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BERICHT/012: Ersatzteillager Mensch - Ressourcenmobilisierung durch "Entscheidungslösung" (SB)


PR-Strategien für die biopolitisch formierte Gesellschaft

"Organspende - gesellschaftlich umstritten, öffentlich undurchschaubar, politisch gefördert"

Vortrag Mona Motakef - Foto: © 2012 by Schattenblick

Tagung am 24. März 2012 im Essener Kulturzentrum Grend
Foto: © 2012 by Schattenblick

Um sich, wie es die geplante Novellierung des Transplantationsgesetzes (TPG) vorsieht, auf mehrmalige Anfrage hin für oder gegen eine Organspende entscheiden zu können, soll der Bürger eigentlich nicht im Unklaren darüber gelassen werden, worauf er sich mit einer positiven Erklärung einläßt. "Um eine informierte und unabhängige Entscheidung jedes Einzelnen zu ermöglichen, sieht dieses Gesetz eine breite Aufklärung der Bevölkerung zu den Möglichkeiten der Organ- und Gewebespende vor", heißt es unter Paragraph 1, Absatz 1 im "Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Entscheidungslösung im Transplantationsgesetz" [1]. An gleicher Stelle erklären die Autoren des Gesetzestextes allerdings auch: "Ziel des Gesetzes ist es, die Bereitschaft zur Organspende in Deutschland zu fördern", um unter Paragraph 2, Absatz 1 explizit zu fordern: "Die Aufklärung hat die gesamte Tragweite der Entscheidung zu umfassen und muss ergebnisoffen sein."

Hier zeichnet sich ein Interessenkonflikt zwischen der politischen Aufgabenstellung, die Organernte mit staatlichen Mitteln zu maximieren, und dem grundrechtlichen Schutz vor einem Zugriff auf den eigenen Körper, der nicht im Sinne des Betroffenen wäre, ab. Würde die Aufklärung tatsächlich in besagtem Sinne vollzogen, dann könnte die Entscheidungslösung in Anbetracht der anwachsenden Zweifel, daß der Hirntod tatsächlich mit dem Tod des Menschen gleichzusetzen wäre, die zur erklärten Absicht gegenteilige Wirkung zeitigen, daß sich mehr Menschen als zuvor einer Organspende verweigern. Wer gefragt würde, ob er sich in einem Zustand, der von einer wachsenden Zahl von Experten als mit technischen Mitteln in die Länge gezogener Sterbeprozeß betrachtet wird, lebenswichtige innere Organe entnehmen lassen wollte, würde diese Frage mit großer Wahrscheinlichkeit negativ beantworten.

Mit der Bereitstellung der Voraussetzungen für eine "informierte und unabhängige Entscheidung" ist eben nicht gemeint, die Debatte um die Gültigkeit der Hirntodkonzeption wiederzubeleben, von weiteren Problemen der Transplantationsmedizin wie der medikamentösen Unterdrückung der Immunabwehr und psychologischen Problemen der Empfänger einmal abgesehen. Die Aufklärung erfolgt innerhalb der Grenzen einer Todesdefinition, die mit der Anerkennung des Hirntodkonzeptes im Transplantationsgesetz von 1997 allen Widersprüchen und Einwänden zum Trotz fortgeschrieben wird. In der einleitenden Begründung zum Gesetzesentwurf wird deutlich, was mit dem Anspruch auf Informiertheit im Kern gemeint ist:

"Eine Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) belegt, dass Menschen, die gut informiert sind, eher einen Organspendeausweis ausfüllen und der Organspende positiv gegenüberstehen. Mit den vorgeschlagenen Regelungen zur Einführung der Entscheidungslösung soll der bestehende Abstand zwischen der hohen Organspendebereitschaft in der Bevölkerung (rund 75 Prozent) und dem tatsächlich dokumentierten Willen zur Organspende (rund 25 Prozent) verringert werden, ohne die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen durch eine Erklärungspflicht einzuschränken."

Informiert zu werden ist nicht gleichzusetzen mit einem Wissen, das der Mensch aus seinen Lebenserfahrungen und seinem Erkenntnisinteresse, aus der Subjektivität gesellschaftlicher Widersprüche und der aus ihr entwickelten Kritikfähigkeit schöpft. Eine Informationspolitik, die die biopolitische Bewirtschaftung der Bevölkerung zum Ziel hat, ist spezifischen administrativen Zielen verpflichtet und strukturiert die vermittelten Inhalte dementsprechend vor. Offene Fragen zur Hirntodkonzeption zu thematisieren verbietet sich von selbst, wenn es um die Steigerung der Organspendebereitschaft geht, ebenso wie die Diskussion offenkundiger Widersprüche wie etwa das bürokratische Eigeninteresse der mit der Aufklärung der Bevölkerung betrauten Organisationen, das Mißverhältnis zwischen einer teuren und aufwendigen HighTech-Medizin und der medizinischen Unterversorgung mittelloser Menschen in einem nach ökonomischen Effizienzkriterien organisierten Gesundheitswesen oder der rechtlich prekäre Charakter der Zuständigkeit des Staates für Fragen der persönlichen Lebensführung.

Den Bürger zu informieren beansprucht nicht, ihn zur eigenständigem Denken zu emanzipieren, sondern macht ihn im Zweifelsfall verfügbar für gesamtgesellschaftliche Ziele, deren Nutzen in einer kapitalistischen Gesellschaft höchst ungleich verteilt ist. Selbst wenn das System der Organspende bislang relativ egalitär organisiert ist, läßt die Einschränkung versicherungstechnischer Basisleistungen der medizinischen Versorgung bei Ausweitung mit Eigenmitteln zu bestreitender Zusatzleistungen bereits ahnen, daß die Debatte um die Priorisierung letztendlich begrenzter medizinischer Mittel auch vor dieser Behandlungsform nicht halt machen muß. Ginge es, wie der altruistische Anspruch der Transplantationsmedizin unterstellt, bei der Organspende tatsächlich um einen Akt der Solidarität, dann stellt sich die Frage, wieso dies nicht auch für die zunehmende Entsolidarisierung in anderen Bereichen der Daseinsfürsorge gilt.

Der Philosoph Hans-Georg Gadamer hat einmal recht deutlich ausgesprochen, wie wenig der Anspruch auf umfassendes Informiertsein und "lebenslanges Lernen" damit zu tun hat, dem Menschen zu geistiger Unabhängigkeit und Eigenständigkeit zu verhelfen:

"In gewisser Weise ist Information das Gegenteil von Wissen. Worüber ich informiert bin, das brauche ich nicht zu begreifen. Und wenn ich ganz informiert bin, in Form gebracht, bin ich im Grunde tot. Insofern dienen die aufs bloße Informiertsein gerichteten Forderungen einer technikgläubigen Bildungspolitik letzten Endes der Vorbereitung eines neuen Sklavenstandes der Menschheit." [2]

Wenn die reale Spendebereitschaft weit hinter der prinzipiellen Zustimmung zum System der Organspende zurückbleibt, dann kann es für diese Diskrepanz auch ganz andere Gründe geben als das unterstellte Defizit, die Passivität des Gefragtwerdens in den aktiven Schritt, sich einen Organspendeausweis zu beschaffen, zu verwandeln. So dürften viele Befragte in Anbetracht des breit orchestrierten Versuchs, die Organspende zu einem Akt der Nächstenliebe verklären, davor zurückschrecken, sich als egoistischer Ignorant gegenüber den Nöten anderer zu präsentieren. Auch ist das allgemeine Befürworten sozialfreundlicher Handlungen nicht notwendigerweise mit der eigenen Lebenspraxis identisch, wie nicht zuletzt christlicher Ethik verpflichtete Politiker belegen, wenn sie ganz und gar unchristliche Entscheidungen treffen. Schließlich beeinflussen Kontext und Semantik der Fragen statistischer Erhebungen deren Ergebnis.

Wenn der Versuch, die Organernte mit offensiven Werbestrategien zu vergrößern, nicht dazu ausreicht, die Lücke zwischen allgemeiner Bereitschaft zur Organspende und konkreter Umsetzung dieser Zustimmung zu schließen, dann stellt die Lösung, die Bevölkerung regelmäßig dazu aufzufordern, sich zu dieser Frage zu verhalten, die qualitativ nächsthöhere Stufe ihrer Indoktrination dar. Auch wenn noch kein Zwang ausgeübt wird, sich positiv oder negativ zu entscheiden, vereinnahmt der imperative Charakter der Maßnahme den Spender auf eine Weise, die ihm gerade keine Eigenständigkeit und Unabhängigkeit zugesteht. Die Ressource einer Medizin, die den Körper des kranken Menschen mechanisch reproduziert, ist so sehr Objekt eines technischen Vorgangs, daß sie dem Spender nicht fremder sein könnte als dem Empfänger. Was immer unter Verweis auf hehre Werte wie Nächstenliebe und Solidarität zwischen diesen beiden stattfindet, ist nicht weniger abstrakt als ein Transfer des Tauschwertäquivalents Geld. Um so mehr muß die postmortale Gabe ins Licht eines sozial integrativen Vorgangs gestellt werden, den zu Lebzeiten durch tätigen Einsatz für Menschen in Not zu realisieren dem Spender womöglich Erfahrungen und Entwicklungsmöglichkeiten beschert hätte, die im Apparat der Transplantationsmedizin auf chirurgische Eingriffe und bürokratische Verwaltungsakte reduziert werden.

Dies betrifft nicht die Lebendspende, die in der Verpflanzung einer Niere des SPD-Fraktionsvorsitzenden Frank-Walter Steinmeier an seine Frau ihr vielzitiertes Vorbild hat. Die Entnahme von Organen für hirntot erklärter Menschen hingegen basiert auf einer Entscheidung, deren virtueller Charakter sich aus der bloßen Mutmaßung ergibt, im Moment der Entnahme auch zu ihr stehen zu können. Sich einem völlig unvertrauten existentiellen Ausnahmezustand in vermutet ferner Zukunft auszuliefern entspricht der Überantwortung des Menschen an die abstrakte Verfügungsgewalt von Staat und Kapital, die häufig unter Klagen bei gleichzeitiger Akzeptanz der darin postulierten Sachzwanglogik vollzogen wird. Wer hinnimmt, Spielball fremder Interessen zu sein, bleibt auch bei härteren Zumutungen tendenziell passiv. Auch diese Passivität könnte erklären, wie die Handlungsbedarf reklamierende Distanz zwischen Umfrageergebnissen und realisierter Spendebereitschaft zustandekommt.

Beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Mona Motakef
Foto: © 2012 by Schattenblick

Werbung statt Aufklärung - Vortrag von Dr. Mona Motakef

Mit welchen PR-Strategien das System der Organspende unter dem Vorzeichen der Aufklärung betrieben wird, führte die Soziologin Dr. Mona Motakef auf der Konferenz "Organspende - gesellschaftlich umstritten, öffentlich undurchschaubar, politisch gefördert", die am 23. und 24. März 2012 im Essener Kulturzentrum Grend stattfand, anhand eines exemplarischen Beispiels aus. Im Oktober 2009 trat das Deutsche Herzzentrum Berlin (DHZB) mit einer Kampagne an die Öffentlichkeit, bei der man Anleihe am US-amerikanischen Universum der Superheldinnen und Superhelden nahm. Auf öffentlichen Verkehrsmitteln und Plakatwänden wurden mit Motiven, die sich der genrespezifischen Ikonographie der Stars des US-Verlages DC Comics bedienten, das Spenden eines Organs als geradezu übermenschliche Heldentat gefeiert. "DAS KANNST DU AUCH!" kündet der posthumanistische Heldenmythos zu bunten Grafiken von hohem Wiedererkennungswert für die Fans des SuperheldInnen-Universums. Ein über die metropolitane Skyline von Berlin fliegender Superheld, eine Superheldin, die ein Kind vor dem Ertrinken rettet, ein Superman-Klon, der eine Frau aus dem Feuer holt[3] - was das mit dem Ausfüllen eines Organspendeausweises zu tun hat, dürfte in der Sprache der Werber wohl mit einem "Imagetransfer" erklärt werden.

Mit fünf Motiven dieser Art wurde nicht nur darum gebeten, persönlich etwas gegen den Mangel an Spenderorganen zu tun. Die Signatur der Botschaft kam autoritativer daher, indem, wie die Referentin ausführte, die Organspende öffentlich als Inbegriff des Guten in Szene gesetzt und daher nur noch als Problem der Optimierung behandelt wurde. Für Motakef trat in dieser Kampagne der moralische Tenor deutlich hervor, laut dem es sich bei der Organspende um einen Akt der Nächstenliebe handelt. Keine bestmögliche Aufklärung über das Pro und Contra der Organspende, sondern schlichte Werbung war der Zweck der Botschaft, daß durch eine Organspende jede und jeder zum Superhelden werden könne. Nicht zufällig erschienen die Physiognomien dieser Vorbilder wie die leeren Larven einer noch auszufüllenden Persona, ist es doch gerade die soziale Identität des vergesellschafteten Menschen, die Hirntoten aberkannt wird. Jung, weiß, athletisch, heterosexuell - eine prototypische Projektionsfläche, die dem Inhaber eines Spendeausweises das gute Gefühl vermittelt, nicht nur einen nützlichen Dienst an der Gemeinschaft zu verrichten, sondern die Anerkennung heldenhaften Einsatzes auch verdient zu haben, weil attraktive Körperästhetik und überdurchschnittliche Fähigkeiten einfach unwiderstehlich sind.

Eine weitere von Motakef vorgestellte, im Unterschied zum SuperheldInnenthema aktuell laufende Werbekampagne wird von der Stiftung PRO Gesellschaft durchgeführt. Die als gemeinnützig und selbstständig vorgestellte Institution arbeitet mit dem DHZB zusammen, wird doch auf der Webseite, auf der die Landung von "Superman und seiner Heldin" am 19. Oktober 2009 in Berlin angekündigt wurde, auf "unsere Sonder-Website: www.proorganspende.de" verwiesen [4]. Im Mittelpunkt dieser Aktion steht der Schauspieler Til Schweiger, dessen Spendebereitschaft mit dem Claim "Du bekommst alles von mir. Ich auch von Dir?" beworben wird [5]. Der sexuell aufgeladene Charakter dieser Einladung kommt offensiv daher und fordert auf eine Weise zum Tausch auf, über die es nichts zu verhandeln gibt. Wie bei der SuperheldInnen-Kampagne tritt der Werbeträger als Geber des Identitätsangebotes auf, durch das Bekenntnis zur Organspende zu einem rettenden Helden zu werden, dem all jene Anerkennung gebührt, die sich die Adressaten der Kampagnen nur wünschen können.

Für die Referentin, deren Vortrag ausführlich in ihrer Abhandlung "'Hey big Spender!' Organspende zwischen Biopolitik und Popkultur" [6] nachgelesen und in ihrem 2011 veröffentlichten Buch "Körper Gabe - Ambivalente Ökonomien der Organspende" vertieft werden kann, tritt die Rhetorik des Helfens hinter dem Imperativ, daß Gutes getan werden muß, wenn es getan werden kann, auf eine Weise zurück, die die Transplantationsmedizin als Stifterin einer übermenschlichen Gabe darstellt, die mit popkulturellen Mitteln insbesondere für männliche Jugendlichen attraktiv gemacht wird. Dabei werden die Probleme und Widersprüche der Transplantationsmedizin ausgeblendet, um eine weitgehend vorstrukturierte, moralisch eindeutig als gut bewertete Zustimmung zur Organspende vorauszusetzen. Der Anspruch auf objektive Aufklärung bleibt bei diesen und anderen PR-Maßnahmen auf der Strecke des spezifischen Interesses, mehr lebensfrische Organe für diese Form substitutiver Medizin zu erwirtschaften. Mit den Problemen, denen Empfänger wie Spender von Organen ausgesetzt sind, haben die dort aufgestellten Ansprüche nichts zu tun, dafür zementieren sie einen Moralkodex, der die Verweigerung der Organspende zwar nicht direkt sanktioniert, jedoch in ein zumindest unvorteilhaftes Licht rückt.

Neben dem Deutschen Herzzentrum Berlin (DHZB) und der Deutschen Stiftung Organspende (DSO) sind auch die Bundesbehörde Zentrum für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und einige Krankenkassen damit befaßt, die Organernte mit offensichtlich gut ausgestatteten Werbebudgets zu steigern. So zeichnet die mit dem gesetzlichen Auftrag, die Organspende zu koordinieren und über sie aufzuklären, versehene DSO seit 2008 für die Initiative "Fürs Leben, für Organspende" verantwortlich. In deren Selbstdarstellung heißt es unter anderem:

"Mit einer breiten und langfristig angelegten Informationskampagne wollen wir die Akzeptanz und das Ansehen der Organspende steigern und damit gleichzeitig die Spendebereitschaft erhöhen. Der Fokus liegt auf authentischen Geschichten, die die Patienten und Angehörigen zu den Hauptakteuren der Kommunikation machen. Sie berichten aus ihrem Leben und verleihen damit den Menschen hinter den Zahlen und Statistiken ein Gesicht. Die Leitidee dabei ist, das Leben als Geschenk zu begreifen und in diesem Sinne weiterzugeben. Denn ein 'Ja' im Organspendeausweis kann Leben retten." [7]

Mit neutraler Aufklärung, ohne die "eine informierte und unabhängige Entscheidung jedes Einzelnen" nicht möglich ist, haben weder diese Zielsetzung noch eine Auswahl von Fallgeschichten, die von Erfolgsstorys und den Bildern sympathischer Organempfänger dominiert sind, etwas zu tun. Die vor der Verabschiedung des Transplantationsgesetzes 1997 vehement in aller Öffentlichkeit geführte Debatte um die Gültigkeit der Hirntodkonzeption soll nicht nur begraben werden, ihr wird der Boden durch die Kodifizierung des bioethischen Primats vom solidarischen Charakter der Transplantationsmedizin und eines naturförmig verfaßten Mangels an Spenderorganen aktiv entzogen. Wie Motakef ausführte, tritt dieser Mangel, den es schon immer aus naheliegenden, weil durch die begrenzte Verfügbarkeit von Unfallopfern bedingten Gründen gegeben hat, selbst wie eine Krankheitsursache in Erscheinung - der Mensch leidet oder stirbt nicht an einer physischen Primärerkrankung oder einem Unfall, sein Schicksal wird maßgeblich durch den Organmangel und damit die ungenügende Spendebereitschaft bestimmt. Dementsprechend verlief auch die parlamentarische Debatte zur Entscheidungslösung - die Hirntodkonzeption wurde nur am Rande erwähnt. Selbst wenn sie als Tod des Menschen in Frage gestellt wurde, sollte das der Transplantationsmedizin keinen Abbruch tun [8].

Erika Feyerabend mit Mona Motakef - Foto: © 2012 by Schattenblick

Moderatorin Erika Feyerabend führt durch die Konferenz
Foto: © 2012 by Schattenblick

Politische Abgründe der Biologisierung des Sozialen

Die Heroisierung der Organspende in einer "postheroischen" (Herfried Münkler) Gesellschaft verweist auf einen soziokulturellen Paradigmenwechsel, der die Biologisierung des Sozialen zugunsten einer gesamtgesellschaftlichen Produktivität totalisiert, deren Widerspruchslagen strikt auf individuelles Versagen zurückgebrochen werden. Während Helden der Arbeit aufgrund des Überangebots an billigen und willigen Arbeitskräften nicht mehr vonnöten sind und die hochprofessionalisierte Kriegführung weitgehend ohne das öffentliche Zelebrieren soldatischen Opfermuts auskommt, bedarf der Griff nach dem Menschen als biomedizinische Ressource durchaus der Verklärung der ansonsten höchst profanen Vernutzung des menschlichen Leibes.

Diese aus einer medizinischen Praxis von allemal prekärer Art, wie die Aufgabe der Tote-Spender-Regel durch die Explantation von Patienten mit einem nicht unbedingt irreversiblen Herzstillstand in einigen europäischen Ländern belegt, hervorgehende Neudefinition der Grenzen des menschlichen Lebens erhält in der "Vision" der Stiftung PRO Gesellschaft eine regelrecht gesellschaftspolitische Dimension:

"PRO soll somit radikal das Auseinanderdriften unserer Gesellschaft angreifen und Menschen aller Schichten, Einkommensgruppen, politischen Einstellungen, religiösen Überzeugungen und geistigen Fähigkeiten wieder näher zusammenrücken lassen. So geht es nicht um eine herkömmliche Werbekampagne, sondern um die Bereicherung der Gesellschaft um eine neue Verhaltensnorm die zur Selbstverständlichkeit werden kann. In einer ProGesellschaft lebt es sich besser, weil Menschen - da wo es um alles geht - füreinander einstehen." [9]

Es ist leicht ersichtlich, daß das solidarische Anliegen mit dem Ausbau der Transplantationsmedizin auf den Kopf gestellt wird. Übertrüge man die verlangte "Verhaltensnorm" auf alle sozialen Belange, dann führte an der Beendigung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung kein Weg vorbei. Daß die für diese "Vision" verantwortlich zeichnenden Transplantationsmediziner Roland Hetzer, Ärztlicher Direktor des Deutschen Herzzentrums Berlin, und Reinhard Pregla, Ärztlicher Direktor der Meoclinic, eine solch grundlegende Veränderung im Sinn haben, darf bezweifelt werden. Sehr viel naheliegender erscheint das Anliegen, die in der Vorsilbe Pro enthaltene Affirmation auf die Innovationen der Biomedizin und Life Sciences auszurichten. Nicht nur die Organspende läßt sich als Gebot einer Solidarität, der die schrittweise Auflösung solidargemeinschaftlicher Strukturen in der Sozialpolitik völlig fremd zu sein scheint, in den Stand einer Bürgerpflicht versetzen, auch die Beteiligung an genetischen Massenscreenings oder die reproduktionsmedizinische Sicherung "erbgesunden" Nachwuchses ließe sich ohne weiteres auf diese Weise begründen. "Füreinander einstehen" unter dem Primat einer marktwirtschaftlich organisierten Arbeits- und Leistungsgesellschaft hebt den Sozialdarwinismus nicht etwa auf, sondern versieht ihn mit neuen Rechtfertigungen, die der Biologisierung des Sozialen gemäß aus den Ontologismen einer naturhaften Schicksalgläubigkeit gezogen werden.

Einem solchen moralischen Absolutismus gegenüber kann das Contra des sozialen Widerstands nur als negative Grundeinstellung erscheinen. Dabei gibt es für diesen angesichts der Ökonomisierung des Gesundheitswesens und der Einspeisung des Menschen in biomedizinische Verwertungsketten allen Anlaß. Blickt man hinter den zweckrationalen Altruismus einer HighTech-Medizin, die sich des Todes bemächtigt, um den menschlichen Körper als Ressource verfügbar zu machen, und stellt man diesen Zugriff in den Kontext einer von Klassenherrschaft und Überlebenskonkurrenz bestimmten Gesellschaft, dann gibt es keine Garantie, daß der Voluntarismus der Bestimmung von Leben und Tod nicht eines Tages zu Lasten von Menschen geht, denen gegenüber nicht einmal mehr der Vorwand der Aufklärung geltend gemacht wird, um sich ihrer Physis zu bedienen.

So verweist die SuperheldInnen-Kampagne gerade mit der Überhöhung des Spenders zu einem Helden der Solidarität und Selbstbestimmung auf den Zwangscharakter, mit dem die biologistische Expansion kapitalistischer Verwertung in die Physis der Menschen getrieben wird. Den in seiner fatalen Lage am Endpunkt existentieller Not angelangten Spender, dem es an nichts mehr mangelt als an ungeteilter Zuwendung und Autonomie, davon zu überzeugen, sich unter der Maßgabe einer prekären Todesdefinition den Interessen von Menschen zur Verfügung zu stellen, die in seiner bisherigen Lebenswirklichkeit Fremde und womöglich Konkurrenten waren, kann nur mit der rigorosen Dichotomie von Gut und Böse gelingen, die insbesondere für die Figur Supermans signifikant ist. Enthebt man seinen übermenschlichen Charakter nicht in die quasireligiöse Sphäre außerirdischer Herkunft, dann würde noch krasser offenbar, daß seine fast unbegrenzte Mobilität und Stärke das exakte Gegenteil des sterbenden Organspenders darstellt.

Diesen zum Ausgangspunkt neuen Lebens zu machen bedarf einer Abstraktion vom besonderen zum allgemeinen, in der der einzelne im Utilitarismus des größeren Nutzens aufgeht, ohne daß dieser Nutzen ihm notwendigerweise jemals zuteil wurde. So wird der individualrechtliche Anspruch auf autonome Entscheidungsgewalt einer biopolitischen Vergesellschaftung des Körpers überantwortet, deren Bedingungen von den dafür zuständigen Funktionseliten in Politik und Wissenschaft gesetzt werden. Darauf zu vertrauen, daß unter dem angeblichen Sachzwang des Mangels keine Entscheidungen getroffen werden, die die Freiwilligkeit des Organspenders einschränken oder aufheben, entspricht dem abwegigen Glauben daran, daß die Verarmung der Bevölkerung zur Rettung der herrschenden Wirtschaftsordnung nicht ein Grundmerkmal ihrer Funktionalität sei, sondern am Horizont eine Zukunft des allgemeinen Wohlstands und sorgenfreien Lebens winkte.

Die PR-technische Harmonisierung des Widerspruchs zwischen der souveränen Handlungsfähigkeit von Superhelden, die als allgegenwärtige Prätorianer der Krisenintervention das notorisch extralegale und dafür um so effizientere Durchgreifen der Exekutive verkörpern, und der Ohnmacht der prospektiven Organspender bietet sich als Sinnbild für eine Politik des Ausnahmezustands an, die mit der Stärke des Rechtstaates die Schwäche seiner Subjekte besiegelt, ohne daß dies seiner Handlungsgewalt einen Abbruch täte. Geltendes Recht kann durch den Souverän aufgehoben werden, ohne daß daraus Unrecht entsteht, weil er, "um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht", wie es der NS-Kronjurist und heute noch bewunderte Staatsrechtler Carl Schmitt ausdrückte. Das Führen von Angriffskriegen, das Verschleppen von Menschen in potentiell unbeschränkte Administrativhaft und ihre Folterung sind im Zweifelsfall legale, weil durch den Souverän straflos vollzogene Gewalthandlungen. Er kann das Tötungsverbot relativieren oder aufheben, ohne daß die sanktionierende Gewalt des Straf- oder Völkerrechts in Kraft tritt. Im Falle der Transplantationsmedizin machen Politiker und Experten heute geltend, daß sie den diagnostizierten Hirntod für eine Form des verlängerten Sterbens halten, ohne daß dies zwingend zur Einstellung tödlicher Entnahmepraktiken führte.

Der Hirntodkritiker Apl. Prof. Dr. med. Andreas Zieger bietet unter Verweis auf den italienischen Philosophen Giorgio Agamben in dem lesenswerten Aufsatz "Medizinisches Wissen und Deutung in der 'Beziehungsmedizin' - Konsequenzen für Transplantationsmedizin und Gesellschaft" [10] einen theoretischen Zugang zur Widersprüchlichkeit des Themas im Lichte seiner politischen Bestimmung an:

"Hirntod als technisch kontrollierter Ausnahmezustand
Das Hirntodkonzept als der Tod des Menschen ist mit biotechnischen Fähigkeiten zur Beatmung, Anästhesie, Narkose und Intensivmedizin eng verbunden, ohne die die Entstehung der Transplantationsmedizin undenkbar wäre (Schellong 2001; Wiesemann 2001). Der Reanimationsraum, in dem die Körper der 'Ultrakomatösen' als neomorts oder faux vivants zwischen Leben und Tod schwankend eingeordnet werden, bildet einen Raum der Ausnahme, in dem das nackte Leben als 'Reinzustand' erstmals 'vollständig vom Menschen und seiner Technologie kontrolliert' wird (Agamben 2002, 173). Weil es sich nicht um einen natürlichen Körper, sondern um eine extreme Inkarnation des Homo sacer, ein Mittelwesen zwischen Mensch und Tier, handelt, kann dieser Körper getötet werden, ohne daß ein Mord begangen wird. Wie der Homo sacer ist er in diesem Sinne nicht opferbar und wird ohne Vollstreckung einer Todesstrafe zu Tode gebracht. Agamben (2002, 174) erstaunt es nicht, daß im Streit um das Hirntodkonzept und der modernen Biopolitik nach dem Eingreifen des Staates gerufen wird, damit er über den Tod entscheidet und es zuläßt, daß am faux vivant oder neomort Eingriffe durchgeführt werden können.
Der Souverän als Interpretant
Die Entstehung der Transplantationschirurgie und die Logik des Hirntodkonzepts sind auf das engste miteinander verbunden, haben sich sozusagen wechselseitig mit bedingt und hervorgebracht. Ihre gesetzlichen Grundlagen aber konnten nur durch das Wirken eines Souveräns im Kontext der modernen Biopolitik des ausklingenden 20. Jahrhunderts durchgesetzt werden. Laut Dagognet (1988, 189f.) darf nur der Staat als Souverän über Eingriffe am faux vivant entscheiden, da die Organe der öffentlichen Gewalt gehören. Der Körper wird sozusagen nationalisiert. Für die Durchsetzung des Hirntodkonzepts hat es in Deutschland keine Volksabstimmung gegeben, sondern lediglich eine Anhörung von Experten beim Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages am 28. Juni 1996 in Bonn. Durch die Abstimmung im Deutschen Bundestag im Jahre 1997 wurde das Hirntodkonzept im Transplantationsgesetz festgeschrieben. Der Souverän, der hinter dieser gesetzgeberischen biopolitischen Machtausübung steht, ist der Deutsche Bundestag. Für Agamben (2004, 174) ist ein solcher Vorgang, der dem nach wie vor umstrittenen Hirntodkonzept gesetzliche Macht verliehen hat, gleichbedeutend mit einem 'Ausnahmezustand', bei dem der Souverän entscheidet, welche Menschen als dem 'Niemandsland' zugehörig betrachtet werden oder nicht. Nicht der Arzt ist, politisch betrachtet, Interpretant, sondern der Souverän. Er besitzt die Deutungsmacht. Agamben kritisiert, dass im modernen Europa unter den Augen der machtlosen Bürger der 'Ausnahmezustand' zu einem gängigen Muster staatlicher Politik und Praxis werden könnte. Insofern der Ausnahmezustand zur Regel zu werden droht, verschwimmt die Grenze zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Politik und Recht, zwischen der Rechtsordnung und dem Leben. Gerade die im 'Ultrakoma' diagnostizierten 'Hirntoten' scheinen ein neues Licht auf jene verborgene Beziehung zu werfen, die das Recht an die Definitionsmacht und Gewalt des Souveräns bindet. Für Agamben bedeutet die 'Politisierung des nackten Lebens' ein 'klares Zeichen', dass die Biopolitik eine 'neue Schwelle' passiert hat. Selbst Biopolitiker im Naziregime hätten nicht zu sagen gewagt, was heute in den modernen Demokratien öffentlich gesagt würde." [10]

Wie die weitgehende Ausblendung der Debatte um die Hirntodkonzeption in der aktuellen Verabschiedung des Gesetzesentwurfs zur Entscheidungslösung zeigt, ist man heute weit entfernt davon, den politischen Charakter biomedizinischer Innovationen anders als im Sinne eines affirmativen Verschlusses jeglicher Kontroverse aufzugreifen. Der letzte Pflock der Legitimation biomedizinischer Zurichtung des Menschen auf die Erfordernisse kapitalistischer Verwertung wurde 1999 mit der Debatte um die Rede des Philosophen Peter Sloterdijk zu "Regeln für den Menschenpark" eingeschlagen. Die dort vollzogene Wende von einem humanistischen Bekenntnis zum egalitären Lebensrecht aller Menschen und des besonderen Schutzes, den schwache und verletzliche Mitglieder der Gesellschaft genießen sollten, zu einer dem Innovationsdruck der Life Sciences adäquaten Ideologie anthropotechnischer Zurichtung auf ein Interesse, das zumindest nicht das der zum Subjekt fremdnützigen Handelns degradierten Menschen sein kann, rekurrierte auf eine Doktrin der Stärke, für die der Philosoph Friedrich Nietzsche mit seinem Eintreten für eine selektive Höherentwicklung des Menschen Pate stand.

Unter Verweis auf das von dem österreichischen Ökonomen Joseph A. Schumpeter geprägte neoliberale Primat der "schöpferischen Zerstörung" hat sich der sozialrevolutionäre Autor und Rechtsanwalt Detlef Hartmann mit der Menschenpark-Debatte [11] und der Aneignung der Philosophie Nietzsches durch linke Theorie in Sicht auf die Transformation antagonistischer Positionen in Optionen der Teilhaberschaft auseinandergesetzt. Wo es sich "Der rechte Nietzsche im Bauch eines linken trojanischen Pferds" [12] bequem einrichtet, löst sich auch der Widerspruch zwischen dem desolaten Ende als hirntot diagnostizierter Menschen im OP der Explanteure und dem neuen Leben, das aus ihm geschöpft werden soll, im Wohlgefallen einer volksgemeinschaftlichen Zugehörigkeit auf, anhand derer in der biomedizinischen Fabrik posthumanistischer Schöpfungsphantasien darüber befunden wird, wer leben darf und wer sterben soll:

"Auch die Ambivalenzen, die die intentionale Gerichtetheit aggressiver Energien im Prozeß des Willens zur Bemächtigung und Aneignung der Welt mit sich bringen, haben ihnen das Geschäft erleichtert. Die Propaganda des Aufstands neuer Herren der Erde (sogar aus den Schichten der Sklaven) ist auch gegen die "Priester" als Mittelbau der aktuellen Herrschaftsstrukturen gerichtet; die Hymne auf den Mythos der barbarischen germanischen blonden Bestie verbindet sich zugleich mit verachtender Enttäuschung über die Stagnation des deutschen Kaiserreichs, die ihm das Herz manches französischen Philosophen (wie etwa Batailles) öffnen half; die Hasstiraden auf das Judentum, den jüdisch-verlogenen Sündenfallmythos etc. verbinden sich mit Lockrufen an den edlen jüdischen Banquier, seinen überlegenen Geschäftssinn ins Herrenmenschentum des preußischen Öffiziers einzubringen; die Deklassierung des Herden- und Chinesentums des Maschinenlebens verbindet sich mit der Ode auf die kreative Befreiung des Übermenschen. Diese Ambivalenzen stellen keine Abmilderung dar, im Gegenteil. Sie sind dem aggressiven Charakter seiner Zukunftsprojektionen geschuldet, der oft wütenden Enttäuschung über die Verzögerungen und Hemmungen, die sich ihrer Verwirklichung entgegenstellen und sie im Stadium der "Unzeitgemäßheit" festhalten. Es ist also die Übersteigerung, der Überschuß an Aggressivität, aus der heraus Nietzsche den Haß auf Judentum mit der Ablehnung des plumpen Antisemitismus verbindet, antideutsche Einstellungen mit der mythischen Feier der Energien der barbarischen "blonden germanischen Bestie", die Propaganda der Vernichtung der Entarteten, Kranken und Mißrathenen mit der Prophetie des Lebens. Hier gibt es keinen Widerspruch, aus dem sich jeder seinen Nietzsche heraussuchen könnte. Schöpfung und Vernichtung gehören zusammen, sie sind dasselbe. "Und wer ein Schöpfer sein will im Guten und Bösen, der muß ein Vernichter erst sein...". Ihr gemeinsamer Grund liegt in der Dynamik des sich geschichtsmächtig machenden Willens zu Macht als Prozeß schöpferischer Zerstörung." [12]

Der Widersprüchlichkeit staatlichen Handelns zwischen Rechtsanspruch und Machtpraxis kann man noch so empört hinterherlaufen, ohne auch nur in die Nähe der vom Souverän damit beantworteten Machtfrage zu gelangen. Kleine Erfolge legaler Durchsetzung können das sich zur alltäglichen Regierungspraxis verstetigende Krisenmanagement, dessen alternativloses Diktat angeblicher Sachzwänge immer wieder in Krieg und Not endet, nicht in seiner legalistischen Deutungsmacht kontern. Die Behauptung, man verhelfe Menschen zu einem besseren Leben dadurch, daß man sie in höchste Not bringt, ist ein Standard produzierter Ambivalenz, hinter der monolithische Deutungsmacht zum Vorschein kommt. Darüber, ob Widersprüche gegen sich gekehrt werden oder als Beleg für die Effizienz machiavellistischer Staatsgewalt zum Nachteil der davon Betroffenen zementiert werden, wird nicht in einem Wahrheitsdiskurs entschieden, sondern in eben jener Sphäre administrativer Deutungsmacht, in der auch darüber befunden wird, wer leben darf und wer sterben muß.

Wie sehr Nietzsche zum Hohepriester eines biopolitischen Dezisionismus taugt, über dessen vernichtende Gewalt man schon vor 125 Jahren Bescheid wissen konnte, wie sehr er die Biologie als ein aus dem Naturzwang Sinn schöpfendes Paradigma der Herrschaft des Menschen über den Menschen erkannte und wie sehr er die direkte Konfrontation der eigenen kreatürlichen Ohnmacht scheute, wird in seiner - von Hartmann herangezogenen und hier in einer erweiterten Zitation angeführten - "Genealogie der Moral" deutlich:

"'Entwicklung' eines Dings, eines Brauchs, eines Organs ist demgemäss nichts weniger als sein progressus auf ein Ziel hin, noch weniger ein logischer und kürzester, mit dem kleinsten Aufwand von Kraft und Kosten erreichter progressus, - sondern die Aufeinanderfolge von mehr oder minder tiefgehenden, mehr oder minder von einander unabhängigen, an ihm sich abspielenden Überwältigungsprozessen, hinzugerechnet die dagegen jedes Mal aufgewendeten Widerstände, die versuchten Form-Verwandlungen zum Zweck der Vertheidigung und Reaktion, auch die Resultate gelungener Gegenaktionen. Die Form ist flüssig, der 'Sinn' ist es aber noch mehr... Selbst innerhalb jedes einzelnen Organismus steht es nicht anders: mit jedem wesentlichen Wachsthum des Ganzen verschiebt sich auch der 'Sinn' der einzelnen Organe, - unter Umständen kann deren theilweises Zu-Grunde-Gehn, deren Zahl-Verminderung (zum Beispiel durch Vernichtung der Mittelglieder) ein Zeichen wachsender Kraft und Vollkommenheit sein. Ich wollte sagen: auch das theilweise Unnützlichwerden, das Verkümmern und Entarten, das Verlustiggehn von Sinn und Zweckmässigkeit, kurz der Tod gehört zu den Bedingungen des wirklichen progressus: als welcher immer in Gestalt eines Willens und Wegs zu grösserer Macht erscheint und immer auf Unkosten zahlreicher kleinerer Mächte durchgesetzt wird. Die Grösse eines 'Fortschritts' bemisst sich sogar nach der Masse dessen, was ihm Alles geopfert werden musste; die Menschheit als Masse dem Gedeihen einer einzelnen stärkeren Species Mensch geopfert - das wäre ein Fortschritt..." [13]

Ein Fortschrittsbegriff, der keinen anderen Parameter als die Überwindung des Schwachen, Unnützen und damit angeblich Lebensunwerten hat, erliegt dem Tod um so vollständiger, als er vermeint, ihm Handlungsmöglichkeiten durch die Maximierung des Fressen-und-Gefressen-Werden abringen zu können. In der Totalität substantiellen Verbrauchs, den Nietzsche zur Konstanten menschlicher Weiterentwicklung erhebt, wird das Leben dem Tod ebenso subsumiert, wie der "Untermensch" hervorgebracht und vernichtet wird, um dem "Übermenschen" in seinem Glauben, Herr über Leben und Tod zu sein, reaffirmativ zu bestätigen. Wäre das Elend dieser Kurzschlüssigkeit nicht so folgenschwer, dann könnte man es als Beleg für die geistige Bescheidenheit einer Philosophie abtun, die sich an das Problem einer elementaren Konfrontation mit menschlicher Bedingtheit nicht herantraut.

Die Modernisierungsoffensive, in dessen Mittelpunkt "die aggressive Überakkumulation in den innovativen Sektoren der neuen Schlüsselindustrien" steht, "von denen aus das Kapital der rückständigen Welt ihre Diktate schöpferischer Zerstörung aufherrscht", [11] eröffnet die Biologisierung des Sozialen nicht nur neue Expansionsfelder biomedizinischer Verwertung. Sie entzieht dem Menschen systematisch die Basis einer Erkenntnis, die ihn von der Bezichtigung befreite, qua genetische Konstitution und persönlichem Fehlverhalten selbst an seiner Misere schuld zu sein. Die nach exakten Kosten- und Nutzenparametern funktionalisierte Physis kulminiert in der Atomisierung einer gesellschaftlichen Existenz, deren Fremdbestimmung mit Freiheit verwechselt wird, so lange nicht der letzte Fluchtraum der Hoffnung und des Versprechens verschlossen ist, zum Triumph jener Herrenmenschenratio, die Nietzsche in die Einzelteilte des Betriebsystems menschlichen Unterwerfungsstrebens zerlegt hat. Seine Aktualität für die Entschlüsselung der nur mehr negativ als Desiderat in Erscheinung tretenden Debatte um die Innovationslogik und Herrschaftsratio der Lebenswissenschaften zeigt sich auch in einem Zitat aus der "Genealogie der Moral", das die von Agamben ausgeführte Logik der Politik des Ausnahmezustands vorwegnimmt und ihren antiemanzipatorischen und antikommunistischen Kern bloßlegt. Vor diesem Hintergrund zu behaupten, daß die Frage danach, wer über Leben und Tod des Menschen befindet, zufriedenstellend beantwortet sei, zeigt, wie sehr die regressive Bereitschaft wächst, sich auszuliefern und aufzugeben:

"An sich von Recht und Unrecht reden entbehrt alles Sinns, an sich kann natürlich ein Verletzen, Vergewaltigen, Ausbeuten, Vernichten nichts 'Unrechtes' sein, insofern das Leben essentiell, nämlich in seinen Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungirt und gar nicht gedacht werden kann ohne diesen Charakter. Man muss sich sogar noch etwas Bedenklicheres eingestehn: dass, vom höchsten biologischen Standpunkte aus, Rechtszustände immer nur Ausnahme-Zustände sein dürfen, als theilweise Restriktionen des eigentlichen Lebenswillens, der auf Macht aus ist, und sich dessen Gesammtzwecke als Einzelmittel unterordnend: nämlich als Mittel, grössere Macht-Einheiten zu schaffen. Eine Rechtsordnung souverain und allgemein gedacht, nicht als Mittel im Kampf von Macht-Complexen, sondern als Mittel gegen allen Kampf überhaupt, etwa gemäss der Communisten-Schablone Dühring's, dass jeder Wille jeden Willen als gleich zu nehmen habe, wäre ein lebensfeindliches Princip, eine Zerstörerin und Auflöserin des Menschen, ein Attentat auf die Zukunft des Menschen, ein Zeichen von Ermüdung, ein Schleichweg zum Nichts." [13]

Fußnoten:

[1] http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/090/1709030.pdf

[2] Hans-Georg Gadamer in der SZ vom 24.11.1999; entnommen aus: Evelyn Hanzig-Bätzing, Werner Bätzing: Entgrenzte Welten. Zürich, 2005; S. 152

[3] http://www.dhzb.de/fileadmin/user_upload/deutsche_Seite/aktuell/presse/CLP.pdf

[4] http://www.dhzb.de/aktuell/presse/detail/ansicht/pressedetail/auftakt_der_organspende_kampagne_des_dhzb

[5] http://www.proorganspende.de/home.html

[6] http://www.ruhr-uni-bochum.de/genderstudies/kulturundgeschlecht/pdf/Motakef_HeyBigSpender.pdf

[7] http://www.fuers-leben.de/informieren/ueber-uns.html

[8] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/raub1032.html

[9] http://www.proorganspende.de/anliegen.html

[10] www.subventionsberater.de/sterben/zieger.pdf

[11] http://www.materialien.org/texte/hartmann/sloter.html

[12] http://www.materialien.org/texte/hartmann/SEIBER.pdf

[13] http://gutenberg.spiegel.de/buch/3249/4

21. Mai 2012