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BERICHT/009: Hirntod im Handel - Bioethik im Limbus der Unbestimmtheit (SB)


Wer hält die Waagschalen von Leben und Tod?

Forum Bioethik: Hirntod und Organentnahme am 21. März 2012 in Berlin

Ralf Stoecker - Foto: © 2012 by Schattenblick

Ralf Stoecker
Foto: © 2012 by Schattenblick

Wie weiter verfahren mit einer Transplantationsmedizin, deren wichtigste Ressource, das lebendfrische Organ, dauerhaft in einem Interessenkonflikt zwischen Spender und Empfänger steht? Zwar wird bis heute versucht, diesen Konflikt sehenden Auges zu ignorieren, doch seit die Kritik an der Gültigkeit der Hirntodkonzeption aus der medizinischen Zunft selbst lauter geworden ist, geraten die Apologeten dieser Todesdefinition zusehends in die Defensive. Dies allerdings nicht, weil die Kritiker allesamt auf dem Standpunkt ständen, eine ethisch unhaltbare Praxis müsse eingestellt werden. Ganz im Gegenteil, die Fragwürdigkeit der Hirntodkonzeption treibt ganz im Sinne des Primats der technischen Machbarkeit, dem sich die Konjunktur der Transplantationsmedizin verdankt, Überlegungen voran, wie die ethischen Standards an die Praxis der Organentnahme anzupassen wären.

Zu dieser Debatte trägt das vielzitierte Beispiel des SPD-Politikers Frank-Walter Steinmeier, sich eine Niere zugunsten seiner Frau entnehmen zu lassen, auf ausschließlich verschleiernde Weise bei. Zur Lösung der Problematik der Entnahme für das Leben unverzichtbarer Organe trägt die Lebendspende nur insofern bei, als daß der große Bedarf an funktionsfähigen Nieren auf diesem Wege stärker als bisher befriedigt werden könnte. Zugleich findet die legale Lebendspende ihre finstere Entsprechung im weltweiten Markt des illegalen Organhandels, so daß der Chor der Stimmen, die wie der Bioethiker Peter Singer die Kommerzialisierung der Lebendspende fordern, um dem kriminellen Organkauf und -raub das Wasser abzugraben, immer lauter wird. Dem Meistbietenden seine Niere verkaufen zu können verlagert diesen Raub zwar in die Legalität, nimmt ihm aber nichts von seinem gewalttätigen Charakter, wenn den Betroffenen aus schierer materieller Not nichts anderes übrig bleibt, als ein Organ zu veräußern. Es zeugt mithin von einer systematischen Ausblendung des gesellschaftlich dominanten Transformationsprozesses, der marktwirtschaftlichen Durchdringung aller Lebensbereiche zugunsten der Erschließung neuer Verwertungschancen, die Lebendspende als moralische Großtat zu feiern, und die Gefahr, daß die ökonomische Nötigung mittelloser Menschen zur Abgabe einer Niere oder eines Leberlappens legalisiert wird, gering zu schätzen.

Nicht weniger prekär ist der Versuch, die gewichtigen Gründe dafür, daß der Hirntod nicht als Tod des ganzen Menschen betrachtet werden kann, in innovative Begründungen für den Zugriff auf den sterbenden Körper zu transformieren. So ist die Situation, daß der Philosoph Prof. Dr. phil. Ralf Stoecker von der Universität Potsdam auf dem Forum Bioethik zum Thema "Hirntod und Organentnahme" profunde Argumente gegen die Validität der Hirntodkonzeption aufbot, um bei anderen Kritikern dieser Todesdefinition erst recht die Alarmglocken läuten zu lassen, nicht so paradox, wie sie auf den ersten Blick erscheint.

In seinem Vortrag machte Stoecker kein Hehl aus der zweckrationalen Genese der Hirntodkonzeption in den 1960er Jahren, als es darum ging, die sich rasant entwickelnde Transplantationsmedizin mit Organen zu versorgen, die nicht die Zeichen des Verfalls aufwiesen, der sich mit fortschreitendem Sterbeprozeß einstellt, und die nicht die gleichzeitig aufkommende Angst davor nährten, daß sie noch lebenden Menschen entnommen würden. Das von ihm als "intuitiv stärkstes Argument für die Hirntod-Konzeption" [1]‍ ‍erachtete Fehlen aller personaler Charakteristika eines Menschen nach dem Ausfall der Gehirnfunktion - "Wahrnehmung, Sprechen, Denken, Fühlen, zielgerichtetes Handeln und soziale Kontaktaufnahme" [1] - erfülle die Voraussetzung einer widerspruchsfreien Todesdefinition allerdings nicht, weil Komapatienten, Embryonen und anenzephale Neugeborene das gleiche Kriterium einer nichtvorhandenen Persona erfüllten, aber keineswegs tot seien.

Auch die zweite von ihm referierte Hirntodkonzeption kann nicht bestehen, weil die dem Gehirn zugeschriebene Funktion einer obersten "Schaltzentrale" des Menschen, "die die verschiedenen Regelkreise, die sein biologisches Leben ausmachen, zu einem Ganzen integriert" [1], in ihrer Gültigkeit von dem an diesem Abend ebenfalls in Berlin anwesenden US-amerikanischen Neurologen Prof. Alan Shewmon grundlegend erschüttert wurde. Des weiteren kam Stoecker auf das Problem zu sprechen, daß die Angehörigen und das medizinische Personal die subjektive Empfindung, bei sogenannten Hirntoten am Bett eines lebendigen, in allen sichtbaren somatischen Belangen vital wirkenden Patienten zu stehen, durch das angeblich objektive Urteil negieren müssen, laut dem es sich dabei um eine Leiche handelt. Daß sogenannte Hirntote zum Beispiel nicht zu Ausbildungs- oder Forschungszwecken eingesetzt werden, wie Stoecker erwähnte, macht auf besonders plastische Weise klar, daß das mit intensivmedizinischen Mitteln verlängerte Sterben dem Körper fast alle Merkmale beläßt, die seine moralische Unberührbarkeit bedingen. Diese Patienten als "technische Artefakte" zu bezeichnen, wie es einige Verteidiger der Hirntodkonzeption tun, erscheint in Anbetracht der Vielzahl industrieller und infrastruktureller Bemittelungen der Daseinsvorsorge, ohne die der zivilisatorisch entwickelte Mensch nicht überleben könnte, als unangemessene Reduktion auf die verdinglichten Faktoren des Lebens.

Der Referent schloß auch den sich am Rande der Debatte um die Hirntodkonzeption auftuenden Abgrund der Organentnahme bei Patienten nach Herzstillstand nicht von seinen Überlegungen aus, wie sich eine neue Ethik für die Transplantationsmedizin konstituieren lassen könnte. Diese den historischen Beginn der Verpflanzung lebenswichtiger Organe markierende, im deutschen Transplantationsgesetz verbotene Explantationspraxis erlebt in den letzten Jahren nicht zuletzt aufgrund des fragwürdigen Charakters der Hirntodkonzeption eine Renaissance. Das dabei auftretende Problem, daß die Zeitspanne zwischen Aussetzen der Herztätigkeit und der Einstellung der Wiederbelebungsmaßnahmen, die die Erklärung des Todes zur Folge hat, tendentiell zugunsten der Organernte immer kürzer zu werden droht, daß also die Gefahr besteht, noch zu rettende Patienten aus interessenbedingten Gründen vorzeitig aufzugeben, entspricht dem konfliktträchtigen Grundverhältnis zwischen Spender und Empfänger, das die Hirntodkonzeption in die Welt gesetzt hat.

Vortragsfolie Ralf Stoecker - Foto: 2012 by Schattenblick

Dilemmastrategie erzwingt Antworten
Foto: 2012 by Schattenblick

Diesem Dilemma möchte Stoecker entkommen, ohne die Transplantationsmedizin in großen Teilen aufgeben zu müssen, und hält dies auch für möglich. Zwar verwirft er die in aller Deutlichkeit von dem US-amerikanischen Neurologen Robert Truog vorgeschlagene Aufgabe der Pflicht, die Organentnahme an den Tod des Spenders zu binden, weil er die damit einhergehende Aufweichung des Tötungsverbots für zu problematisch hält. Der Philosoph setzt lieber bei der die Unterscheidung zwischen Leben und Tod bestimmenden Axiomatik an und stellt als hirntot diagnostizierte Patienten als Wesen dar, die zwischen den Antipoden eindeutiger Zeichen des Lebens und Todes einer neuartigen Form des menschlichen Ausnahmezustands unterliegen.

Indem Stoecker postuliert, daß man bei sogenannten Hirntoten die Frage, ob dieser Mensch noch lebt oder schon tot ist, nicht eindeutig beantworten könne, arbeitet er den Kritikern der Hirntodkonzeption nur scheinbar zu. Wo diese davon ausgehen, daß es sich bei als hirntot diagnostizierten Patienten um Sterbende handelt, denen man legalerweise keine Organe entnehmen könne, weil dies ihren Tod auf fremdnützige Weise herbeiführt, unterstellt der Philosoph einen Zustand der Unbestimmtheit, der als Einfallstor für die Organentnahme fungieren soll. Er nimmt die technisch ermöglichte Verlängerung des Sterbevorgangs zum Anlaß, die ontologische Bestimmtheit von Leben und Tod zugunsten eines dritten Zustands zu relativieren, der seine Existenz nicht anders als die Hirntodkonzeption ausschließlich dem Interesse an der Fortschreibung der Transplantationsmedizin verdankt.

Dies kann jedoch nur gelingen, indem Stoecker diese ontologische Bestimmtheit voraussetzt, um zu argumentieren, daß der künstlich beatmete Patient mit Schädel-Hirntrauma und infauster Prognose auf der einen Seite Kriterien des Todes und auf der anderen Seite Kriterien des Lebens inkorporiere. Das postulierte Dazwischen führt eben nicht zur Aufhebung der Dichotomie von Leben und Tod, sondern bedarf ihrer, um ethische Handhabe zur Organentnahme zu produzieren.

Insofern handelt es sich bei der Argumentation Stoeckers um die voluntaristische Produktion einer neuen Gewißheit, die die anwachsenden Zweifel an der Hirntodkonzeption überwinden und damit die Zukunft der Transplantationsmedizin sichern soll. Der von ihm entworfene Zustand der Unbestimmtheit kann als solcher nur Geltung erlangen, wenn die Bestimmtheit des Lebens, das als hirntot diagnostizierten Patienten zu attestieren ist, so fundamental bestritten wird, wie es bei der Hirntodkonzeption der Fall ist. Der von dem Philosophen geschaffene Zwischenzustand ist das Ergebnis einer schlichten Gleichungsoperation, bei der das miteinander Unvereinbare in einen Rest mündet, dessen substanzieller Zweck in der Verfügbarkeit des Körpers für die Interessen Dritter besteht.

"Weil sie noch keine Leichen sind, ist es richtig, sie im alltäglichen Umgang, in der Pflege so zu behandeln, wie andere, bewusstlose Patienten auch. Weil der Hirntod nichts an ihrer leiblichen Präsenz für die Angehörigen ändert, müssen die Bedürfnisse der Angehörigen nach Nähe, Abschied, Trauer, aber auch nach Information und Mitsprache respektiert werden. Weil sie eine zu achtende Würde haben, dürfen alle Eingriffe in ihre körperliche Integrität, angefangen von der Hirntoddiagnostik, prinzipiell nicht ohne ihren Informed Consent stattfinden, wenn er auch wie bei anderen bewusstlosen Patienten erschlossen werden kann. Und weil man ihnen kein Leid mehr antun, sie keiner Zukunft mehr berauben kann und weil auf der anderen Seite die Organempfänger erheblich von der Transplantation profitieren, darf man ihnen Organe entnehmen, und das, obwohl es dazu führt, dass sie ihren Zustand zwischen Leben und Tod beenden und aus den hirntoten tote Menschen werden. Deshalb kann man meines Erachtens die Hirntod-Debatte beruhigt hinter sich lassen, ohne befürchten zu müssen, der Transplantationsmedizin die ethische Grundlage zu entziehen." [1]

Wie an diesen abschließenden Worten aus dem Vortrag Ralf Stoeckers zu erkennen ist, setzt dieser das subjektive Interesse des Patienten an der Ungestörtheit seines Sterbeprozesses und der Unversehrtheit seines am Leben gehaltenen Körpers ins Verhältnis zum prospektiven Nutzen der Entnahme seiner Organe wie zur Empfindsamkeit seiner Angehörigen. Steht auf der einen Seite des Gleichheitszeichens der mutmaßliche Willen des Patienten, entweder der Organentnahme zuvor zugestimmt zu haben, ohne in aller Konsequenz über die Unwägbarkeit des verlängerten Sterbeprozesses aufgeklärt worden zu sein, dann wird auf der anderen Seite das geballte Interesse der Gesellschaft an der Verwertbarkeit seines noch lebenden Körpers in Stellung gebracht. Dieser Seite den Zuschlag mit Hilfe des Arguments zu geben, der potentielle Organspender sei zwar noch nicht tot, lebe aber auch nicht mehr, ist nichts anderes als ein mit utilitaristischer Ethik verbrämtes Plädoyer für den erweiterten Zugriff der Biomedizin auf den menschlichen Körper.

Die Relativierung der ontologischen Kategorien Leben und Tod schützt zudem nicht davor, daß Komapatienten mit ähnlich gelagerten Argumenten als im Limbus der Unbestimmtheit vor sich hin vegetierende Körper den Interessen der Explanteure überantwortet werden. Sie schützt auch nicht davor, daß eines Tages alten Menschen abgesprochen wird, noch irgendeinen "Benefit" aus ihrem Leben ziehen zu können und sie daher eher tot als lebendig seien, so daß man ihrem kostenträchtigen Dasein ein vorzeitiges Ende bereiten könne. Sie lädt dazu ein, Zombies virtueller Nichtexistenz zu schaffen, denen jeglicher Rechtsanspruch entzogen wird, weil sie den tätigen Beweis ihres Nutzens für das größere Ganze nicht mehr antreten können.

Zweifellos handelt es sich bei diesen Kategorien in letzter Konsequenz um historisch gewachsene Übereinkünfte. Niemand würde auf den Gedanken kommen, eine Leiche für lebendig zu erklären, weil Haare und Nägel noch wachsen. So relativ der Grenzverlauf zwischen Leben und Tod auch sein mag, bietet seine soziale, gesellschaftliche und rechtliche Festlegung doch die Voraussetzung für die Selbstbestimmung ansonsten von herrschaftlichen Interessen verfügter Menschen. Ihn zugunsten einer ontologischen Unbestimmbarkeit zeitlich zu entufern hat für den Betroffenen keinerlei Nutzen, aber überantwortet die Unentschiedenheit seiner Situation der entschiedenen Verfügbarkeit fremden Nutzens. Die Teilbarkeit des Lebens, als solche bereits ein Akt menschlicher Willkür, auf der Basis der nicht mehr vorhandenen Mitteilbarkeit des subjektiven Zustands von Betroffenen, deren verlängerter Sterbeprozeß dem Interesse an der Wiederverwendung ihrer Organe und Gewebe geschuldet ist, wie der Empfindungen Dritter zu vollziehen dokumentiert die Flexibilität eines bioethischen Diskurses, der sich der innovativen Logik und technischen Machbarkeit der Biomedizin nachordnet, um verträglich zu machen, was ganz und gar unverträglich ist. Der durch die Ausweidung beatmeter und durchbluteter Körper errungene Lebenswert setzt die Negation des Lebens gerade in den Situationen voraus, in denen der Mensch besonders schwach und hilflos ist.

Es ist kein Zufall, sondern der übergreifenden Kohärenz systemischer Logik geschuldet, daß es sich mit der Produktion ökonomischen Werts nicht anders verhält. Je weniger dieser sich aus der vorhandenen Substanz erwirtschaften läßt, desto mehr expandiert er in Zonen der Entrechtung und Ausbeutung menschlicher Arbeit. Dagegen Position zu beziehen setzt die Bestimmtheit eines Humanums voraus, das sich nicht über die - stets von anderen aufgestellte - Kosten-Nutzen-Rechnung gesellschaftlicher Teilhaberschaft erschließt, sondern die Subjektivität des Lebens gegen die Imperative der Mangelproduktion behauptet.

Fußnote:

[1]‍ ‍Vortrag "Der Hirntod aus ethischer Sicht" von Prof. Dr. phil. Ralf Stoecker:
http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/fb-21-03-2012-stoecker-referat.pdf

Drei Doktoren der Philosophie - Foto: © 2012 by Schattenblick

Diskurs der Philosophen - Volker Gerhardt, Ralf Stoecker, Michael Quante Foto: © 2012 by Schattenblick

17.‍ ‍April 2012