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BERICHT/001: Bezichtigungsmedizin am Beispiel der Proteomanalyse - Teil 1 (SB)


Gesundheitsdelinquenz auf Bewährung

Gesundheitspolitische Entwicklungen schaffen eine neue Art der Straffälligkeit


Die Definition der WHO, nach der Gesundheit "ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen" [1] ist, läßt sich nicht in Deckung bringen mit der Befindlichkeit von Menschen, die in unserer Gesellschaft aufgrund wirtschaftlicher und sozialer Lebenserfordernisse von klein auf einem Lebensrhythmus und -anforderungen unterworfen sind, die keinen Platz für die Entwicklung einer Gesundheit im Sinne der oben angeführten Definition lassen. Dennoch geben sich das Gesundheitssystem sowie der wissenschaftliche und industrielle Medizinkomplex alle Mühe, den Anschein zu erwecken, als würden sie genau im Sinne dieses weitgefaßten Gesundheitsbegriffs dem Wohl des Einzelnen dienen.

Bislang war das Gesundheitssystem vor allem auf die akutmedizinische Versorgung und "Reparatur" bereits aufgetretener Gesundheitsschäden ausgerichtet. Angesichts des demografischen Wandels und der Zunahme des Anteils chronisch kranker älterer Menschen läßt sich diese Versorgung - aus profitorientierter und utilitaristischer Sicht - nicht aufrechterhalten. Dementsprechend ist das Interesse für eine gesundheitspolitische Lösung des Problems vorrangig daran ausgerichtet, die zu erwartende Kostenexplosion einzudämmen. Hierzu werden gezielt jene Zusammenhänge einer Krankheitsentstehung in den Mittelpunkt des gesundheitspolitischen Diskurses und der medizinischen Forschung gerückt, von denen man sich eine finanzielle Entlastung der Regierung verspricht. Nicht schädliche Umwelteinflüsse oder krankmachende psychosoziale Faktoren - wie bespielsweise beengte Wohnverhältnisse in sanierungsbedürftigen Wohnungen, schlechte und streßreiche Arbeitsbedingungen oder prekäre Lebensverhältnisse aufgrund von Arbeitslosigkeit -, die kaum der individuellen Kontrolle unterliegen, sehr wohl aber durch politische Maßnahmen zu verändern wären, stehen am Pranger, sondern diejenigen Risikofaktoren, von denen behauptet wird, daß der Patient es selbst in der Hand hat, Einfluß darauf zu nehmen. Stellvertretend für andere seien hier als Beispiele das Rauchen und Übergewicht genannt.

In der euphemistischen Wortwahl des Zukunftsreports "Individualisierte Medizin und Gesundheitssystem" des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) vom Juni 2008 [2] heißt es dazu:

Die bislang - im Vergleich zu anderen Akteuren im Gesundheitssystem - schwache Stellung der Patientinnen und Patienten soll gestärkt werden, damit sie größeren Einfluss auf Entscheidungen und Handlungen gewinnen, die ihre Gesundheit betreffen. Dies zielt auf eine Stärkung der Patientenautonomie und Konsumentensouveränität ab. Auf gesellschaftlicher Ebene korrespondiert dies einerseits mit einem steigenden Gesundheitsbewusstsein bei Bürgerinnen und Bürgern und der zunehmenden Bereitschaft, Selbstverantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen, andererseits aber auch mit der zunehmenden gesellschaftlichen Erwartung an Einzelne, diese Eigenverantwortung durch entsprechendes Gesundheitsverhalten und finanzielle Beiträge auszuüben. (TAB-Zukunftsreport, Seite 8)

Patientinnen und Patienten sollen durch die angebotenen medizinisch-technischen Optionen in die Lage versetzt werden, durch Kenntnis ihrer persönlichen aktuellen und künftigen Gesundheitssituation Selbstverantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen, z.B. durch Lebensstilveränderungen und Prävention: Durch Genotypisierung und Multiparameterdiagnostik sollen bereits vor dem Auftreten von klinisch erkennbaren Krankheitssymptomen individuelle Risikoprofile erstellt und damit Wahrscheinlichkeitsaussagen über die künftige gesundheitliche Entwicklung des Individuums getroffen werden, die eine besser zutreffende Risikoeinschätzung ergeben sollen, als dies auf Basis der bislang bekannten Risikofaktoren möglich ist.
(TAB-Zukunftsreport, Seite 11)

Unter dem Titel "Gesundheitsförderung und Prävention" soll dieses neue Konzept zukünftig als vierte Säule des Gesundheitswesens (neben Heilung, Pflege und Rehabilitation) verankert werden - ein geschickter gesundheitspolitischer Schachzug, der nicht etwa einem weiteren massiven Abbau des Sozialstaats entgegenwirken soll, sondern - ganz im Gegenteil - diesen auch noch argumentativ stützt. Um Unmut und Widerstand gegen diese Entwicklung gar nicht erst in nennenswertem Maße aufkommen zu lassen, ist ein grundsätzliches Umdenken in der Bevölkerung erforderlich, bei dem die Begriffe 'Krankheit' und 'Schuld' zu einem unentrinnbaren Bezichtigungskonglomerat verbacken werden.

Dieser gesundheitspolitischen Gehirnwäsche wird von staatlicher Seite schon schon seit einigen Jahren durch entsprechende bildungspolitische Maßnahmen Rechnung getragen. Nicht zuletzt in Kindergarten und Schule wird schon bei kleinen Kindern das Bewußtsein dafür geprägt, daß jeder selbst die Verantwortung für seine Gesundheit übernehmen muß. Was sich hinter dieser Forderung, die oberflächlich betrachtet zunächst einleuchtend und richtig klingen mag, verbirgt, zeigt sich an der Stelle, wo Gesundheitsvorschriften und ein Regelwerk zur Verhinderung sogenannter Gesundheitsrisiken (wie bspw. Rauchen oder Übergewicht) dazu genutzt werden, Patienten, die sich diesem Gesundheitsmanagement nicht bereits zu Zeiten, in denen sie noch gesund sind, beugen, die Schuld an ihrer späteren Erkrankung zuzulasten.

In diesem Arrangement macht sich jeder schuldig, der sich nicht an die vorgegebenen Gesundheitsreglementierungen hält. Wollte man ein passendes Bild für die Situation der betroffenen Noch-Gesunden oder Patienten finden, so könnte man sagen, daß mit der Diagnose bzw. dem Nachweis eines individuell erhöhten Erkrankungsrisikos die Bezichtigung ihren Lauf nimmt. Der Patient ist ständig in der Bringschuld nachzuweisen, daß er alle notwendigen Vorkehrungen getroffen hat, um gesund zu bleiben. Wird er dennoch krank, hat er im Sinne des Gesundheitsmanagements versagt und sich schuldig gemacht. In Analogie zum juristischen Sprachgebrauch könnte man sagen, daß sich der Patient von dem Zeitpunkt der Feststellung eines erhöhten Risikos an in einem Zustand der "Gesundheitsdelinquenz auf Bewährung" befindet.

Die medizinischen Voraussetzungen für diese Entwicklung werden durch die Einführung neuer technologischer Diagnoseverfahren geschaffen, von denen es in dem oben erwähnten TAB-Zukunftsreport heißt:

Die mit der individualisierten Medizin in Aussicht gestellten biomarker- und genombasierten Untersuchungsmöglichkeiten zur Ermittlung individueller Erkrankungsrisiken sind mit einer bemerkenswerten Akzentverschiebung im Diskurs verknüpft. Hatten bislang Solidarität mit und Nichtdiskriminierung von Kranken und Rechte des Einzelnen auf Selbstbestimmung einen hohen Stellenwert, so werden zunehmend Leitbilder der Verantwortung und der bürgerlichen Mündigkeit angeführt, um Personen stärker im Hinblick auf ihre Verantwortung für Dritte und für eine Solidarität mit der Gemeinschaft in die Pflicht zu nehmen, sei es im Kontext der Bereitstellung von Körpersubstanzen und Informationen für Forschungszwecke, der Durchführung populationsweiter Screeningmaßnahmen, der Einflussnahme auf das individuelle Gesundheitsverhalten, der Legitimierung von Zuzahlungen für Gesundheitsleistungen oder der Ausgestaltung von Krankenversicherungskonditionen. Wie weit diese Inpflichtnahme von Personen gehen darf, wie sie legitimiert werden kann und welche wirksamen und ethisch angemessenen Wege zu wählen sind, um die Entscheidungen des Einzelnen zu beeinflussen, wird in den kommenden Jahren immer wieder Gegenstand der gesundheitspolitischen Diskussionen, auch im Kontext der individualisierten Medizin, sein.
(TAB-Zukunftsreport, Seite 33)

Der Begriff 'individualisierte Medizin' führt in die Irre. Er suggeriert eine optimal auf den Einzelnen zugeschnittene Gesundheitsversorgung, die seinem Wohl dienen soll. Denn als "individuell" wird gemeinhin eine Medizin empfunden, in der das Leben mit einer Krankheit und die psychosoziale Dimension der Erkrankung im Gespräch mit dem Arzt thematisiert und entsprechende Handlungsoptionen entwickelt werden. Diese Erwartung wird von einer biomarkerbasierten individuellen Medizin jedoch nicht erfüllt. Ihre Methoden, in deren Erforschung Milliarden von Euro und Dollar investiert werden, schaffen vielmehr die Voraussetzungen dafür, neue diagnostische Selektionsmöglichkeiten im Sinne einer Bezichtigungsmedizin zu etablieren, die letztlich dem Patienten die Schuld für seine Erkrankung zuweist und ihn damit auch noch allein läßt.

So sollen beispielsweise mit Hilfe genombasierter Tests, genetischer Diagnostik und insbesondere mit prädiktiven Gentests und Proteomanalysen diejenigen Patienten herausgefiltert werden, bei denen ein erhöhtes individuelles Risiko für bestimmte Erkrankungen besteht. Damit diese dem Staat nicht schon binnen kurzer Frist auf der Tasche liegen, soll - so die die Theorie - der Ausbruch der durch diese Methoden vorhergesagten Erkrankungen durch eine entsprechende Behandlung und gezielte Vorsorgemaßnahmen verhindert bzw. hinausgezögert werden. Mangels angemessener Therapiemöglichkeiten reduziert sich der Maßnahmenkatalog zur Zeit jedoch weitestgehend auf Vorschriften, an die sich der zukünftige Patient zu halten hat. Ihm obliegt es, dafür Sorge zu tragen, daß er nicht krank wird. Nicht erst der Ausbruch einer chronischen Erkrankung (wie beispielsweise eines Diabetes), sondern schon die Diagnose eines erhöhten Risikoprofils wird für den Betroffenen Konsequenzen und Sanktionen zur Folge haben, die von der Festlegung erhöhter Risikotarife bei den Krankenkassen, Leistungsbeschränkungen und -ausschlüssen oder der Verweigerung der Versicherung insgesamt bis hin zum Arbeitsplatzverlust reichen können.

Die Utopie, sich mit Hilfe von diagnostischen Mitteln die Möglichkeit zu erschließen, Krankheiten gar nicht erst entstehen zu lassen, ist leicht als gesundheitspolitisches Instrument zu durchschauen, mit dessen Hilfe unliebsame Einschnitte in den sozialen Sicherungsnetzen schmackhaft gemacht werden sollen. Gleichwohl darf die Gefahr, die mit dieser Entwicklung verbunden ist, nicht unterschätzt werden. Denn der gesundheitspolitisch angekündigte Paradigmenwechsel liegt nicht, wie behauptet, in der Verschiebung von einer akutmedizinischen zu einer präventiven Medizin, sondern läßt sich an einer massiven Schuldzuweisung an Kranke und Noch-Gesunde festmachen - und hat damit das Potential, auch noch den letzten Rest eines Solidargedankens zum Erlöschen zu bringen.


[1] Verfassung der Weltgesundheitsorganisation.
     Unterzeichnet in New York am 22. Juli 1946.
     http://www.independentwho.info/Documents/ONU/constitution_OMS_DE.pdf

[2] Zukunftsreport "Individualisierte Medizin und Gesundheitssystem"
     des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB), Juni 2008
     www.tab.fzk.de/de/projekt/zusammenfassung/ab126.pdf oder
     www.bundestag.de/ausschuesse/a18/ber_tech/index.html


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Im Vorfeld einer der größten Medizinmessen, ergab sich für den Schattenblick auf der MEDICA Preview am 6. Oktober in Hamburg, die Gelegenheit, im Zuge eines Vortrags und anschließenden Interviews mit dem Referenten, näheren Einblick in eine dieser neuen Diagnosemethoden, zu nehmen, die einen Paradigmenwechsel im oben beschriebenen Sinne (*) deutlich werden lassen, während sie gleichzeitig mit der Zukunftsvision werben, Krankheiten zu verhindern.

(*) siehe unter Medizin -> Report ->
     BERICHT/002: Bezichtigungsmedizin am Beispiel der Proteomanalyse - Teil 2 (SB)


Die ENDO-Klinik war Gastgeber der diesjährigen MEDICA PreView.

ENDO-Klinik: Vorderansicht

Vorderansicht

ENDO-Klinik: von hinten betrachtet

von hinten betrachtet

9. Dezember 2009