuchs, T. (2013): Das Gehirn - ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. 4., akt, u. erw. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer-Verlag.

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 147 - Heft 1, Januar 2015, Seite 21 - 22
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. April 2015

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