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BERICHT/011: Hirntod im Handel - Defensivstrategie zur Sicherung der Transplantationsmedizin (SB)


Leben und Tod ... eine Frage der Zuständigkeit?

Podiumsdiskussion Forum Bioethik - Foto: © 2012 by Schattenblick

Geballter Sachverstand im Dienst des biomedizinischen Fortschritts
Foto: © 2012 by Schattenblick

Forum Bioethik: Hirntod und Organentnahme am 21. März 2012 in Berlin

Die vom Deutschen Ethikrat auf dem Forum Bioethik am 21. März aufgeworfene und insbesondere auf die Gültigkeit der Hirntodkonzeption gemünzte Frage, ob es neue Erkenntnisse zum Ende des Lebens gebe, gibt sich unschuldiger, als sie ist. Indem sie ihre zentrale Voraussetzung, die technische Zurichtung des Sterbevorgangs zum Zwecke der Organentnahme, ausläßt, hebt sie auf eine dementsprechend unvollständige Antwort ab. Ob diese nun ethisch oder metaphysisch bestimmt wird, worüber man im Diskurs der Philosophen zu streiten hatte, so steht und fällt ihre Evidenz doch mit dem interessengebundenen Charakter des Problems. Die an diesem Abend debattierten Fragen, inwiefern der als hirntot diagnostizierte Patient noch lebt oder schon tot ist und wie sehr der organische Niedergang der zentralnervösen Steuerungsinstanz, das Ende der auf die soziale Umwelt bezogenen Bewußtseinstätigkeit und Personalität darüber Aufschluß gibt, konnten schon deshalb nicht definitiv geklärt werden, weil die Irreversibilität dieses Zustands keine mitteilbare Erkenntnis aus dem subjektiven Erleben eines Betroffenen zuläßt.

Daß ein solches Erleben unter allen Umständen ausgeschlossen werden kann ist letztgültig ebensowenig zu verifizieren wie die Behauptung, daß die nicht mehr festzustellende Bewußtseinstätigkeit jegliche Schmerzempfindung unmöglich machte. Das dazu erforderliche Wissen hängt letztlich von seiner Mitteilbarkeit ab, ist also wie das häufig herangezogene Lebenskriterium der Personalität sozial determiniert. Auch wenn diagnostische Parameter somatischer Reaktivität Anhaltspunkte für ein Ende der Schmerzempfindung bei sogenannten Hirntoten bieten, so sind auf der anderen Seite in einigen Fällen somatische Reaktionen wie ein sprunghafter Anstieg des Blutdrucks, der Herzfrequenz und der Konzentration bestimmter Hormone bei der Organentnahme dokumentiert. Ziehen die Befürworter der Transplantationsmedizin daraus den Schluß, daß Organe entnommen werden können, ohne daß dies dem Spender zum Schaden gereichte, dann ist dieser ebenso gültig wie seine Negation. So lange wesentliche Teile der körperlichen Integrität erhalten sind und regulative Prozesse ohne Beteiligung des Gehirns für deren Aufrechterhaltung sorgen, wie der US-amerikanische Neurologe Prof. D. Alan Shewmon in seiner Präsentation nachwies, hält der subjektive Eindruck, es mit einem lebenden Menschen zu tun zu haben, den objektiven Kriterien der Hirntoddiagnostik stand. Die Unumkehrbarkeit dieses technisch verlängerten Sterbeprozesses kann daher ebensosehr als Argument für die fremdnützige Verfügbarkeit der Betroffenen eingesetzt werden wie für das Argument, daß diese Menschen in besonderer Weise schützenswert seien, weil sie alle Möglichkeit verloren haben, sich einer fremdnützigen Intervention zu widersetzen.

Feste Pflöcke unbestreitbarer ontologischer Definitionen einzuschlagen scheitert auch daran, daß die Polarität von Leben und Tode in der Totalität des einzelnen Begriffs aufgehoben wird. Der moribunde Charakter individueller Existenz ist von Anfang an unumkehrbar, wie sehr sich das Leben auch über die Zeit strecken mag. Die Feststellung dessen, wann genau der Sterbevorgang einsetzt, ist nicht minder problematisch als die präzise Bestimmung eines Todeszeitpunkts, dessen Kriterien auf medizinischen Diagnoseverfahren und kulturellen Konventionen von gewisser Variabilität beruhen. Nicht zufällig kommt es immer wieder zu Überraschungen und Fehldiagnosen, was allerdings nicht zur Folge hatte, daß die jahrhundertealte Festlegung auf den Herz-Kreislauf-Tod ernsthaft in Frage gestellt worden wäre.

Dies erfolgte erst durch das Interesse an der Entnahme lebendfrischer Organe. Daß die Debatte um die Gültigkeit der Hirntodkonzeption fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer Entstehung nicht beendet ist, sondern immer mehr Zweifel an ihrer Gleichsetzung mit dem Tod des Menschen erhoben werden, ist eine Folge des Versuchs, den Zugriff auf die Organe von Sterbenden aus der Symmetrie von Leben und Tod herauszuhalten. Wird dieses Interesse als konstitutiver Faktor der Bestimmung von Leben und Tod anerkannt, dann verschieben sich die Gewichte in Richtung der Asymmetrie, daß ein zweites Leben den Platz des ersten einnimmt. Indem letzteres auf die Seite des Todes wechselt, scheint die natürliche Ordnung wiederhergestellt zu sein, allerdings zu dem Preis einer willkürlichen Intervention, deren Gewaltpotential im kriminellen Organraub offen hervortritt und sich in der Kommerzialisierung der Lebendspende ökonomisch larviert.

Der Diskurs um die Organspende wird demgegenüber unter der Prämisse eines moralischen Imperativs geführt, der seine Legitimität aus dem Anspruch schöpft, daß die Zustimmung des Spenders unter der Voraussetzung vollständiger Aufklärung über die Modalitäten und Bedingungen der Organentnahme erfolgt. Aber wie vollständig ist diese Aufklärung, wenn die Debatte beim Deutschen Ethikrat nur mehr um die Frage kreist, ob die Hirntodkonzeption aufrechterhalten werden oder wie man die Organentnahme bei noch lebenden Menschen legitimieren kann?

Blick ins Publikum - Foto: © 2012 by Schattenblick

Rege Beteiligung des Publikums
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Ratschluß der Experten im Zirkel unhinterfragter Bedingungen

Aus naheliegenden Gründen votierten vier der sechs aufgebotenen Experten für die Verteidigung der in die Defensive geratenen Hirntodkonzeption. Der für die Podiumsdiskussion geladene Stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrates Prof. Dr. theol. Eberhard Schockenhoff diagnostizierte bei dem Bioethiker Prof. Dr. phil. Ralf Stoecker, der einen Zwischenzustand zwischen Leben und Tod postulierte, "Unentschiedenheit" und mangelnde Bereitschaft, zu einer in seinem Sinne konsequenten Entscheidungsgrundlage zu gelangen. Stoeckers Konsequenz besteht jedoch gerade darin, die Kritik an der Hirntodkonzeption so ernst zu nehmen, daß er vor dem Hintergrund des Interesses an der weiteren Verfügbarkeit lebenswichtiger Organe zu keinem abschließenden Urteil gelangt, allerdings den Weg für die Fortsetzung der Transplantationsmedizin ohne vollständiges Ableben des Organspenders bahnt [1].

Schockenhoff scheint sich bewußt zu sein, daß diese Entwicklung eine Grundfeste des christlichen Wertekodexes, das Tötungsverbot, absehbar aufhebt. Für ihn als Theologen sei entscheidend, daß das Hirntodkonzept anthropologisch wohlbegründet werde, und zwar in Hinsicht auf den personalen Charakter des Menschen, dessen Leib "auch ein erlebter Körper, ein in der sozialen Kommunikation erlebter Körper" [2] sei. Der der zentralnervösen Grundlage seiner Kognition und Reflexion verlustig gegangene Körper sei mithin kein Mensch mehr, denn dieser ist Person, und existiert diese Person nicht mehr, dann sei die notwendige Voraussetzung dafür gegeben, ihn für tot zu erklären.

Das zentrale Argument des Moraltheologen für die Verteidigung des Hirntodes als Tod des Menschen ist ein ganz und gar zweckorientiertes, stützt er sich doch auf eine Konvention mit dem schlichten Argument, daß dies dem allgemeinen Nutzen am meisten entspräche:

"Aber wenn wir den Zustand eines hirntoten Organismus mit seinen Integrationsleistungen als Lebendigsein bezeichnen wollen, dann müßten wir den Begriff Leben so umdefinieren, daß er etwas anderes bedeutet, als er bislang bedeutet hat. Und dafür, glaube ich, gibt es keine guten Gründe außer eben unsere Unentschiedenheit, daß wir zögern zu sagen, ein Hirntoter ist tatsächlich tot, nur mit dem Unterschied, der dann unsere andere phänomenale Wahrnehmung begründet, daß wir ihn noch künstlich beatmen, dadurch den Anschein des Lebendigseins erwecken. Die eigentlich ethisch relevante Frage ist jetzt: Dürfen wir das - einen Hirntoten künstlich beatmen, damit wir ihm Organe in einem transplantationsfähigen Zustand entnehmen dürfen? Und angesichts des großen medizinischen Nutzens, den wir für andere dadurch erzielen können, ist diese Frage für mich eigentlich nicht schwer zu beantworten." [1]

Was spricht dagegen, die bisherige Definition menschlichen Lebens in Anbetracht zuvor unbekannter technischer Interventionen in den Sterbeprozeß dahingehend zu ändern, daß er in größerem Ausmaß als bisher Schutz vor fremdnützigen Zugriffen bietet? Zwar kann er im Rahmen einer Patientenverfügung erwirkt werden, doch sind derartige Rechte nicht in Stein gemeißelt. Ihrer perspektivischen Aufhebung wird allemal zugearbeitet, wenn der Begriff des menschlichen Lebens aus philosophischer und bioethischer Sicht kategorisch verengt wird. Das die technische Verlängerung des Sterbeprozesses bestimmende Interesse, Verfügungsgewalt über zumindest teilweise funktionstüchtige Organismen zu erhalten, könnte sogar mit dem Argument gekontert werden, daß man möglichen Entuferungen im Lichte des keineswegs überwundenen Vermächtnisses eugenischer Bevölkerungsplanung als auch des Vordringens neuer Formen der Euthanasie vorbeugen wolle. Eine solche Position hätte überdies den Vorteil, dem eminent politischen Charakter der medizinaltechnokratischen Zurichtung des Menschen auf Zwecke seiner Verwertbarkeit Rechnung zu tragen.

Auf dem Podium - Foto: © 2012 by Schattenblick

Eberhard Schockenhoff
Foto: © 2012 by Schattenblick

Angesichts des moralisch prekären Charakters seiner Argumentation betont Schockenhoff, wie wichtig es ihm sei, daß nicht der Anschein entstehe, es ginge ihm in erster Linie darum, Organspender für tot zu erklären, um an der Transplantationsmedizin ebenso festhalten zu können wie an ihren ethischen Grundlagen: "So ist es nicht, sondern es gibt gute, naturphilosophische und ontologische Gründe, um Hirntote als tot anzusehen" [2]. Diese Ontologie plausibel zu machen bedarf allerdings der Rationalisierung des Scheins zum Postulat eines Seins, daß man mit nicht minder großer Gültigkeit zum zweckdienlichen Schein eines empirischen Seins erklären könnte:

" ... man eigentlich nicht sagen kann, das ist ein lebendiges einheitliches Seiendes, das wir vor uns haben, sondern wir haben das vor uns, das einmal der Mensch war, die Person, die wir kannten, und wir haben es deshalb noch in dem Aspekt dessen, das dem ähnelt und das lebendig scheint, weil es künstlich beatmet wird und deshalb alle diese Erscheinungsweisen noch aufweisen kann." [2]

Die Aufforderung, die eigene sinnliche Wahrnehmung dem Urteil medizinischer Experten zu überantworten, heißt, den Menschen, den man zum beatmeten, durchbluteten und in allen wesentlichen Stoffwechselfunktionen am Leben erhaltenen Leichnam erklärt, chirurgischen Eingriffen preiszugeben, die diesen Zustand dann auch beenden. Angehörige, denen keine definitive Erklärung des Sterbenden vorliegt, stehen vor der Entscheidung, lebenserhaltende Maßnahmen einstellen und den Sterbeprozeß zu seinem Ende kommen zu lassen, oder einem tödlich verlaufenden Eingriff zuzustimmen, der einem anderen Menschen neue Lebenschancen eröffnet. Der ethische Wert des Organtransfers - uneingedenk aller körperlichen und psychischen Einschränkungen, die auf der Seite des Empfängers negativ zu Buche schlagen können - ist nur aufrechtzuerhalten, wenn der Spender für tot erklärt wird. Alles andere liefe auf Formen des Raubes hinaus, bei denen sich die Ausweidung eines gesunden Menschen in der Blütezeit seines Lebens und die Organentnahme bei einem Unfallopfer mit irreversiblem Gehirnausfall lediglich graduell, nicht aber prinzipiell voneinander unterscheiden.

Wenn der katholische Moraltheologe beim Hirntod von einem "zuverlässigen Indiz, das uns den Rückschluß darauf erlaubt, daß der Mensch bereits gestorben ist, auch wenn der Anschein des Lebendigen auf künstliche Weise noch aufrechterhalten werden kann, damit wir Organe entnehmen können" [2], spricht, dann wird der willkürliche Charakter des Zugriffs auf den Körper sterbender Menschen schon recht deutlich. Der von Schockenhoff artikulierte Imperativ, sich in Anbetracht nicht endgültig zu klärender Fragen entscheiden zu müssen, ist von betont dezisionistischer Art und entspricht damit einem staatlichen Verfügungsinteresse, dem der Anspruch auf basisdemokratische Legitimation administrativer Handlungsfähigkeit und exekutiver Ermächtigung im Wege steht. Der Zugriff auf den sterbenden Körper und seine Vergesellschaftung zum Zwecke eines mit weiteren Fortschritten der Biomedizin kaum auszulotenden prospektiven Nutzens für diejenigen, die am meisten über ihn verfügen, ist daher von weitergehenden Fragen zur Herrschaft des Menschen über den Menschen nicht zu lösen.

Beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Michael Quante
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Der wie Schockenhoff an der Gültigkeit der Hirntodkonzeption festhaltende Bioethiker Prof. Dr. phil. Michael Quante reklamiert in Sachen Leben und Tod zwar die Zuständigkeit der Philosophie, muß allerdings bei der Frage, inwiefern es sich bei als hirntot diagnostizierten Menschen um Sterbende oder um Leichname handelt, den Rat der medizinischen Experten heranziehen. Sein genuiner Beitrag zur Debatte besteht darin, die Unverzichtbarkeit metaphysischer und naturphilosophischer Erkenntnisse für die Determination von Leben und Tod geltend zu machen. Er warnt davor, etwas für tot zu erklären, "weil die Seinsweise dieses X uns weniger wertvoll erscheint", denn damit würde das Pferd von hinten aufgezäumt. Die Frage, "ob etwas ein Leichnam ist oder ein menschlicher Organismus", sei umgekehrt zu stellen, denn sie mache "einen ethischen Unterschied", sei aber "nicht das Resultat einer ethischen Bewertung" [3].

Quante sieht bei der Aufgabe der dead donor rule, also des Verbots der Organentnahme bei noch lebenden Menschen, die Gefahr einer Entgrenzung fremdnütziger Eingriffe auf andere Patientenbereiche ebenso wie Nachteile für die Akzeptanz der Transplantationsmedizin und die Integrität des ärztlichen Selbstverständnisses. Die "guten ethischen Gründe", die dead donor rule beizubehalten, sind die gleichen, die für die Organentnahme bei Hirntoten sprechen. Wer allerdings im Hirntoten keinen Leichnam sehe, der würde diese Zuschreibung für eine "psychologische Verdrängungsleistung" [3] halten, behauptet Quante, ohne auf den Vorbehalt vieler Kritiker der Hirntodkonzeption, hier werde auf systematische Weise das Tötungsverbot aufgeweicht, weiter einzugehen. Es handelt sich mitnichten allein um eine Folge kognitiver Urteilsfähigkeit, zur Entnahme der Organe als hirntot diagnostizierter Menschen ein affirmatives Verhältnis zu unterhalten. Dieses betrifft auch die Reichweite staatlicher Verfügungsgewalt über den einzelnen Menschen und ist damit in großem Ausmaß politisch bestimmt.

"Eine Transplantationsmedizin ohne dead donor rule kann ich mir persönlich (...) nicht vorstellen, einfach weil ich glaube, daß die Akzeptanz, die Bereitschaft, diese Praxis als eine gelebte und institutionalisierte Form der Solidarität für Überlebende nach dem eigenen Tod massiv Schaden nähme." [2]

Die Frage, wieso es hoher philosophischer Urteilsfähigkeit bedarf, um eine derart pragmatische, schlichtweg die Fortschreibung der etablierten transplantationsmedizinischen Praxis gutheißende Position zu beziehen, wird von Quante abschließend selbst beantwortet. Es sei wichtig, sich zusammenzusetzen und genau zu überlegen, für welche Art von Frage eigentlich welche Disziplin mit welcher Kompetenz zuständig sei, lautet das Fazit des Münsteraner Philosophen. Es geht mithin darum, wer in dieser Gesellschaft dazu ermächtigt wird, Entscheidungen von weitreichender Konsequenz für das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, für die Autonomie des Individuums gegenüber Interessen, die nicht unbedingt die seinen sein müssen, zu legitimieren und zu treffen.

Bei der Podiumsdiskussion - Foto: © 2012 by Schattenblick

Stefanie Förderreuther, Eberhard Schockenhoff
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Entscheidungslösung ... dezisionistischer Imperativ zur Biologisierung des Sozialen

Im offensiven Impetus der geplanten Entscheidungslösung zeichnet sich bereits ab, daß die Sphäre individueller Autonomie dem biopolitischen Interesse von Staat und Kapital an der Bewirtschaftung der Bevölkerung im Wege steht. Zwar wird noch die Freiwilligkeit vorgehalten, sich jeglicher Stellungnahme zur persönlichen Spendebereitschaft zu verweigern, doch belegen das durch regelmäßiges Nachfragen zu realisierende Ziel einer größeren Organernte oder die vom FDP-Abgeordneten Rainer Brüderle in diesem Zusammenhang eingeforderte "Bürgerpflicht", daß die kontinuierliche Erweiterung der Einspeisung des menschlichen Körpers in neue Verwertungsketten im Mittelpunkt des Interesses des Gesetzgebers steht.

Man muß es so hart sagen, denn die Absicht, dem Tod mehr Leben abzuringen, und sei es durch die Weiterverwendung von Organen, ist alles andere als altruistischer Art. Bestände ein dem Menschen unabhängig von seiner nationalen Herkunft und seiner ökonomischen Leistungsfähigkeit zugedachtes Interesse an der Linderung eventueller Lebensnöte, dann ständen die Probleme all derjenigen im Mittelpunkt ethischer Überlegungen, die an vermeidbaren Krankheiten und materiellem Mangel vorzeitig sterben. Das betrifft nicht nur Milliarden Menschen in den Ländern des Südens, sondern auch die Zentren kapitalistischer Produktivität. Dort fächert sich die Lebenserwartung zwischen dem ärmsten und reichsten Fünftel der Bevölkerung immer weiter auf und beträgt selbst im wohlhabenden Deutschland ganze zehn Jahre. In den USA, wo die Transplantationsmedizin dank des utilitaristischen Grundverständnisses vieler Bioethiker eine besonders rasante Entwicklung vollzieht, sterben im Jahr rund 45.000 Menschen allein daran, daß sie aufgrund nichtvorhandener Krankenversicherung keine medizinische Behandlung erhalten.

Um angesichts dessen eine so kostenintensive, ethisch fragwürdige und logistisch aufwendige Behandlungsform wie die Organverpflanzung zu legitimieren ist tunlichst zu vermeiden, das sozialdarwinistische Interesse an der Aufrechterhaltung einer hierarchischen, in Sachen Lebensqualität höchst ungerechten Gesellschaftsordnung beim Namen zu nennen. Existentielle Bedrohungen, die auf der Prioritätenliste internationaler Politik weit hinten stehen, obwohl sie aufgrund der dabei zu rettenden Menschenleben ganz oben auf der Agenda des globalen Krisenmanagements rangieren müßten, sind der Normalfall einer politischen Praxis, deren Sachwalter zur Mehrheit der Menschen ein instrumentelles Verhältnis unterhalten.

Eine Ethik, die dies nicht zu akzeptieren bereit wäre, kann nur revolutionär sein, was selbst im Horizont christlicher Möglichkeiten liegt, wenn man nur an die Radikalität eines Jesus und mancher Befreiungstheologen denkt. Ansonsten ist die Bestimmung ethischer Normen der gesellschaftlichen Reproduktion nachgeordnet, wie nicht zuletzt eine den Vollzug biomedizinischer Innovationen ermöglichende ethische Debatte zeigt. Daß es sich dabei um einen Produktivfaktor von wachsender Bedeutung handelt, geht nicht nur aus dem Zugriff der Life Sciences auf die kleinste funktionale Einheit des humanen Biorganismus zum Zwecke diagnostischer, therapeutischer und reproduktionsmedizinischer Optimierung hervor. Die Wiederkehr des "Lebenswerts", im biomedizinischen Jargon als "benefit" ausgewiesen, zur weitgehend ökonomisch bestimmten Evaluation von Lebenschancen, die Biologisierung sozialer Dispositive individuellen Verhaltens und die Bewertung der persönlichen Lebensführung als Ein- und Ausschlußkriterium gesellschaftlicher Partizipation sind Merkmale der Zementierung einer Ordnung, der jegliche Fähigkeit, ihre Bedingungen zugunsten der Verwirklichung humanistischer Ideale zu transzendieren, abhanden gekommen zu sein scheint. Diese Ordnung verträglich zu organisieren und aus ihnen resultierende Widersprüche so auszusteuern, daß die auf ihr basierende Produktivkraftentwicklung nicht behindert wird, ist das zentrale Anliegen, das den hegemonialen Anspruch massenmedialer wie politischer Konsensproduktion und die Deutungshoheit einer akademischen Elite begründet, die in Fragen existentieller Art wie eine zivilreligiöse Priesterkaste in Erscheinung tritt.

Fußnoten:

(Die wörtlichen Zitate wurden den Audioprotokollen der Veranstaltung entnommen)

[1]‍ ‍http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/report/m0rb0009.html

[2]‍ ‍http://www.ethikrat.org/dateien/audio/fb-21-03-2012-podium.mp3

[3]‍ ‍http://www.ethikrat.org/dateien/audio/fb-21-03-2012-quante.mp3

Sicht aufs Bundeskanzleramt - Foto: © 2012 by Schattenblick

Dezisionistischer Machtanspruch architektonisch ins Bild gesetzt
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7.‍ ‍Mai 2012