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BERICHT/010: Das System e-Card - Optimierter Zugriff auf die Ressource Mensch (SB)


Medizinqualität statt e-Card Bürokratie - zu Risiken und Nebenwirkungen der "Elektronischen Gesundheitskarte"

Konferenz am 18. April 2012 in Berlin

Mobilisierungsplakat - Grafik: © 2008 by Stoppt die e-Card!

Plakat 'Der gläserne Patient' des Aktionsbündnisses 'Stoppt die e-Card!' Grafik: © 2008 by Stoppt die e-Card!

Die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (e-Card) schreitet auf eine Weise voran, als sei dieser datentechnische Zusammenschluß des Gesundheitswesens mittlerweile gegen jegliche Kritik immun. Obwohl der Nachweis, daß die beanspruchte Zielsetzung der verbesserten Versorgung der Patienten mit medizinischen Leistungen und des kosteneffizienteren Einsatzes der verfügbaren Mittel zu erreichen sei, bislang nicht erbracht werden konnte, obwohl Fachleute erhebliche Zweifel an der unterstellten Sicherheit der erfaßten Daten geltend machen und die Kosten immer weiter ansteigen, wird die praktische Umsetzung des Vorhabens unbeirrt fortgesetzt.

Kernpunkt der Kritik aus den Reihen der Ärzteschaft gegen dieses von der Bundesregierung, den Krankenkassen und den Spitzenverbänden des Gesundheitswesens initiierten und vorangetriebenen technologischen Großprojekts ist die Speicherung der Daten der Versicherten in einer an das Internet angeschlossenen Serverstruktur und die sich daraus ergebenden negativen Auswirkungen auf die Arbeit der Ärzte und der medizinischen Fachangestellten in den Hausarzt- und Zahnarztpraxen wie im Krankenhaus. Während der Ausbau einer Telematikinfrastruktur zur Informationsübermittlung innerhalb des Gesundheitswesens allgemein begrüßt wird, fordern die Kritiker, daß die medizinischen Daten in den Händen der Patienten und der jeweils behandelnden Ärzte verbleiben. Nur so sei die Sicherheit der ärztlichen Schweigepflicht und damit eine vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung dauerhaft zu gewährleisten, nur so könne die entufernde Bürokratisierung des Praxisbetriebs und der daraus folgende Verlust an wertvoller Zeit für den eigentlichen Zweck des Arztbesuches eingedämmt werden, nur so sei der weiteren Ökonomisierung des Gesundheitswesens und der Funktionalisierung des Arztberufes zum Dienstleister der Krankenkassen und ausführenden Organ sozialökonomischer Maßregelungen Einhalt zu gebieten, lauten einige Argumente aus den Reihen der kritischen Ärzteschaft.

Warum scheint der Widerstand gegen die e-Card, die den Menschen in seinen intimsten Belangen transparent und verfügbar machen kann, in den Reihen der Bevölkerung noch weniger präsent zu sein als der Aktivismus gegen andere Formen der informationstechnischen Bedrohung der Privatsphäre und Bürgerrechte wie etwa die Vorratsdatenspeicherung, der Bundestrojaner oder das Anti-Produktpiraterie-Handelsabkommen ACTA? Die Präsenz dieser konfrontativ diskutierten Themen im Internet, in den traditionellen Medien wie in der Politik war und ist weit ausgeprägter als die Debatte um die e-Card. Zwar hat das aus zahlreichen medizinischen Berufsverbänden, Patientenvertretungen und Bürgerrechtsorganisationen gebildete Aktionsbündnis "Stoppt die e-Card!" über 750.000 Unterschriften gegen die sogenannte Gesundheitskarte gesammelt, doch scheinen sich die im Bundestag vertretenen Parteien bis auf Die Linke nicht sehr von diesem Bürgervotum beeindrucken zu lassen. So weit es die parlamentarische Willensbildung betrifft ist nicht zu erkennen, daß der Abbruch dieses Großprojekts dort mehrheitsfähig wäre, was den außerparlamentarischen Protest eigentlich beflügeln müßte.

Podium mit Referentinnen und Referenten - Foto: © 2012 by Schattenblick

Referentinnen und Referenten der Tagung
Foto: © 2012 by Schattenblick

Ein Grund für den auf diesem Feld eher geringen Mobilisierungsgrad liegt sicherlich darin, daß den Aktivisten bürgerrechtlicher Organisationen etwa der vorgebliche Zweck der Terrorismusabwehr und der Sicherung des Urheberschutzes weniger plausibel oder überhaupt wünschenswert erscheint als die beanspruchte Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Ein weiterer könnte in der Komplexität und Abstraktheit des Systems der e-Card liegen, die wie eine digital aufgerüstete Form der vertrauten Krankenversicherungskarte wirkt und den Blick auf die informationstechnischen Strukturen und Prozesse, die ihre Schlüsselfunktion bedingen, erst bei genauerem Hinsehen freigibt. Das sozial und politisch bedrohliche Potential der umfassenden Verfügbarkeit von Patientendaten zu erkennen setzt schließlich einiges Wissen um die administrative und ökonomische Funktionsweise des Gesundheitswesens, die Zielsetzung der Heilberufe und die Innovationsdynamik der medizinischen Forschung und pharmazeutischen Industrie voraus.

Zudem ist dieses Projekt von einer Entwicklungslogik des learning by doing oder trial and error bestimmt, mit der die Diskrepanz zwischen den in Aussicht gestellten Verbesserungen und den dahinter zurückfallenden respektive kontraproduktiven Ergebnissen aus den Testregionen den Charakter einer notwendigen Aussteuerungsmaßnahme erhält. So heißt es in der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion zum "Entwicklungsstand bei der neuen elektronischen Gesundheitskarte" [1]:

"Von Beginn an war klar, dass ein Projekt dieser Größenordnung nur schrittweise realisiert werden kann. Sowohl die Projektplanungen als auch die technischen Realisierungsschritte der Selbstverwaltung berücksichtigen dies. Deshalb sind die jetzt ausgegebenen Gesundheitskarten sowie die neuen Lesegeräte technisch darauf vorbereitet, dass sie in nachfolgenden Schritten für weitere Anwendungen genutzt werden können, ohne dass ein Austausch dieser Komponenten erforderlich ist. Die Anwendungen werden schrittweise eingeführt, sobald sie sich in einem Testverfahren als sicher und praxistauglich erwiesen haben. Da die konkrete Ausgestaltung der Telematikinfrastruktur Aufgabe der Selbstverwaltung ist, hängen auch die konkret anfallenden Kosten sowie der konkret anfallende Nutzen der Anwendungen der elektronischen Gesundheitskarte und der Telematikinfrastruktur in hohem Maße von deren Entscheidungen ab. Die Organisationen der Selbstverwaltung sind hierbei den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit verpflichtet." [2]

Damit ist die Ausgestaltung des Systems der e-Card weitgehend ergebnisoffen, kann doch in jeder Entwicklungsphase pragmatischen Argumenten der technischen Realisierbarkeit und ökonomischen Rentabilität Vorrang gegenüber den Ansprüchen der Patienten und den ethischen wie berufständischen Interessen der Ärzteschaft gegeben werden. Um so mehr ist den Betreibern und Befürwortern des Projekts, die eine unabänderliche rechtliche und politische Ausgangslage insinuieren, die historische Erfahrung der Kontingenz grund- wie menschenrechtlicher Normen und das Wissen um die krisenbedingte Dynamik gesellschaftlicher Formationswechsel entgegenzuhalten.


Datenunsicherheit und ihre Beschönigung

Am 18. April 2012 lud die Initiative "Stoppt die e-Card!" unter dem Titel "Zu Risiken und Nebenwirkungen der Elektronischen Gesundheitskarte" zu einer dreistündigen Konferenz ins Hotel Aquino in Berlin-Mitte ein. Rund 100 Vertreter der Ärzteschaft, medizinischer Berufsverbände, Patientenorganisationen, der Medien sowie weitere am Thema Interessierte waren der Einladung gefolgt. Im Anschluß an ein von Dr. Axel Brunngraber verlesenes Eröffnungsgrußwort des Präsidenten der Ärztekammer Berlin, Dr. Günther Jonitz, eröffnete Dr. Silke Lüder, Ärztin in einer Gemeinschaftspraxis in Hamburg, den Vortragsreigen mit einer informativ dicht gepackten Auflistung zentraler Argumente gegen das Projekt. Sie schilderte den bisherigen Verlauf seiner Entwicklung, welche Erwartungen daran geknüpft werden ("Das weltgrößte IT-Projekt aller Zeiten!") und wie die nüchterne Realität aussieht ("Absurdistan!").

Beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Dr. Silke Lüder
Foto: © 2012 by Schattenblick

Mit einem Feuerwerk an kritischen Einwänden trat sie der offiziellen Darstellung der elektronischen Gesundheitskarte als Garant der Arbeitserleichterung und Datensicherheit entgegen. Überzeugend trug die praktizierende Ärztin vor, auf welche Weise die Praxen zu Außendienststellen der Krankenkassen gemacht werden, beispielsweise indem sie deren Arbeit beim zeitaufwendigen Vervollständigen der e-Card übernehmen sollen. Diese Mehrarbeit wird nicht nur nicht bezahlt, sondern geht letztlich auch von der Zeit für die Patienten ab, lautet das Resümee. Auch der Versuch, mit diesem Mittel die freie Arztwahl einzuschränken, stößt bei Dr. Lüder auf entschiedenen Widerspruch. Man merkte es der Referentin an, daß ihr Zorn über diese Entwicklung auch nach Jahren, in denen sie an vorderster Front der Initiative "Stoppt die e-Card!" steht, nicht im mindesten verraucht ist.

Beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Gabi Thiess
Foto: © 2012 by Schattenblick

Gabi Thiess, Vertreterin einer Patienten-Selbsthilfegruppe, trug in ihrem Vortrag ergänzend bei, daß die e-Card nicht nur nutzlos und teuer, sondern auch gefährlich ist. Dafür sei sie selbst ein Beispiel. Denn nach früheren Befunden sei bei ihr Fibromyalgie diagnostiziert worden. Durch die e-Card würde diese Diagnose dauerhaft befestigt, weitere Untersuchungen würden deshalb wahrscheinlich von der Krankenkasse abgelehnt. Schließlich seien bei ihr aber Schwermetalle nachgewiesen worden, die das Nervengewebe geschädigt hätten. Frau Thiess wandte sich gegen die zentrale Speicherung von sensiblen Krankheits- und Sozialdaten, warnte vor der Weigerung der Krankenkassen, notwendige Untersuchungen zu bezahlen, und erklärte, daß sie notfalls per Gericht durchzusetzen versuche, die e-Card nicht benutzen zu müssen.

Beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Hannelore König
Foto: © 2012 by Schattenblick

Weitere Aspekte brachte Hannelore König vom Verband der medizinischen Fachberufe (VMF) in die Debatte ein. Sie möchte nicht erleben, daß ihre Kolleginnen und Kollegen in den Arzt- und Zahnarztpraxen sich bei Mißbrauchsverdacht den Personalausweis zeigen lassen und die e-Card einziehen müssen. Nach der Erhebung der Praxisgebühr vor vielen Jahren wandere mit dem online-versicherten Stammdatenabgleich eine weitere administrative Aufgabe der Krankenkassen "klamm und heimlich" in die Arzt- und Zahnarztpraxis.

König forderte, daß die Krankenkassen die Patienten in den Umgang mit der e-Card einweisen müssen, das dürfe nicht den medizinischen Fachkräften aufgehalst werden. Inbesondere in der Hausarztpraxis drohe ansonsten am Monatsanfang, wenn zudem die Praxisgebühr erhoben werden müsse, der Zusammenbruch. Außerdem kritisierte Frau König, daß die erbrachte Mehrleistung durch die Einnahmen der Praxisgebühren nicht finanziell honoriert wird. Das gleiche drohe nun bei der e-Card. Zudem forderte sie, daß die Karte vor ihrer Einführung ausgiebig getestet wird. Bei der Beurteilung der Ergebnisse solle ihr Verband gehört werden.

Die Kritiker der e-Card stehen vor dem prinzipiellen Problem, gegen etwas ankämpfen zu müssen, das noch nicht vollständig realisiert ist. Sie können nicht beweisen, daß das System unsicher ist; dazu müßten sie seine Kryptographie knacken oder es anderweitig austricksen. Das würde allerdings, wenn es gelänge, sehr wahrscheinlich nicht einmal zum Abschied von diesem monolithischen Projekt, sondern umgekehrt zu seiner Qualifizierung beitragen, da auf diese Weise Sicherheitslücken geschlossen werden könnten.

Beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Hartmut Pohl
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Daten sind unsicher, stellt der Informatiker Prof. Dr. Hartmut Pohl zu Beginn seines Vortrags klipp und klar fest. Ohne die weiteren Ausführungen des Referenten schmälern zu wollen: es hätte bei dieser Aussage bleiben können. Auch andere ausgewiesene IT-Experten teilen seine Einschätzung. Dennoch bemüht sich die mit der Einführung der e-Card und dem Aufbau der Telematikinfrastruktur beauftragte gematik - Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH um einen anderen Eindruck. Das System soll höchsten Sicherheitsstandards der Verschlüsselung, Anonymisierung und Pseudonomisierung genügen und werde laufend in Kooperation mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) weiterentwickelt. Auf der Website der gematik liest sich das so:

"Die Infrastruktur der elektronischen Gesundheitskarte ist auf Veränderung ausgelegt. Jedes Jahr wird gemeinsam mit dem BSI geprüft, ob die verwendeten kryptografischen Mechanismen noch ausreichend sind oder gegebenenfalls ausgetauscht werden müssen. (...) Damit ist das Sicherheitsniveau der verschlüsselten Gesundheitsdaten so hoch, dass sie sogar in einem öffentlich zugänglichen Netzwerk zur Verfügung gestellt werden könnten, ohne dass sie sich in absehbarer Zeit entschlüsseln ließen. In der Telematikinfrastruktur befinden sich die verschlüsselten Daten aber in einem mehrfach gesicherten Netzwerk. Es ist eine Art Datenautobahn, zu der nur Befugte Zutritt haben. Die Telematikinfrastruktur ist eine nach außen abgesicherte Infrastruktur, die sowohl gegen Angriffe als auch gegen technisches oder menschliches Versagen geschützt ist. Sie bietet somit die Gewähr, dass die Gesundheitsdaten auch unter erschwerten Bedingungen langfristig zur Verfügung stehen." [3]

Bei einem Fachgespräch der Fraktion Die Linke im Bundestag am 10. Februar dieses Jahres hatte der Abteilungsleiter Datenschutz und Informationssicherheit bei der gematik, Sven Marx, zu Beginn seines Vortrags erklärt, er sei bei solchen Veranstaltungen wie dieser immer erstaunt, mit wieviel Halbwissen auch argumentiert werde. Er wolle sich bemühen, die gröbsten Schnitzer auszuräumen. Wörtlich sagte er: "Es werden keine Daten im Internet gespeichert. Es gibt keine Speicherung der Daten im Internet. Das ist einfach nicht so." [4]

Augenscheinlich nimmt der gematik-Mitarbeiter die Kritiker der elektronischen Gesundheitskarte sehr wohl zur Kenntnis, auch wenn sie angeblich Halbwissen verbreiten, denn er war ebenfalls zu der Konferenz ins Hotel Aquino gekommen - zusammen mit Stefanie N. Budewig, seit kurzem bei der gematik Leiterin der Kommunikation.

Selbstverständlich würden die Daten nicht in den Leitungen selbst, sondern in den Servern gespeichert, erklärte dagegen Prof. Pohl, der Sprecher des Präsidiumsarbeitskreises "Datenschutz und IT-Sicherheit" der Gesellschaft für Informatik ist. Er übte nicht nur Kritik an der e-Card, sondern stellte ein eigenes Konzept vor, wie er ein sicheres System organisieren würde. Es solle den Krankenversicherten überlassen bleiben, ob sie ihre Gesundheitsdaten im Internet oder auf portablen Datenträger speichern wollen. Das System solle dezentral bleiben, es dürfe keine zentrale Serverstruktur aufgebaut werden.

Für diesen sinnvoll erscheinenden Vorschlag, bei dem keine Datenberge auf zentral verfügbaren (wenngleich räumlich verteilten) Rechnern angehäuft werden, welche auf jeden Fall die Begehrlichkeiten fremdnütziger Interessen wecken, wäre allerdings die gematik nicht die passende Adresse. Sie ist laut eigener Darstellung verantwortlich "für die Einführung, Pflege und Weiterentwicklung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) sowie der zugehörigen Telematikanwendungen". [5]‍ ‍Dieser Auftrag ist im § 291a SGB V Elektronische Gesundheitskarte festgelegt und zielt auf den Aufbau eines zentral verwalteten Systems, zu dem nur die e-Card in Verbindung mit dem Heilberufsausweis (Zwei-Karten-Prinzip) Zugang verschafft. Die gematik soll für das Bundesministerium für Gesundheit ein telemetrisches System aufbauen - es geht bei weitem nicht nur um eine elektronische Gesundheitskarte.

Nahezu unausgelotet ist dabei der Bereich der sogenannten Mehrwertdienste. Dabei handelt es sich um Anwendungen von Dienstleistungen oder medizinischen Geräten im Gesundheitswesen jenseits der freiwilligen und verpflichtenden Anwendungen, die von der gematik bzw. den Selbstverwaltungsorganisationen vorgesehen sind. Das könnte bedeuten, daß die elektronische Gesundheitskarte unter Umständen auch zu einer Art (Werbe-)Plattform für privatwirtschaftlich orientierte Anbieter wie Fitnessstudios wird. So wird daran gedacht, daß ausgerechnet die als Firewall bezeichnete Hardware, der Konnektor, den jede Arztpraxis erhalten soll, um die Daten zu verschlüsseln und via Internet in die Serverstruktur einzuspeisen, für Unternehmen im Umfeld des eigentlichen Gesundheitsbetriebs nutzbar gemacht wird. In einem Fachbeitrag über Mehrwertdienste für die Deutsche Gesundheitstelematik heißt es dazu:

"Um möglichst viele Anwendungen für Patienten auf die Telematik-Plattform zu portieren, müssen medizinische Geräte und zentrale Software Services integriert werden. So können Anbieter einzelner Teilprodukte die Dienste der Telematikinfrastruktur nutzen, um hybride Mehrwertdienste modellieren und anbieten zu können." [6]

Wer glaubt, daß er bei rund zwei Millionen Zugangsberechtigten und einer noch unbekannten Zahl von Mehrwertnutzern, einen Mißbrauch der Daten ausschließen kann, handelt naiv, fahrlässig oder will absichtsvoll täuschen. Die gematik scheint sich über das Gefahrenpotential im klaren zu sein. Jedenfalls vertritt sie den Recherchen des Schattenblick zufolge nicht den Standpunkt, daß die Daten absolut sicher sind. Statt dessen erklärt sie, das System sei sicher, genüge höchsten Ansprüchen, werde ständig verbessert, und so weiter. So finden sich auf der FAQ-Liste der gematik zu der Frage "Wie werden Datenschutz und Datensicherheit gewährleistet?" relativierende Formulierungen wie jene, "dass die Speicherung sensibler Patientendaten so sicher wie möglich erfolgt", oder jene, daß man sich um "ein Höchstmaß an Sicherheit" [7] bemühe. Auf diese Weise werden die Kritiker in ihrem Argument unvollständiger Datensicherheit von der gematik selbst bestätigt.

Daß die von den Befürwortern der e-Card viel gelobte Datenhoheit in den Händen der Patientinnen und Patienten liegt, wurde bereits vor einigen Jahren in den Testläufen als äußerst lästig empfunden. Der Medizinbetrieb möchte viel lieber, daß die Kranken nicht nur ihre medizinische Behandlung "erdulden", wie das aus dem Lateinischen stammende Wort Patient nahelegt, sondern auch die Verwertung ihrer medizinischen Daten widerspruchslos hinnehmen. So wurde die Patientenautonomie auf der Tagung "10 Jahre Telemed", die während der europäischen eHealth week Berlin 2007 stattfand, von einigen Referenten auf durchaus ambivalente Weise erörtert:

"Schwierigkeiten werden hingegen bei den freiwilligen Anwendungen der Elektronischen Gesundheitskarte (z. B. eArztbrief, eArzneimitteldokumentation, eAkte) wegen deren Freiwilligkeit bei der Nutzung erwartet. Grund hierfür ist die in den Händen der Patienten liegende Datenhoheit. Der Patient muss künftig für alle freiwilligen Anwendungen seine Zustimmung durch Bereitstellung seiner Elektronischen Gesundheitskarte geben, wobei in der Regel noch die Eingabe seiner PIN erforderlich ist. Was aus Sicht des Datenschutzes und der Einbeziehung des Patienten in die Behandlungsabläufe durchaus positiv zu betrachten ist, wird in der praktischen Umsetzung zu großen Problemen führen." [8]

Weiter heißt es, die Freiwilligkeit mehrere Anwendungen hätten "in vielen Situationen eine Kontraproduktivität im medizinischen Alltag" hervorgerufen. Anschließend wird eine Lösung beschrieben, eine Art doppelte Buchführung:

"Da die Freiwilligkeit nicht die nötige Dokumentationssicherheit und die erforderliche Informationsbereitstellung gewährleistet, sind die Leistungserbringer verpflichtet, die für sie notwendigen Daten doppelt zu speichern: lokal für eigene Zwecke und zur eigenen rechtlichen Sicherheit und - sofern es der Patient wünscht - global zur sektorenübergreifenden Kommunikation." [8]

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. So heißt es
abschließend:

"Gerade im Bereich Krankenhaus sind noch viele Anpassungen notwendig, um die dortigen Leistungserbringer zu entlasten, statt zu belasten, ihnen praktikablen Zugriff auf die sektorenübergreifenden Vorteile zu geben und somit die entscheidende Akzeptanz zu fördern." [7]

Wenn Freiwilligkeit als Gefährdung des Medizinbetriebs angesehen wird, dann könnten "Anpassung" und "praktikabler Zugriff" bedeuten, davon in irgendeiner Form Abstriche zu machen. Hier böte sich die Einführung einer Art "Master-PIN" an:

"Eine mögliche Lösung wäre an dieser Stelle die Einführung einer 'Master-PIN'. Der Patient gibt während der administrativen Aufnahme - am Besten im Zuge des Behandlungsvertrages - einmalig seine PIN in das System ein und bestimmt die freizugebenden Anwendungen. Diese 'Master-PIN' behält nun bis zur Entlassung oder bis zum Widerruf durch den Patienten oder eines Bevollmächtigten ihre Gültigkeit innerhalb des Krankenhausinformationssystems (KIS) und ersetzt alle weiteren PIN-Eingaben." [7]

Auch wenn derartige Überlegungen nicht die Ansicht des Bundesgesundheitsministerium oder der gematik wiedergeben, so repräsentieren sie doch die Zwangsläufigkeit einer Logik, die die unterstellte Freiwilligkeit des Patienten auf das Feigenblatt der alternativlosen Zustimmung zur Teilnahme an einem informationstechnischen System reduziert und selbst dann noch als Störfaktor in Erscheinung tritt. "Die PIN-Eingabe ist das Instrument, mit dem Patienten ihre Entscheidungsfreiheit zur Nutzung des medizinischen Teils der elektronischen Gesundheitskarte technisch ausüben können", heißt es in der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion zum Entwicklungsstand der e-Card. [2]‍ ‍Vor die Wahl gestellt, medizinische Hilfe zu erhalten oder auf sie verzichten zu müssen, ist diese Freiheit als Rudiment eines technischen Vorgangs zutreffend beschrieben.

Prof. Pohl hält e-Card hoch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Das Corpus delicti
Foto: © 2012 by Schattenblick

Dem Argument der Befürworter der e-Card, daß diese viel sicherer sei als heutige Mittel und Methoden, bei denen Krankendaten unverschlüsselt elektronisch versendet werden, ist entgegenzuhalten, daß diese Daten nicht als Block verfügbar sind, sondern dezentral vorliegen. Schon heute wird der Ruf nach ihrer Sekundärnutzung laut. Das Interesse an ihnen ist gewaltig. Für Wissenschaft und Wirtschaft sind die Gesundheitsdaten einer ganzen Bevölkerung von riesigem, kaum zu bemessenden Wert. Krankenkassen, Pharmaindustrie und Forschungsinstitute könnten versucht sein, Risikofaktoren (auf den Gebieten Genetik, Umwelt, Ernährung und diverser sozialer Indikatoren) ausfindig zu machen. Das verdeutlicht eine Aussage von Martin Peuker, Leiter Adminstrative Verfahren der Berliner Charité, gegenüber der "Financial Times Deutschland", zitiert nach der "Ärzte Zeitung". In der Charité, einem der größten Krankenhäuser Europas, läge mittlerweile ein riesiger Schatz aus Daten, die aber bisher weitestgehend ungenutzt blieben: "Wenn es nicht gelingt, mehr Nutzen aus den Daten zu ziehen, ist es kaum noch vertretbar, so viele Daten zu digitalisieren." [9]

Beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Wolfgang Linder
Foto: © 2012 by Schattenblick

Genau vor dem vermeintlichen Sachzwang, daß die Digitalisierung voranschreitet, und die Menschen daran gewöhnt werden, daß ihre Daten im Internet stehen, warnte Wolfgang Linder, ehemaliger Datenschutzreferent der Stadt Bremen und Mitglied des Komitees für Grundrechte und Demokratie, im abschließenden Vortrag der Konferenz zur e-Card. Die verbeamteten Datenschützer in Bund und Ländern hätten versagt und sich einbinden lassen. Sie seien nicht mehr zu klaren rechtspolitischen Datenschutzstellungnahmen imstande. Das geforderte Lichtbild für die e-Card und das Versicherten-Datenmanagement bezeichnete Linder als "Disziplinierungsinstrumente", um Ärzte und Versicherte an ein System, bei dem Gesundheitsdaten im Internet stehen, zu gewöhnen. Wenn es mit Compliance - Übereinstimmung - oder Akzeptanzmangement nicht funktioniere, würde eben Druck ausgeübt.

Die e-Card sei der erste Schritt zu e-Government, schlug der Referent einen größeren, gesellschaftskritischen Bogen. In Anlehnung an Michel Foucault sprach er von der Gouvernementalität der regierten Versicherten bzw. Patienten. Foucault zufolge würden die Menschen nicht mehr nur allein von oben diszipliniert, sondern "sanft" bzw. "mental" beeinflußt. Auf Ärzte und Versicherte werde ein Anpassungsdruck ausgeübt, sich den Anforderungen der Gesundheitswirtschaft zu beugen, der tendentiell internalisiert würde.

Der Referent sieht durchaus eine Chance, daß das ganze Projekt e-Card noch zum Scheitern gebracht wird, wenn denn die Ärzte und Patienten widerständiges Bewußtsein entwickelten und sich ihm verweigerten. Das betreffe zum einen das von den Krankenkassen für die e-Card geforderte Lichtbild, das nicht eingesandt werden müsse, und die freiwilligen Daten auf der Karte, die niemand zu geben gezwungen werde.

Kaum thematisiert wurde auf der Konferenz, daß daran gedacht ist, das Konzept der Elektronischen Gesundheitskarte zu exportieren. Da stellt sich die Frage, ob andere Länder die gleichen Maßstäbe an den Datenschutz legen wie die Bundesrepublik. Trägt nicht der Exporteur, vergleichbar mit Rüstunglieferungen, eine Mitverantwortung, sollte ein anderer Staat die Datensätze seiner Bevölkerung in diskriminierender oder gar eliminatorischer Weise nutzen?

Blick aufs Publikum - Foto: © 2012 by Schattenblick

Rege Beteiligung des Publikums an der Debatte
Foto: © 2012 by Schattenblick


Patientendaten als Kapital fremdnütziger Interessen

Auf dem Spiel steht nicht nur die Selbstbestimmung der Menschen gegenüber dem Zugriff eines medizinaltechnokratischen und -industriellen Komplexes, dem die sozialökonomische Konditionierung gesellschaftlicher Reproduktion erstes Ziel ist. In Frage gestellt ist auch die tradierte Position der Heilberufe als relativ eigenständige, den Werten ihrer Standesethik verpflichtete gesellschaftliche Akteure. Dies gilt für den Umbau der Gesellschaft im Sinne kapitalistischer Standortlogik im allgemeinen wie den längst nicht abgeschlossenen neoliberalen Strukturwandel des Gesundheitswesens im speziellen.

Das System der e-Card erfüllt dabei die Aufgabe, zum einen mit Hilfe einer informationstechnischen Infrastruktur die Optimierung der Kostensenkung und Gewinnmaximierung im Gesundheitswesen zu gewährleisten, zum andern die Kontrolle gesellschaftlicher Entwicklung nach Maßgabe eines sozial selektiven Gesundheitsgedankens zu verbessern. Wo der Patient aus Gründen von Alter, Krankheit oder Erwerbslosigkeit vor allem als Kostenbringer zu Buche schlägt, sollen vermeintlich krankmachende Faktoren auch mit ökonomischem wie sozialem Druck eliminiert werden. Hier stehen sozialmedizinische Überlegungen Pate, in denen ein eugenisches Denken aufscheint, das keiner kruden rassistischen Ressentiments bedarf, da die Ratio der gesamtgesellschaftlichen Kosten-Nutzen-Rechnung insbesondere unter der Bedingung überbordender Staatsverschuldung Ausgrenzung und Einschließung mit betriebswirtschaftlichen Argumenten legitimiert.

Beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Dr. Christian Euler
Foto: © 2012 by Schattenblick

Erhellendes dazu hat der Präsident des Hausärzteverbandes Österreich, Dr. Christian Euler, in seinem vor allem mit den administrativen Problemen des österreichischen eHealth-Konzepts befaßten Referat beizutragen. So firmiere die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft SVA nun als Gesundheitskasse und vollziehe den Wandel von der sozialen Krankenversicherung zu einer Agentur der Schuldzuweisung. Dem Arzt werde die Aufgabe übertragen, eine an die Verringerung der Beitragszahlung, die wie von selbst in eine Sanktionierung der Betroffenen umschlägt, gekoppelte Erziehung der Patienten zur Aufgabe gesundheitsschädlicher Verhaltensformen zu betreiben. Auf dem SVA-Formblatt "Meine Gesundheitsziele" werden die Parameter erwünschten Verhaltens hinsichtlich des Blutdrucks, des Gewichts, der Bewegung, des Tabak- und Alkoholkonsums ausgewiesen und ihre Befolgung bemeßbar gemacht. Dr. Euler sieht darin "eine als Fortschritt getarnte Entsolidarisierung und Diskriminierung", sei es doch "kein Geheimnis", daß gerade die Menschen, denen ein sogenanntes Fehlverhalten angelastet wird, diejenigen wären, "die ohnehin am Rande der Gesellschaft um Zugehörigkeit und Anschluß kämpfen".

Auch die elektronische Krankmeldung ist dem im burgenländischen Rust praktizierenden Arzt ein Mittel der Disziplinierung, werde der Druck auf krankgeschriebene Patienten durch die Krankenkassen mit dieser Innovation der österreichischen e-Health doch massiv erhöht. "Es geht um volle Kontrolle des Patienten, es geht um das Ausleben einer ungeheuren Mißtrauenskultur", so Dr. Euler, der nicht den Eindruck eines passionierten Rebellen macht, sondern schlicht aus der Praxis eines leidgeprüften Landarztes mit allerdings starker Verwurzelung in den ethischen Werten seines Berufes berichtet. Die Ärzte sollten auch in Österreich zu Verbündeten der Kasse gemacht werden und nicht weiterhin dem, wenn man dem höchsten Beamten im Wiener Gesundheitsministerium glauben will, überkommenen Ideal eines durch Dritte unbeeinträchtigten Arzt-Patienten-Verhältnisses frönen: "Das Paradigma von der besonderen Intimität zwischen Arzt und Patient ist im Zeitalter von eHealth zu hinterfragen."

Dr. Euler wehrt sich zwar gegen die Behauptung, daß es sich beim Widerstand seines Verbandes gegen das Pendant zur deutschen e-Card um ein Generationenproblem handelt, betont aber auch, daß er auf das tradierte Wissen einer medizinischen Praxis Wert legt, laut dem zum Beispiel die gleiche Krankheit bei verschiedenen Menschen ganz unterschiedliche Zustandsbilder hervorbringt. Das mechanistische Weltbild der eHealth hingegen sei ein elektronischer Weg um Jahrhunderte zurück, was zu der Frage führe, ob Ärzte weiter Kranke behandeln oder Krankheiten verwalten sollen. Die österreichischen Hausärzte hätten die eHealth-Reform als eine Mißtrauenserklärung mit dem einen Ziel der Einsparungen erlebt. Den diesen Paradigmenwechsel flankierenden Euphemismen mangele es an "Wertorientierung", was die verhängnisvolle Konsequenz einer Instrumentalisierung ärztlichen Handelns auch für menschenfeindliche Zwecke zur Folge haben könne.

Beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Paul Unschuld
Foto: © 2012 by Schattenblick

Auch Prof. Dr. Paul Unschuld, Sinologe, Medizinhistoriker und Direktor des Horst-Görtz-Stiftungsinstitutes an der Berliner Charité, widmet sich in seinem Vortrag dem grundlegenden Wandel der Rolle des Arztes in der Gesellschaft. Der Autor des Buches "Ware Gesundheit - Das Ende der klassischen Medizin" kritisiert dabei insbesondere das Vordringen eines elektronischen Datenmanagements, das die Ärzte als Verwalter individueller Patientendaten auszuschalten drohe. Patienten, die dem wirtschaftlichen Vorteilsstreben der Krankenkassen als auch der Ärzte zum Opfer fielen, hätten mit den möglicherweise fatalen Ergebnissen einer durch ökonomische Interessen verzerrten Diagnostik ebenso zu rechnen wie mit einer Stigmatisierung durch Informationen über ihren Gesundheitszustand, die in die Hände unbefugter Dritter gelangten. Er warnt vor dem Abhängigkeitsverhältnis, in das Menschen geraten könnten, wenn ihre Daten, die sie im guten Glauben an die Verbesserung ihrer Lage oder schlicht im Zustand der Schwäche preisgeben, durch eine von Krankenkassen, Investoren und Politikern vorangetriebene Zentralisierung dieser Informationen für weitere Kreise und Zwecke verfügbar würden.

Wie bei der innovativen Terminologie der "Gesundheitskassen" oder der "Gesundheitswirtschaft" sei der Begriff der "Gesundheitskarte" nichts als eine Schönfärberei, die krude ökonomische Interessen überdecke. Prof. Unschuld zieht es vor, von einer elektronischen Entblößungs- oder Enthüllungskarte zu sprechen, handle es sich dabei doch um "nichts anderes als die Ausweitung des Nacktscannerkonzepts der Flughafensicherheit auf den gesamten menschlichen Organismus, sein Inneres und Äußeres, seinen Körper und seine Psyche". Es gebe keine undurchdringliche Datensicherung, wenn sich solche Daten als kommerziell und politisch nützlich erwiesen, könne damit doch "jede körperliche und psychische Schwäche von frühester Kindheit an auf ewig festgehalten und genutzt werden, um Menschen aufgrund ihrer Krankheitsgeschichte nach kommerziellen und politischen Zielsetzungen, die sich jeder demokratischen Kontrolle entziehen, zu bevorteilen oder zu benachteiligen".

Seine in an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassende Stellungnahme untermauert der Medizinhistoriker mit dem Wandel der Interessenlage von Staat und Gesellschaft. War die Gesundheit der Gesamtbevölkerung seit der Herausbildung der europäischen Nationalstaaten noch die notwendige Voraussetzung für die wirtschaftliche und militärische Stärke, ohne die deren Konkurrenzkampf nicht erfolgreich zu bestehen war, so werde das damals entstandene moderne Gesundheitswesen und die damit konstituierte Stellung der Ärzte als relativ souverän handelnde und sozial angesehene Experten und Ratgeber zusehends obsolet. Wo allgemeine Gesundheit keine notwendige Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum mehr sei, sondern sich eher die Frage stelle, was mit der anwachsenden Zahl für Produktion und Reproduktion nicht mehr erforderlichen Menschen anzufangen sei, wo Krankheit, verstanden als umsatzträchtige Bewirtschaftung des Krankseins, volkswirtschaftlich wertvoller als Gesundheit werde, drohe ein historischer Rückschritt folgenreicher Art.

Da es in der Gesundheitswirtschaft darum gehe, die Kosten - und damit die Rendite - zu steigern, bauten die Krankenkassen zusehends ein Konkurrenzverhältnis zu den Ärzten auf. Diese sollen auf einen Beruf wie jeder andere reduziert werden, um die Ware Gesundheit als wettbewerbsorientierte und werbetreibende Leistungsanbieter möglichst effizient zu vermarkten. Die e-Card sei ein Teil dieses Strukturwandels, dem das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient bloßer Störfaktor sei. Der Referent beläßt es nicht bei einem Plädoyer für eine humanistische, im urtümlichen Sinne helfende Medizin, sondern nimmt makroökonomische und gesellschaftspolitische Zielsetzungen aller Art in den Blick möglicher Verwendungen der vom System der elektronischen Gesundheitskarte generierten Datensammlung.

Prof. Unschulds Frage danach, welche Interessen eigentlich durch die Etablierung einer monolithischen Struktur informationstechnischer Verfügbarkeit des einzelnen Menschen bedient werden, läßt einen politischen Weitblick erkennen, der in der Debatte um die e-Card nicht selten durch Abwesenheit glänzt. Dabei müssen die durch die informationstechnischen Voraussetzungen freigesetzten Mißbrauchsmöglichkeiten gerade in Anbetracht der jüngeren deutschen Geschichte weit ernster genommen werden, als es die Verfechter der e-Card mit dem Insistieren auf vermeintlich in Stein gemeißelte Garantien des Datenschutzes tun.

Schon der Blick auf jüngste Entwicklungen des Sicherheitsstaates läßt erkennen, wie schnell vermeintlich unumstößliche Gewißheiten wie etwa das Folterverbot oder die enge zeitliche Befristung sogenannter Administrativhaft zur Disposition einer Terrorismusabwehr stehen, in der sich staatliche Ermächtigung im rechtlichen Ausnahmezustand artikuliert. Auch geben die Etablierung der ärztlichen Sterbehilfe in Belgien und den Niederlanden wie auch die international geführte Debatte um die Hirntodkonzeption nicht gerade Anlaß zu der Hoffnung, daß das Tötungsverbot in seiner verbürgten Form auf ewig Bestand haben wird. Wenn die Refinanzierung aufgelaufener Staatsschulden wichtiger wird als die Sicherung essentieller Lebensvoraussetzungen, wenn der Hunger in europäischen Gesellschaften wie Griechenland keine seltene Ausnahme mehr darstellt, sondern die Verelendung ganzer Bevölkerungsschichten belegt, wenn in dem EU-Staat Ungarn regelrechte Arbeitslager eingerichtet werden, dann braucht man sich über die Bereitschaft, überwunden geglaubte Formen der Menschenverachtung in sozialdarwinistischen Rezepturen der Überlebenssicherung auferstehen zu lassen, nichts vorzumachen.

Beitrag aus dem Publikum  - Foto: © 2012 by Schattenblick

Siegfried Dierke
Foto: © 2012 by Schattenblick

Es ist daher keine Sensationshascherei, wenn ein Urologe aus dem Publikum davor warnt, daß der Sohn einer Familie mit drei Diabetikern einmal ohne jede eigene Symptomatik die dreifachen Versicherungskosten bezahlen könnte oder der Sohn eines Patienten mit Chorea Huntington keinen Studienplatz mehr erhält, weil er doch nur 20‍ ‍Jahre produktiv tätig sein könne. Wo die mit statistischen Mitteln auf Normwerte und deren Abweichung getrimmte Ökonomisierung des Gesundheitswesens dazu führe, daß künftig ganze Familien auch in der Bundesrepublik ohne berufliche Perspektive und Krankenversicherung blieben, da gelte es auch mit dem Widerstand gegen die e-Card, den Schutz der kommenden Generationen zu sichern.

Nicht ohne Brisanz ist auch die Erklärung von Siegfried Dierke, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten Kathrin Vogler von der Partei Die Linke. Er erinnert daran, daß im Rahmen der Entscheidungslösung bei der Organspende geplant ist, die Eintragung der individuellen Willensbekundung auf der e-Card durch die Krankenkasse vornehmen zu lassen. Sollte dies der Fall sein, dann wären Dritte daran beteiligt, höchst sensible Fragen der persönlichen Selbstbestimmung zu dokumentieren.

Wortmeldung auf dem Podium - Foto: © 2012 by Schattenblick

Dr. Axel Brunngraber
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Dr. Axel Brunngraber, in Hannover niedergelassener Facharzt für Innere Medizin und Mitglied im Aktionsbündnis "Stoppt-die-e-Card!", kritisiert die Vereinnahmung der Ärzteschaft durch die betriebswirtschaftliche Logik einer Effizienz- und Renditesteigerung, die Mediziner letztlich zu Vermittlern einer technisch und industriell induzierten Filialkettenmedizin mache. Ihm gehe es um die Reduzierung anfallender und zu transportierender Daten auf das für den Kern ärztlichen Handelns erforderliche Maß und vor allem den Schutz wichtiger Patientengeheimnisse vor den Zugriffen Dritter. Es gebe "gesellschaftliche Bereiche, die sollten weder der Ökonomisierung noch der vollkommenen Technisierung zugänglich gemacht werden, weil wir sonst den anthropologischen Kern, den Sinn unseres menschlichen Lebens, mit eliminieren". Dr. Brunngraber warnt zudem davor, die e-Card mit der humanistischen Glaubwürdigkeit seines Berufsstandes zu legitimieren, und legte damit den Finger in die Wunde der perfiden Strategie, emanzipatorische Ideale in den Dienst ihrer Aufhebung zu stellen.

So liegt der Gedanke nicht fern, daß die von den Referentinnen und Referenten beschriebene sozialfeindliche Instrumentalisierung und Ökonomisierung der in besonderer Weise humanistischen Idealen verpflichteten Heilberufe auch den Zweck hat, den dort noch vorhandenen Sinn für das elementare Unrecht staatlicher Gewaltanwendung und wirtschaftlicher Ausbeutung durch jene rücksichtslose Überlebensratio zu eliminieren, gegen die sich politisch und sozial engagierte Ärztinnen und Ärzte wenden. Schon heute liegt die Lebenserwartung zwischen den wohlhabendsten und ärmsten Bundesbürgern im statistischen Mittel um zehn Jahre auseinander. Daß es gelte, diese biologische Folge sozialer Ungerechtigkeit durch die Rationalisierung des Gesundheitswesen mittels eHealth zu beseitigen, ist bislang nicht bekannt. Da die reale gesellschaftliche Entwicklung die soziale Polarisierung mit all ihren negativen Folgen für mittellose Menschen verschärft, sind gerade Ärztinnen und Ärzte ihrem Berufsethos gemäß gefordert, dagegen anzugehen. Das Problem, durch die eigene Tätigkeit die Reproduktion eines zusehends entsolidarisierten sozialdarwinistischen Gesellschaftssystems zu sichern, könnte gerade bei ihnen zu einer Politisierung führen, die sich nicht auf das Kurieren bloßer Symptome beschränkt. Zu wünschen wäre eine solche Entwicklung auch in Anbetracht der Bedeutung, die den medizinischen Professionen für alle Formen administrativer Verfügungsgewalt zukommt.

Die Durchsetzung des Systems der e-Card gegen die fundierten und kompetenten Einwände der Kritiker ist Bestandteil einer in allen Bereichen neoliberaler Transformation voranschreitenden Biologisierung menschlicher Belange und Interessen. Mit dem von den Erkenntnissen der sogenannten Lebenswissenschaften unterstützten Rückbindung des Sozialen an seine biologische Genese wird der Mensch auf den Leisten einer Kausalität geschlagen, die ihn zum Objekt von Verhältnissen erklärt, auf die er keinen Einfluß hat und die ihm desto mehr zum Schicksal werden. Gerade weil dieses vermeintliche Schicksal etwa durch das Interesse an der Steigerung des ökonomischen Gesamtproduktes gesellschaftlich bestimmt ist, werden interessenbedingte Kriterien der Leistungs- und Anpassungsbereitschaft als naturförmige Voraussetzungen gesellschaftlicher Teilhaberschaft ausgewiesen. Die anwachsende Bedeutung der genetischen Ausstattung für die berufliche Laufbahn und die biologische Reproduktion, die vulgärmaterialistische Verortung sozialer Praktiken und kognitiver Prozesse in neuralen Strukturen und der biomedizinische Griff nach den physiologischen Substraten des Lebens sind Anzeichen einer Verobjektivierung des Menschen, der seine informationstechnische Quantifizierbarkeit und Vergleichbarkeit zwingende Voraussetzung ist. Daß die operative Sozialkontrolle der Überwachung und Sanktionierung als ungesund ausgewiesener Formen der Lebensführung sozialrassistische Stereotypien und die Stigmatisierung angeblich unproduktiven Lebens wieder salonfähig macht und vice versa gesellschaftliche Ausgrenzungstrategien die Zurichtung der medizinischen Berufe und Wissenschaften auf Zwecke sozialer Repression legitimieren, kann da nicht weiter erstaunen.


Fußnoten:

[1]‍ ‍http://dip.bundestag.de/btd/17/056/1705671.pdf

[2]‍ ‍http://dokumente.linksfraktion.de/drucksachen/22065_1705838.pdf

[3]‍ ‍"Die elektronische Gesundheitskarte. Whitepaper: SICHERHEIT. Wie werden Gesundheitsdaten in Zukunft geschützt?", gematik GmbH - Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH, April 2008.
http://www.vdek.com/versicherte/Telematik/datenschutz45516/gematik_whitepaper_sicherheit_35711.pdf

[4]‍ ‍http://www.kathrin-vogler.de/themen/gesundheit/elektronische_gesundheitskarte/smarx/

[5]‍ ‍http://www.gematik.de/cms/de/header_navigation/faq/faq_1.jsp

[6]‍ ‍"Konzeption patientenzentrierter Gesundheitstelematik. Mehrwertdienste für die Deutsche Gesundheitstelematik", Dünnebeil, S.; Sunyaev, A.; Mauro, C.; Leimeister, M.; Krcmar, H.; Technische Universität München, Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und Universität Kassel, Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik. Aus dem Internet abgerufen am 19. April 2012.
http://www.uni-kassel.de/fb7/ibwl/leimeister/pub/JML_143_b.pdf

[7]‍ ‍http://www.gematik.de/cms/de/header_navigation/faq/faq_1.jsp

[8]‍ ‍"Integration der Elektronischen Gesundheitskarte in ein rechnergestütztes Krankenhausinformationssystem", Steffen Hayna, Werner Krämer, Paul Schmücker; Diakonissen-Stiftungs-Krankenhaus Speyer und Fakultät für Informatik der Hochschule Mannheim. Aus dem Internet abgerufen am 19. April 2012.
http://www.charite.de/medinfo/Userpages/Mitarbeiter/Stiller/CD/2007/TELEMED-2007-K03-Hayna.pdf

[9]‍ ‍"Das digitale Zeitalter frisst Zeit und Geld", Ärzte Zeitung, 19. April 2012
http://www.aerztezeitung.de/praxis_wirtschaft/article/810841/digitale-zeitalter-frisst-zeit-geld.html

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21.‍ ‍April 2012