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BERICHT/014: Der Entnahmediskurs - Fluß der Fragen, Meer der Zweifel (SB)


Transplantationsmedizin zwischen Ressourcenmangel und Legitimationsbedarf

Workshop am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld vom 12. bis 14. September


Veranstaltungsplakat - Foto: © 2013 by Schattenblick

Foto: © 2013 by Schattenblick

Der Organspendeskandal, der das System der Transplantationsmedizin seit Juli 2012 erschüttert, wäre wohl stets ungelegen gekommen. Daß die Manipulationen um die Vergabe von Spenderlebern, zu denen es an mehreren Kliniken gekommen ist, allerdings in dem Zeitraum zwischen dem 25. Mai und 1. November 2012 die Schlagzeilen beherrschten, war ein besonders schwerer Schlag für das Ansehen dieser Therapieform. Nachdem der Bundestag die Neuregelung des Transplantationsgesetzes am 25. Mai zugunsten der erweiterten Zustimmungslösung mit großer Mehrheit beschlossen hatte, werden die Krankenversicherten seit Inkrafttreten des Gesetzes am 1. November dazu angehalten, sich für oder gegen eine Organspende zu entscheiden. Zwar müssen sie nicht auf das Anschreiben ihrer Krankenkasse reagieren, doch käme diese Entscheidung im Todesfall dann auf ihre Angehörigen zu.

Da die allgemeine Aufmerksamkeit durch die öffentliche Debatte um die Novellierung des Transplantationsgesetzes bereits auf das Problem der unzureichenden Verfügbarkeit von Spenderorganen gerichtet war, fanden auch die Ungereimtheiten bei der Organzuteilung mehr Beachtung, als es unter anderen Umständen vielleicht der Fall gewesen wäre. Die Spenderzahlen gingen infolge dieser Negativwerbung deutlich zurück, und die schon zuvor artikulierte Kritik an der Deutschen Stiftung Organspende (DSO) belastete das Glaubwürdigkeitskonto der Transplantationsmedizin um ein weiteres. Doch reicht dieser Eklat, der die mit dem neuen Transplantationsgesetz beabsichtigte Steigerung der Organernte nicht wirksamer hätte torpedieren können, keineswegs bis auf den Grund der die medizinische Organverpflanzung von Anbeginn an begleitenden Zweifel ob ihrer Verträglichkeit mit dem Ethos der Medizin wie den Grundrechten der Menschen.

So wurde die im Gesetzgebungsprozeß zum Transplantationsgesetz 1997 entbrannte Debatte um die Hirntodkonzeption niemals zu einem alle Seiten zufriedenstellenden Abschluß geführt. Über den bei jeder Mehrheitsentscheidung üblichen Dissens hinaus hielten sich Zweifel an der rechtlichen und ethischen Verträglichkeit dieses Entnahmekriteriums, die mittlerweile auch von ausgesprochenen Befürwortern der Transplantationsmedizin Nahrung erhalten. Diese Bedenken sind ein wichtiger Grund für die Verstetigung der ablehnenden Haltung vieler potentieller Spender gegenüber einer sie betreffenden Organentnahme. Die Lager der Kritiker und Befürworter der Hirntodkonzeption haben sich verfestigt und die Virulenz des Verdachts, der Mensch sei bei der Organentnahme nicht wirklich tot, hat in Ermangelung eines befriedigenden gesellschaftlichen Konsenses zur Validität dieser Todesdefinition eine zu Lasten möglicher Organempfänger gehende Eigendynamik entfaltet.

Desungeachtet hat sich die Feststellung des Hirntodes weltweit als legales Kriterium für die Entnahme lebensfrischer vitaler Organe durchgesetzt. Dabei bekräftigten nicht wenige Ärzte, Wissenschaftler und Bioethiker die Kritik an der Hirntodkonzeption in den USA wie auch in anderen Ländern durch den insbesondere von dem Neurologen Alan Shewmon [1] erbrachten Nachweis, daß als hirntot eingestufte Patienten im Zustand permanenter Beatmung sehr viel länger als, wie zuvor behauptet, nur wenige Tage lang die funktionale Integrität ihres Organismus erhalten können. Letzten Endes wird die Grenze des Fortdauerns wesentlicher somatischer Funktionen trotz Ausfall des gesamten Gehirns meist durch die Entnahme vitaler Organe oder das Abschalten der Beatmung gesetzt. Wo die Regulierung der Körpertemperatur, des Wasser- und Mineralhaushaltes, des Herz-Kreislauf- und Verdauungssystems, wo Infektionsabwehr und Wundheilung, Körperwachstum und Geschlechtsreifung, ja sogar das Wachstum eines Fötus im künstlich beatmeten Organismus aufrechterhalten bleiben, da ist es auch und gerade dem medizinischen Laien nicht zu verdenken, daß er die Abstraktionsleistung, einen warm durchbluteten Körper als tot zu bezeichnen, nicht erbringen kann oder will.

2008 griff der Nationale Ethikrat der USA die Kritik an der Hirntodkonzeption auf, indem er deren Gültigkeit anhand einer innovativen, wenn auch in sich widersprüchlichen Neudefinition medizinethischer Entnahmekriterien relativierte. Dies wird inzwischen auch in der Bundesrepublik zum Anlaß genommen, die Frage aufzuwerfen, ob es unter der Bedingung einer unbefriedigenden, dem medizinischen Fortschritt lediglich hinterherhinkenden Lösung für die Transplantationsmedizin nicht sinnvoll wäre, die bislang verbindliche Tote-Spender-Regel aufzuheben. Damit könnte nicht nur die Therapieform der Verpflanzung vitaler Organe aufrechterhalten, sondern auch die Verfügbarkeit von Spenderorganen vergrößert werden.

Im Zentrum dieser Überlegungen steht die Organentnahme bei noch nicht mit unumstößlicher Sicherheit verstorbenen Patienten nach Herz-Kreislauf-Versagen. Diese unter anderem in den USA, im Vereinigten Königreich, in Spanien und Belgien legale Praxis dürfte, wenn die Transplantationsmedizin als zukunftsweisende Therapieform Bestand haben soll, auch in anderen Ländern zum Standard einer damit zweigleisigen, das Verlöschen aller Gehirnfunktionen respektive der Funktion des Herz-Kreislauf-Systems voraussetzenden Entnahme lebenswichtiger Organe erhoben werden.

Obwohl in anderen Staaten längst Usus, wird die Debatte um die Weiterentwicklung der transplantationsmedizinischen Entnahmekriterien in der Bundesrepublik eher gemieden. Die bereits jetzt potentielle Spender abschreckende Vorstellung, nach der Hirntoddiagnose dennoch nicht tot zu sein, könnte sich auf die Zustimmung zur Durchführung der Organspende nur wenige Minuten nach Herzstillstand, wenn es keine Garantie für das Erlöschen aller Bewußtseinsfunktionen geben kann, erst recht negativ auswirken. Bis auf wenige Ausnahmen, bei denen Publikumszeitschriften und Rundfunksender über die legale Entnahme von Spenderorganen nach Herzstillstand berichtet haben, bleibt diese Debatte auf die mit der Transplantationsmedizin befaßten Professionen beschränkt, wird also vornehmlich von Ethikern, Juristen und Medizinern geführt.

Doch selbst dort wird, wie am Beispiel des Deutschen Ärzteblatts zu studieren, vornehmlich der Mantel des Schweigens über die im europäischen Ausland wie in Nordamerika etablierte Praxis der Organentnahme bei noch nicht toten Menschen gebreitet. Abgesehen davon, daß diese von der Bundesärztekammer herausgegebene Wochenzeitung die Forderung des Gesetzgebers, mögliche Organspender umfassend und "ergebnisoffen" unter Berücksichtigung der "gesamten Tragweite der Entscheidung" über diesen Schritt aufzuklären, recht einseitig im Interesse der Transplantationsmedizin auslegt, bleibt die Organentnahme nach Herzstillstand selbst in Artikeln über die Praxis der Organspende in anderen Ländern meist unerwähnt.

So wird in einem Artikel des Deutschen Ärzteblatts vom 18. Oktober 2013 [2] das Problem angesprochen, daß die in den USA verfügbaren Spenderorgane trotz weit höherer Spenderbereitschaft der Bevölkerung als in der Bundesrepublik den anfallenden Bedarf an Ersatzorganen bei weitem nicht decken können. Ausgespart bleibt jedoch die in diesem Kontext wichtige Information, daß die Zahl von 28.000 Organverpflanzungen im Jahr 2102 nur dadurch zustande kam, daß Organe nicht nur nach festgestelltem Hirntod, sondern auch zu einem Zeitpunkt nach Herz-Kreislauf-Versagen entnommen werden, an dem der Tod des Patienten nicht mit Sicherheit attestiert werden kann. Zwar geht die Autorin des Beitrags bei der Frage nach Vorschlägen, wie der Organmangel zu bekämpfen sei, auf die in den USA geführte Debatte ein, Gefangenen die Organspende zu erlauben oder Familien von Verstorbenen bei Zustimmung zur Organentnahme finanziell zu vergüten. Daß die Organernte noch niedriger ausfiele, wenn die in der Bundesrepublik verbotene Organentnahme nach Herzstillstand dort nicht praktiziert würde, scheint jedoch nicht von Interesse zu sein.

Das Ärzteblatt vom 8. November 2013 [3], dessen Titelseite die Forderung "Organspende - Zurück zur Glaubwürdigkeit" erhebt, geht in einem Beitrag zur "Organspende in Europa" mit keinem Wort auf die Entnahmepraxis des dort als besonders erfolgreich präsentierten Beispiels Spanien ein. Das europaweit beste Ergebnis für 2012 mit 35,6 Spendern auf eine Million Einwohner übertrifft das der Bundesrepublik mit 12,8 Spender auf eine Million Einwohner fast um das Dreifache, allerdings wird es erkauft durch eine Form der Organentnahme, die vor allem Unfallopfer betrifft, deren Wiederbelebung zwar erfolglos verlief, deren Tod jedoch nicht mit letzter Sicherheit festgestellt wird.

Im Fachjargon wird die Organspende nach Herz-Kreislaufstillstand unter dem Begriff "donation after circulatory death" (DCD), also "Spende nach Kreislauftod", zusammengefaßt. In der Bundesrepublik ist auch die Bezeichnung "non heart beating donor" (NHBD) üblich, doch soll hier DCD als das in englischprachigen Publikationen und Ländern inzwischen am meisten verwendete Akronym für die Organentnahme nach Herzstillstand verwendet werden. Nicht gänzlich auf den englischsprachigen Fachjargon zu verzichten empfiehlt sich, um dem interessierten Leser den Zugang der zum Thema verfügbaren Literatur zu erleichtern.

In den meisten Ländern, die diese Form der Organentnahme legalisiert haben, wird die "controlled donation after circulatory death" (cDCD) angewendet. Der kontrollierten Entnahme nach Herzstillstand geht bei einem absehbar tödlich endenden Krankheitsverlauf etwa in Folge eines Schädel-Hirn-Traumas die Entscheidung voraus, wenige Minuten nach dem durch Abschaltung der Beatmung eintretenden Versagen des Herz-Kreislauf-Systems Organe zu entnehmen. Die Entnahme findet in einem Zeitraum von 2 bis 5, manchmal auch 10 Minuten nach Beendigung der Herz-Kreislauf-Tätigkeit statt, obwohl zur Feststellung des Todes üblicherweise länger gewartet wird. Da auf die diagnostische Bestätigung des Hirntodes in der Regel verzichtet wird, erreicht dieses Entnahmekriterium für lebenswichtige Organe nicht einmal den Standard dieser ihrerseits fragwürdigen Todesfeststellung.

Der unkontrollierte Fall betrifft Unfallopfer, bei denen eine Wiederbelebung, die meist am Unfallort oder auf dem Weg in die Notaufnahme vorgenommen wird, erfolglos bleibt, oder unerwartete Fälle von Herzstillstand bei bereits im Krankenhaus liegenden Patienten. Unmittelbar danach werden Vorkehrungen getroffen, um die Vitalität der Organe zu erhalten, wodurch Zeit zur Verständigung der Angehörigen und zum Einholen ihrer Zustimmung zur Organentnahme gewonnen wird. Es werden also noch vor Vorliegen der Zustimmung fremdnützige Maßnahmen ergriffen, die schon aufgrund ihres invasiven Charakters zu Lasten der davon betroffenen Person gehen. Diese Praxis der "uncontrolled donation after circulatory death" (uDCD), also der Entnahme bei im Zweifel noch nicht toten Opfern fataler Ereignisse, trägt in Spanien wesentlich zur Steigerung der Organernte bei.

Zwar hat der Deutschen Ärztetag 2007 die Ablehnung der "Organentnahme nach Todesfeststellung allein durch Herzstillstand" mit der Begründung bestätigt, die "sichere Todesfeststellung gehört zu den Grundvoraussetzungen der postmortalen Organspende", während der "bloße Herzstillstand (...) kein sicheres Todeszeichen" sei, wie "jede auch nur vorübergehend erfolgreiche Reanimation" [4] belege. Da jedoch die als sicher gewähnte Todesfeststellung des Hirntodes zusehends auch von wissenschaftlicher Seite her in Frage gestellt wird, gleichzeitig jedoch nicht damit zu rechnen ist, daß dies zur Aufgabe dieser Entnahmepraxis führt, ist es nur eine Frage der Zeit und politischen wie gesellschaftlichen Umstände, daß die Organspende nach Herzstillstand auch hierzulande Einzug halten soll. Was bei der Explantation nach Hirntod, bei deren Einführung man sich an dem in den USA etablierten legalen Standard orientierte, möglich ist, kann auch für die Entnahme nach Kreislauftod in Anspruch genommen werden. In Spanien, dem United Kingdom und anderen Ländern erfolgte dies ohne größere öffentliche Diskussion. Dort wurde die DCD quasi im klinischen Alltag zur Entnahmepraxis, während die Debatte um das Für und Wider auf die Experten aus Medizin, Bioethik und Rechtswissenschaften beschränkt blieb.

Wenn nun ein Peter Hahne auf Bild.de [5], um nur ein allerdings massenwirksames Beispiel zu nennen, die Wiederherstellung des Vertrauens in die Organspende fordert, dann wäre dazu nicht nur die Fortsetzung der unabgeschlossenen Debatte um die Hirntodkonzeption erforderlich. Es wäre sowohl ein Blick auf innovative Entnahmekriterien als auch auf andere aus dem Mangel an Spenderorganen tatsächlich - wie ein Eintrag der Spendebereitschaft auf der elektronischen Gesundheitskarte - oder möglicherweise resultierende Konsequenzen wie die einer Kommerzialisierung oder Zwangsverpflichtung zu werfen, um Aufklärung über diesen Komplex der Nutzbarmachung des menschlichen Körpers für fremdnützige Zwecke zu gewährleisten.

Gebäudefront mit Treppenaufgang - Foto: © 2013 by Schattenblick

Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld
Foto: © 2013 by Schattenblick

Diskutiert wurden die Kriterien der Organentnahme nach Hirntod und Herzstillstand Mitte September am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld auf einem von Prof. Dr. Ralf Stoecker, der Philosophie an der Universität Bielefeld lehrt, und Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert vom Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster initiierten Workshop. An drei Tagen nahm ein internationaler Kreis von Philosophen, Rechtswissenschaftlern und Transplantationsmedizinern unter anderem die Gelegenheit wahr, unter dem Titel "The Importance of Being Dead - The Dead Donor Rule and the Ethics of Transplantation Medicine" die mögliche Aufgabe der Tote-Spender-Regel, die mit der Legalisierung der DCD in Deutschland zwingend einherginge, zu erwägen.

Im Schattenblick, der mit zwei Redakteuren auf dem Workshop zugegen war, soll die im Bielefelder ZiF geführte Debatte aus kritischer Sicht aufgearbeitet werden, um die Transplantationsmedizin in den gesellschaftlichen Kontext einer anwachsenden Medikalisierung sozialer Fragen zu stellen, mögliche Konsequenzen der Aufhebung tradierter Normen und Werte zu antizipieren und nicht zuletzt die subjektiven Horizonte der Konfrontation mit schmerzträchigen Praktiken auszuleuchten, in denen sich gesellschaftliche Forderungen und individuelle Autonomie kreuzen.


Fußnoten:

[1] BERICHT/004: Hirntod im Handel - Innovative Legitimation etablierter Entnahmepraxis (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/report/morb0004.html

[2] http://www.aerzteblatt.de/archiv/147782/US-amerikanisches-Gesundheitswesen-Fast-jeder-Zweite-ist-Organspender?src=search

[3] http://www.aerzteblatt.de/archiv/148633/Organspende-in-Europa-Vertrauen-ist-etwas-Zerbrechliches?src=search

[4] http://www.aerzteblatt.de/archiv/55804/Entschliessungen-zum-Tagesordnungspunkt-II-Ethische-Aspekte-der-Organ-und-Gewebetransplantation?src=search

[5] http://www.bild.de/politik/kolumnen/peter-hahne/gedanken-am-sonntag-33429258.bild.html


19. November 2013