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BERICHT/005: Hirntod im Handel - Apologie eines interessengeleiteten Konzepts (SB)


Medizinische Definitionsmacht im Vollzug gesellschaftlicher Ziele

Forum Bioethik: Hirntod und Organentnahme am 21. März 2012 in Berlin



Über Leben und Tod zu verfügen war ein Privileg des absoluten Herrschers, das durch die Verbürgerlichung der Welt nur bedingt auf die Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates übergegangen ist. So wurde die elementare Zäsur, nämlich die durch die innovative Entwicklung der medizinischen Reanimationstechnologie erst möglich gewordene Vorverlagerung des Todes vor das seit Jahrtausenden für die Feststellung des Lebensendes verbindliche Kriterium des dauerhaften Endes jeder Herz-Kreislaufaktivität, 1997 im Transplantationsgesetz juristisch verbindlich festgeschrieben. Die Bevölkerung umfassend über das Für und Wider dieses Paradigmenwechsels aufzuklären oder sie gar aufgrund des existentiellen Charakters dieser Veränderung mit einer Volksabstimmung zu befragen, befand man nicht für nötig. Dabei ist bekannt, daß das Stimmverhalten bei biomedizinischen Fragen quer durch die Fraktionen geht, es also kaum einen Bereich der Politik gibt, in dem der auf Parteien basierende Gedanke demokratischer Repräsentation derart gebrochen wäre.

Am elitären Charakter dieser Form von Willensbildung hat sich nicht nur nichts geändert. Im Vorfeld der Verabschiedung des neuen Organspendegesetzes nimmt die Durchsetzung medizinal-technokratischer Deutungsmacht vollends autoritäre Züge an. Über die Gültigkeit des Hirntodes wird nicht mehr debattiert, sie wird allen fundierten Einsprüchen zum Trotz schlichtweg vorausgesetzt. Die Kontroverse wird ersatzweise auf dem Feld des Datenschutzes geführt, der zweifellos wichtig ist, in diesem Fall seine Bedeutung jedoch vor allem durch die mit der Hirntodfeststellung einhergehende Gefahr einer mißbräuchlichen Verwendung der individuellen Spendebereitschaft oder -verweigerung erhält. Die Hirntodkonzeption selbst verschwindet im Nimbus eines zivilreligiösen Moralismus als unhinterfragbare Voraussetzung einer Bringschuld, der sich zu versagen als ethisch zumindest fragwürdig gilt.

Die Vermengung einer auf breite Organsubstitution statt maximal möglicher Gesundheitsfürsorge setzenden Biomedizin mit den moralischen Attributen eines ausschließlich auf herrschaftskonforme Interessen begrenzten Solidargebotes ist Ausdruck einer Vergesellschaftungsform, die ohne die Fragmentierung und Atomisierung des Menschen bis in seine Leiblichkeit hinein nicht in der Lage wäre, den ihr immanenten Verwertungsanspruch gegen das Eigeninteresse der davon Betroffenen durchzusetzen. Mit ihrem funktional differenzierten und physiologisch mechanisierten Körperbild, der Reduktion des ganzen Menschen auf seine sozial bestimmte Persona, dem hierarchischen Ordnungskonzept vom Gehirn als obersten Beweger, der Verabsolutierung kognitiver Fähigkeiten zur Letztbegründung menschlicher Existenz, mit ihrer Affinität zur gesellschaftlichen Enteignung der Körper und deren Einspeisung in den von vielerlei Interessen durchsetzten Reparaturbetrieb kapitalistischer Reproduktion ist die Transplantationsmedizin ein hochentwickeltes Beispiel für die Adaption technisch-industrieller Verwertungskategorien und -prozesse auf die menschliche Form.

Stefanie Förderreuther  - Foto: © 2012 by Schattenblick

Stefanie Förderreuther
Foto: © 2012 by Schattenblick

Dementsprechend ausgebaut ist ihre Apologetik, die mit der Gültigkeit der herausragenden Bedeutung des Gehirns für das Leben des Menschen steht und fällt. Beim Forum Bioethik zuständig für die Widerlegung der Thesen des US-amerikanischen Neurologen Alan Shewmon war die Ärztin Stefanie Förderreuther von der Neurologischen Klinik an der Ludwig Maximilians Universität München. Sie präsentierte eine umfassende Begründung für die Validität des Hirntods als Tod des ganzen Menschen, grenzte ihn von Teilhirntodkonzepten und dem Leben sogenannter Wachkomapatienten ab und bot eine innerhalb ihrer Axiomatik stimmige und geschlossene Begründung auf, der man als Mediziner - im Wortsinn - Glauben schenken kann. [1]

Doch geht die aus dieser Glaubwürdigkeit abgeleitete politische Definitionsmacht zu Lasten aller Konzepte, die vom herrschenden Interesse an der Gültigkeit der Hirntodkonzeption aus anderen wissenschaftlichen, weltanschaulichen und philosophischen Gründen abweichen. Wenn eine historisch aus der biopolitischen Zurichtung der Bevölkerungen auf die Erfordernisse industriekapitalistischer Modernisierung hervorgegangene Medizin, die epistemologisch auf eine positivistische, nach kausaler Letztbegründung in den kleinsten funktionellen Einheiten suchende Wissenschaftstheorie festgelegt ist und Grundfesten menschlicher Existenz in Frage stellt, Deutungshoheit beansprucht, dann ist das in erster Linie eine Frage hegemonialer Macht. So verbat sich Förderreuther in ihrem Vortrag explizit die Einmischung religiöser, weltanschaulicher und philosophischer Positionen in Belange medizinischer Wissenschaft. Zwar seien diese zu respektieren, dürften aber keine Geltung beanspruchen, wenn sie sich nicht wissenschaftlicher Argumente bedienten.

Dabei krankt die wissenschaftliche Debatte selbst daran, daß die Feststellung des Hirntodes in verschiedenen Ländern unterschiedlich gehandhabt wird und Mitglieder des gleichen Berufsstands profunde Einsprüche gegen die Hirntodkonzeption geltend machen. Unter den weltweit praktizierten Heilmethoden und Therapieformen ist die Organtransplantation eine von vielen Möglichkeiten, Menschen zu längerem Leben und mehr Lebensqualität zu verhelfen. Aus Sicht der dazu zur Verfügung stehenden Ressourcen kann die von Sachwaltern teurer Verfahren der HighTech-Medizin propagierte Moral nicht stechen, ist das durch medizinische Unterversorgung weltweit existierende Leid doch so groß, daß eine kostentechnische Nivellierung der Therapieformen weitaus mehr Leben rettete, als die von Kapitalinteressen dynamisierte Innovationslogik einer ausgesprochenen Elitemedizin auch nur beansprucht zu tun.

So ist die in der bioethischen Debatte sorgsam ausgeklammerte Frage nach den Interessen, die sich in der politischen Förderung bestimmter medizinischer Verfahren artikulieren, keineswegs trivial. Sie reichen von den pekuniären Erwägungen der Gesundheitsindustrie und Krankenversicherungsökonomie bis zur Konditionierung des Menschen auf eine Leistungs- und Anpassungsbereitschaft, die mit den industriellen, militärischen und sozialen Erfordernissen kapitalistischer Gesellschaften konform gehen. Die biomechanische Vermessung des Industriearbeiters durch die tayloristische Arbeitsmedizin, die psychopharmakologische und sozialmedizinische Befriedung gesellschaftlicher Widersprüche, die humangenetische Erforschung prädiktiver Potentiale der Evaluation und Selektion, die schnelle Wiederherstellbarkeit des verletzten Soldaten für den Kriegseinsatz wie die prothetische Versorgung der Veteranen, die eugenische Kontrolle der Bevölkerung durch reproduktionsmedizinische Techniken und das unaufhaltsam erscheinende Vordringen der Euthanasie - diese exemplarischen Beispiele illustrieren bereits, daß der auch bei der Veranstaltung des Deutschen Ethikrates vehement verteidigte Ethos reinen ärztlichen Handelns ein in der medizinischen Praxis kaum aufrechtzuerhaltendes Legitimationskonstrukt ist.

So erklärte Förderreuther zum Thema Menschenwürde, sie "halte es für ganz essentiell wichtig, daß wir die Frage nach der Diagnose des Hirntodes von jedem Gedanken an eine Transplantation zunächst einmal vollständig trennen. Weil die Frage des Hirntodes natürlich ersteinmal für uns Ärzte eine klinische Diagnose ist und sich auch für mich, wenn ich so einen Patienten betreue, erst in dem Moment die Frage stellt, ob ich jetzt sozusagen die Frage nach der Organspende stellen kann. Bis zu dem Zeitpunkt, wo ich den Hirntod feststellen kann, habe ich in der Regel gekämpft. Da habe ich mich nur für diesen Patienten eingesetzt." [1]

Man muß ihren guten Glauben, so vorzugehen, nicht in Frage stellen, um zu erkennen, vor welchen Problemen eine Ärztin steht, wenn sie eine solche Dissoziation willkürlich vollziehen will. Was erst durch die unlösbare Verbindung von intensivmedizinischem Fortschritt und Organtransplantation eingeleitet wurde, läßt sich insbesondere dann nicht aus der Welt behaupten, wenn ihr Verhältnis zu Organsubstitution so entschieden positiv ist wie in dem Fall Förderreuthers. Allein die Notwendigkeit, das Selbstverständliche ärztlichen Handelns als ethischen Imperativ zu formulieren, bringt dessen Vergeblichkeit hervor. Der Zweckrationalität der Organernte können sich vielleicht Ärzte entziehen, die die Hirntodkonzeption verwerfen, für deren Befürworter herrscht hier allerdings ein zur Regel gewordener ethischer Notstand.

Und dieser wird durch neue Erkenntnisse, wie in Berlin von Alan Shewmon präsentiert, nur noch dramatischer. Förderreuthers Forderung, daß Patienten zu einem Zeitpunkt über Organspende nachdenken sollten, wenn sie es noch können, denn nur das sei eine "saubere Lösung" für Ärzte, verrät das Dilemma, das jede von Dritten erklärte Bereitschaft zur Organspende eines als hirntot diagnostizierten Menschen bei Ärzten auslöst. Der von Förderreuther mehrfach bekräftigten Gewißheit, daß ein hirntoter Mensch nichts mehr empfindet, hat der US-Neurologe nicht widersprochen. Die von ihm präsentierten Zweifel an der Singularität im Gehirn angesiedelter Integrationsleistungen unterminieren jedoch das von den Verfechtern der Hirntodkonzeption ins Feld geführte Argument, menschliches Leben sei zwingend an Bewußtsein und personale Identität gebunden.

Stefanie Förderreuther präsentiert Schaubild - Foto: 2012 by Schattenblick

Auf der Suche nach dem Geist in der Maschine ...
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Den Horizont vertrauter menschlicher Erkenntnis zur alleinigen Wahrheit zu erklären ist ein Paradebeispiel für den zivilreligiösen Charakter der Hirntodkonzeption. Da niemand mit unwiderruflicher Gewißheit erklären kann, was Menschen im künstlich herbeigeführten Zustand verlängerten Sterbens erleben, da niemand weiß, ob die hierarchische Struktur menschlicher Kognition, die neurale Projektion peripherer Körpersensationen im Gehirn, nicht doch vegetative Formen der Schmerzempfindung am Ort des jeweiligen Reizes zuläßt, da bei einer gewissen Zahl hirntoter Menschen vegetative Reaktionen bei der Organentnahme festgestellt wurden, was zur Folge hat, daß diese Eingriffe häufig unter Gabe von Beruhigungsmitteln oder unter Narkose vorgenommen werden, ist die Grenze von Leben und Tod bei sogenannten Hirntoten von elementaren Ungewißheiten perforiert. Der intuitiven Wahrnehmung, daß Hirntote noch leben, jegliche Gültigkeit abzusprechen und sie mit Hilfe einer sinnesfeindlichen Abstraktionsleistung in ihr Gegenteil zu verkehren, enthebt den Arzt zudem wertvoller Möglichkeiten einer nicht nur auf Apparate und Meßwerte gestützten Diagnostik. Die große Sicherheit, mit der das Ausbleiben jeglicher Schmerzempfindung bei Hirntoten attestiert wird, erscheint so als eine in Ermangelung subjektiver Bezeugung des Gegenteils unschwer zu erhebende Schutzbehauptung.

Besteht menschliches Leben lediglich aus der Summe der physiologischen Funktionen des Organismus? Förderreuther und Shewmon sind sich darin einig, daß dies nicht so ist, gelangen jedoch zu gegenteiligen Schlußfolgerungen. Was für Förderreuther ein Beleg für die Unverzichtbarkeit des Gehirns für den Zustand menschlichen Lebens ist, spricht für Shewmon hingegen für die relative Autonomie nicht auf das Gehirn angewiesener Formen physischer Integration. Das gleiche gilt für Patienten mit einer hohen Querschnittslähmung. Für Förderreuther beweist der Erhalt der meisten kognitiven Funktionen nach der Durchtrennung des Rückenmarks, daß ein hirntoter Mensch nichts mehr empfindet, weil nichts mehr in die verarbeitenden, nunmehr erloschenen Zentren des Gehirns gemeldet werden könne. Shewmon postuliert zwar keine Empfindungsfähigkeit als hirntot diagnostizierter Menschen, doch ist gerade dieses Beispiel einer schwerwiegenden neurologischen Schädigung für ihn der Beleg dafür, daß der menschliche Körper weiterlebt auch ohne die Integrationsleistung des Gehirns.

Man hat es also bei entscheidenden Fragen zu den Konditionen menschlichen Lebens mit interessengeleiteten Sichtweisen zu tun, denen sich physische Befunde wie in einem Vexierspiegel auf die eine oder andere Art abbilden. Vermeintlich sicher zu bestimmende Kategorien wie Bewußtsein oder Person erweisen sich bei genauerer Untersuchung als kulturell und gesellschaftlich determinierte Zuweisungen, die in ihrer Kontingenz vor allem eurozentrische und kulturimperialistische Suprematie evozieren. Die damit einhergehende Ignoranz gegenüber der Vielzahl anderer Konzeptionen des Humanums erscheint zudem in einer Zeit, in der die Auswirkungen expansiver Wachstumskonzepte die physische Negation des Menschen in den Bereich des Möglichen rücken, als zu eigenen Lasten gehende Kurzsichtigkeit.

Was der Münchner Ärztin als in sich stimmige Argumentation erscheint, kann auf Kritiker der Hirntodkonzeption nur als Anmaßung eines den Rahmen seiner fachwissenschaftlichen Zuständigkeit voluntaristisch überschreitenden Berufsstandes wirken. Zu kritisieren wären mithin nicht nur die medizinisch-philosophischen Implikationen dieser Form der Todesfeststellung, sondern die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen ihres Zustandekommens. Fragen von Leben und Tod sind Machtfragen insbesondere deshalb, weil der den eigenen Bestand zusehends konterkarierende Kapitalismus in Ermangelung traditioneller Expansionsräume neue Verwertungschancen nicht mehr nur in mehrwertproduzierender Arbeit sucht, sondern im biopolitischen Zugriff auf die Körper, ihre In- und Outputbilanzen bis hinunter auf die Ebene zellulärer und organischer Ressourcensicherung fündig wird.

Fußnoten:

[1]‍ ‍http://www.ethikrat.org/dateien/audio/fb-21-03-2012-foerderreuther.mp3

Dokumentation der Veranstaltung des Deutschen Ethikrates:

http://www.ethikrat.org/veranstaltungen/forum-bioethik/hirntod-und-organentnahme

(wird fortgesetzt)

Alan Shewmon, Stefanie Förderreuther - Foto: © 2012 by Schattenblick

Shewmon und Förderreuther - Szenenbild einer Fachdebatte
Foto: © 2012 by Schattenblick

2.‍ ‍April 2012