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BERICHT/016: Der Entnahmediskurs - Die Patienten, das sind die anderen ... (SB)


Organspende nach "Kreislauftod" - Paradigmenwechsel der Entnahmekriterien?

Workshop am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld vom 12. bis 14. September



Die auf dem Workshop "The Importance of Being Dead - The Dead Donor Rule and the Ethics of Transplantation Medicine" diskutierte Aufgabe der Tote-Spender-Regel in der Transplantationsmedizin ist vor allem auf die Situation in den USA orientiert. Dort werden seit etwa 20 Jahren vitale Organe Spenderinnen und Spendern entnommen, die nicht das Kriterium des Hirntods erfüllen, sondern meist mit schweren Gehirnschäden und infauster Prognose einer "kontrollierten Spende nach Kreislauftod" - "controlled donation after circulatory death" (cDCD) - unterzogen werden. Der wesentliche Unterschied zur in Deutschland üblichen Entnahme nach festgestelltem Hirntod liegt im nichterfolgten Funktionsausfall des Gehirns. Wird hierzulande das Kriterium des Erlöschens aller Gehirnfunktionen, das man in der Hirntodkonzeption mit dem Tod des ganzen Menschen gleichsetzt, bei einer Spende vitaler Organe vorausgesetzt, so wird bei Organspende nach Kreislauftod - donation after circulatory death (DCD) - der Zweifelsfall in Kauf genommen, ob der Mensch wenige Minuten nach Ausfall der Kreislauffunktion in diesem Sinne oder überhaupt gestorben ist.

Die Durchführung eines "orchestrierten Todes", also des geplanten Ablebens durch den Entzug aller lebensverlängernden, insbesondere die künstliche Beatmung betreffenden Maßnahmen, erfolgt in diesem Fall theoretisch unter Zustimmung der Patientin oder des Patienten. Sind die Betroffenen in Folge einer schweren Hirnschädigung schon des längeren bewußtlos und haben keinen Organspendeausweis ausgefüllt, dann entscheiden die Angehörigen über ihren mutmaßlichen Wunsch, das ohnehin absehbare Lebensende durch den Akt der Organentnahme herbeizuführen. Entscheidend dafür, daß die Explantation nach DCD-Protokoll in der Bundesrepublik wie die Verwendung auf diese Weise im Ausland entnommener Organe nicht erlaubt ist, ist die Tatsache, daß es sich bei den Spenderinnen und Spender um potentiell noch lebende Menschen handelt.

Es liegt auf der Hand, daß der schon im Fall des Hirntodes nie wirklich überwundene Widerspruch zwischen dem Interesse an der Verfügbarkeit lebensspendender Organe und dem Interesse der Spenderin oder des Spenders, keinen Schaden zu erleiden, im Falle der Entnahme nach Herzstillstand und Kreislaufversagen eher noch dramatischere Fragen aufwirft. Kreislauftod ist mithin kein geringerer Euphemismus als Hirntod, das gilt zumindest aus Sicht der Kritikerinnnen und Kritiker medizinischer wie bioethischer Profession, die dies mit allerdings ganz unterschiedlicher Konsequenz bemängeln.

Im Vortrag - Foto: © 2013 by Schattenblick

Prof. Dr. Claudia Wiesemann, Prof. Dr. Franklin G. Miller
Foto: © 2013 by Schattenblick

Zu denjenigen, die infolge der Haltlosigkeit beider Todesdefinitionen die Aufhebung der Tote-Spender-Regel fordern, gehört der Bioethiker Prof. Dr. Franklin G. Miller von den National Institutes of Health (NIH) in Bethesda, Maryland. Diese in ihrer Art größte biomedizinische Forschungseinrichtung der Welt ist eine Abteilung des United States Department of Health and Human Services, auf die rund ein Viertel der für biomedizinische Zwecke freigesetzten Finanzmittel in den USA entfällt. Als langjähriges Mitglied des NIH-Department of Bioethics Angestellter des Staates legte Miller Wert darauf festzustellen, daß er in seinem Vortrag auf der Tagung "The Importance of Being Dead - The Dead Donor Rule and the Ethics of Transplantation Medicine" seine persönliche Meinung wiedergab.

Die im Titel seines Referats attestierte "Krise in der Ethik der Spende vitaler Organe" behandelte er unter dem Gesichtspunkt der Frage, was zu ihrer Überwindung zu unternehmen sei. Der permanente Verstoß gegen die ethische Forderung, daß Ärzte nicht töten dürfen, dies aber ständig tun, indem sie die Tote-Spender-Regel durch die Organentnahme nach Hirntod wie Kreislauftod routinemäßig verletzen, entwerte die Zustimmung der Spenderinnen und Spender zur Entnahme vitaler Organe. Ihr informed consent basiere darauf, daß sie bei Organentnahme tot seien, und das sei nicht der Fall, so Miller unter Verweis auf dementsprechende Formulierungen in den Organspendeausweisen verschiedener US-Bundesstaaten.

Die in den USA 1981 im Uniform Determination of Death Act rechtsverbindlich gemachte und in den Gesetzen zur Organspende der US-Bundesstaaten verankerte Todesdefinition attestiert den Tod eines Individuums mit Hilfe zweier gleichwertiger Definitionen. Verlangt wird die Feststellung des irreversiblen Endes der Kreislauf- und Atmungsfunktionen oder aller Funktionen des gesamten Gehirns inklusive des Hirnstamms. Der Modus der Irreversibilität im Falle der Entnahme bei Kreislauftod wird seitdem unter Medizinethikern heftig diskutiert. Miller erklärte hinsichtlich des üblichen Beginns der Organentnahme zwei bis fünf Minuten nach festgestellter Pulslosigkeit, daß die Irreversibilität des Kreislaufversagens nur für den Fall attestiert werden kann, daß kein Versuch unternommen wird, das Herz wiederzubeleben. Das allgemeine Verständnis, daß dies nicht möglich sei, treffe nicht zu, wie etwa Notfallärzte wissen, die nicht mehr schlagende Herzen auch nach mehreren Minuten des Stillstands wiederbelebt haben. Auch ist ein spontan, also ohne Wiederbelebungsmaßnamen selbsttätig wiedereinsetzender Herzschlag wenige Minuten nach Herzstillstand möglich.

DCD-Spender befinden sich mithin auf dem Weg zum endgültigen Tod, doch kann niemand sagen, ob sie zum Zeitpunkt der Organentnahme tatsächlich verstorben sind. Einen vermeintlichen Ausweg aus diesem Dilemma wies der Neurologe James L. Bernat, der die Permanenz des festgestellten Todes als legitimes Surrogat für seine zum Zeitpunkt der Organentnahme nicht sicher zu konstatierende Unumkehrbarkeit propagiert. Permanent sei der Tod bei einer kontrollierten Spende nach Kreislauftod (cDCD), weil er auf jeden Fall in absehbarer Zeit eintreten werde, auch wenn die ihrerseits tödlich verlaufende Organentnahme zuvor erfolge. Was im Falle der konventionellen Todesfeststellung nach Ausfall des Kreislaufs und der Atmung kaum jemals ein Problem war, weil nicht innerhalb kürzester Zeit zur Organentnahme geschritten wurde, um aufgrund der sehr kurzen Unterbrechung der Durchblutung möglichst hochwertigen Organersatz zu erhalten, hat bei der Transplantationsmedizin zu einer langanhaltenden Debatte um die Validität semantisch genau zu differenzierender Todeskriterien geführt.

Im Unterschied zu Bernat, der seit Jahrzehnten zu den führenden Protagonisten der Debatte um die ethisch korrekte Todesdefinition gehört, treten Miller und der Medizinethiker Robert D. Truog von der Harvard Medical School dafür ein, sich nicht länger um die Anerkennung der Tatsache herzumzudrücken, daß die Organentnahme in beiden Fällen, Hirntod wie Kreislauftod, an noch lebenden Menschen vorgenommen wird. Miller und Truog haben ihre Argumentation in dem Buch "Death, Dying, and Organ Transplantation. Reconstructing Medical Ethics at the End of Life" dargelegt, das im November 2011 erschien und in Fachkreisen viel Aufsehen erregte.

Um dies plausibel zu machen, diskutierte Miller in seinem Vortrag vier Möglichkeiten, wie in Anbetracht des erreichten Diskussionstandes zwecks Bewältigung der Krise der Transplantationsmedizin weiterverfahren werden könnte.

So könnte man bei strikter Berücksichtigung der Tote-Spender-Regel die Entnahme von Organen hirntoter Spender - Heart Beating Donors - beenden. Bei der Organentnahme nach Kreislaufkriterien - Non Heart Beating Donors - könne man so lange warten, bis die geforderte Irreversibilität garantiert, also jede mögliche Wiederbelebung tatsächlich ausgeschlossen wäre. Dies hätte schwerwiegende Konsequenzen zur Folge, weil dann keine Herztransplantationen mehr durchgeführt werden könnten und weniger funktionsfähige Organe zur Verfügung ständen, was den ansonsten vermeidbaren Tod zahlreicher Patientinnen und Patienten bewirkte.

Man könnte das Verlöschen des Bewußtseins als Todesdefinition heranziehen, also den auch Teilhirntod genannten Ausfall lediglich jener Teile des Gehirns, die als neurophysiologisches Substrat sogenannter Bewußtseinsfunktionen gelten. Hier tut sich nicht nur das Problem auf, daß es eine unanfechtbare Definition des Bewußtseins nicht gibt, sondern sich auch die Wartezeiten, die dafür notwendig wären, negativ auf die Qualität der zu entnehmenden Organe auswirkten. Schließlich werfe die Akzeptanz des sogenannten consciousness-based oder higher brain standards der Todesdefinition die Frage auf, inwiefern Komapatientinnen und -patienten im Persistent Vegetative State (PVS), die über Spontanatmung verfügen, aber möglicherweise vollständigen Bewußtseinsverlust erlitten hätten, nicht als tot zu bezeichnen wären und damit als Organspenderinnen und -spender in Frage kämen. Auch sei diese Todesdefinition mit dem Problem behaftet, daß sie sich nicht mit biologisch etablierten Todesdefinitionen anderer Lebewesen korrelieren lasse.

Aus Millers Sicht spricht hingegen viel für die Aufgabe der Dead Donor Rule (DDR). So müsse eine ethisch motivierte Organspende nicht auf der Tote-Spender-Regel basieren, wenn sie vom Prinzip der Wohltätigkeit und der Absicht, Leben zu retten, bestimmt wäre. Wichtig wäre dabei, die Autonomie der Spenderin oder des Spenders und das ethische Prinzip der Schadensvermeidung (nonmaleficence) zu respektieren. Liege die informierte Zustimmung der Spenderin oder des Spenders respektive der Angehörigen vor, dann könne die geplante Einstellung lebensverlängernder Maßnahmen keine negativen Auswirkungen auf die Patientin oder den Patienten haben. Da es seit langem legale und akzeptierte ärztliche Praxis sei, den Tod durch den Entzug lebensverlängernder Maßnahmen herbeizuführen, könne er nicht verstehen, warum man keine Organe nach Kreislaufstillstand entnehmen sollte, sofern die Zustimmung dafür vorhanden sei. Schließlich werde niemand in Folge der Organspende sterben, der nicht ohnehin infolge der Einstellung lebensverlängernder Maßnahmen gestorben wäre, so der Referent.

Eine weitere Möglichkeit für den zukünftigen Umgang bestehe in der Aufrechterhaltung des Status quo, also der Beibehaltung unaufgelöster Widersprüche. Diese auf der Tagung immer wieder aufgeworfene Möglichkeit stellt jedoch niemanden zufrieden, das gilt zweifellos für alle an der Debatte beteiligten Seiten.

Die die Tagung leitende Fragestellung beantwortete Miller mit der Schlußfolgerung, daß der eingetretene Tod für die ethisch korrekte Organentnahme nicht nötig sei. Es sei vielmehr wichtig, wie die Spenderin oder der Spender stirbt, ob also die Organentnahme zu einem Tod führt, der ihn oder sie nicht in ihrer Autonomie beeinträchtigt und ihnen keinen Schaden zufügt. Wenn dies gegeben sei, könnte die Aufhebung der Tote-Spender-Regel eine größere Zahl von Spenderorganen in möglicherweise besserer Qualität verfügbar machen, warb der Referent für sein Konzept.

Was also sei zu tun, fragte Miller am Ende seines Vortrags angesichts des Mangels an einer überzeugenden ethischen Begründung für die Spende vitaler Organe, die auf universelle Akzeptanz stoßen wird. Er empfiehlt zum einen, mehr über die Einstellung der Öffentlichkeit in Erfahrung zu bringen, um die Vermittelbarkeit der eingeführten Praktiken der Organentnahme wie auch möglicher Alternativen zu erkunden. Auf lange Sicht könnten Fortschritte in der regenerativen Medizin neue Techniken der Züchtung von Geweben und Organen hervorbringen, so daß die Krise auf andere Weise überwunden werden könnte, fügte er vollständigkeitshalber hinzu, wohl wissend, daß dies auf absehbare Zeit keinen Ausweg aus den geschilderten Dilemmata eröffnen wird.

Slide zur Ausschließlichkeit der eigenen Meinung des Referenten - Foto: © 2013 by Schattenblick

Mißverständnissen ist vorzubeugen
Foto: © 2013 by Schattenblick

Wo endet die Patientenautonomie, wo beginnt die Fremdbestimmung?

Eine der zentralen Legitimationsachsen Millers wie auch seines Kollegen Truog besteht im Übertrag ärztlicher Todesverursachung durch Nichthandeln respektive die Einstellung lebensverlängernder Maßnahmen. So argumentierte Truog in einem Vortrag [1], den er im Mai 2013 am Health Law Research Centre der Queensland University of Technology im australischen Brisbane hielt, daß die Behauptung, man erlaube dem Patienten zu sterben, wenn nicht alle Möglichkeiten der Lebensverlängerung ausgeschöpft würden, nichts anderes als die Verursachung seines Todes beinhalte. Da Ärztinnen und Ärzte mithin Leben nähmen und die Todesfälle auf der intensivmedizinischen Station zu 60 bis 90 Prozent geplant seien, könne es für sie auch nicht ethisch verwerflich seien, den Tod durch die Entnahme vitaler Organe zu bedingen. All dies erfolge selbstverständlich unter Zustimmung der Patientin oder des Patienten, die auf jeden Fall stürben, ob nun mit oder ohne Organe.

Der Vorteil der DCD-Entnahme liege nicht nur darin, daß mehr Leben durch Organspende gerettet werden könnten, sondern daß explantierte Organe wie Herz, Lunge, Leber, und Nieren sich im denkbar besten Zustand befänden. Nichts anderes wollten Organspender, wenn sie denn diesen Entschluß gefaßt haben, und gegen diesen Wunsch dürfe man nicht aufgrund haltloser Todesdefinitionen verstoßen. Es ist leicht zu erkennen, wie sehr die individuelle Zustimmung zur Organentnahme davon abhängt, wie die dazu gegebenen Informationen gewichtet werden. Ließen sich die betreffenden Personen etwa von Kritikerinnen oder Kritikern der beiden Entnahmekriterien beraten, dann wäre ihre Zustimmung weit mehr in Frage gestellt als bei Ratgebern, die den ethischen Wert der Spende in den Vordergrund stellen.

Truog versucht, den die DCD-Spende ablehnenden Ärztinnen und Ärzten das Festhalten an einer längst überkommenen Medizinethik anzulasten. So hätten sie in den 1970er Jahren noch die Einstellung angeblich unnötiger medizinischer Behandlungen abgelehnt, was schließlich auf dem Rechtswege ermöglicht wurde. In den 1990er Jahren hätten Patientinnen und Patienten aktive Sterbehilfe eingefordert, was inzwischen in vier Staaten der USA legal sei, obwohl sich Ärztinnen und Ärzte dagegen gesträubt hätten. Heute wollten einige Patienten Organe spenden, ohne an die Dead Donor Rule gebunden zu sein, und wieder sorge die medizinische Profession dafür, daß dies nicht möglich werde.

Truog blickt jedoch optimistisch in die Zukunft, denn er setzt ganz darauf, daß die Öffentlichkeit auch dieses Mal über die Vorbehalte der Ärzteschaft siege. Ihm stelle sich die Frage, ob man nicht an der Schwelle eines Paradigmenwechsels stehe, wie es stets in den Wissenschaften der Fall sei, wenn neue Erkenntnisse alte Auffassungen in Frage stellten. Die Bedeutung des Todes in der Organspende zu überdenken und zur Aufhebung der Tote-Spender-Regel zu gelangen, müsse nicht gefürchtet werden, weil es ein offeneres und transparenteres Verständnis der Ethik der Organspende ermögliche. Mehr Aufklärung wäre zweifellos zu begrüßen, doch auch dabei stellt sich die Frage, wer ethische Normen in welchem Interesse setzt respektive verwirft. Ohne die Verankerung dieser Wertbestimmungen in gesellschaftlichen Verhältnissen läuft die Medizinethik Gefahr, lediglich ex post zu rechtfertigen, was a priori zu antizipieren wäre, wenn es wirklich um den Menschen und nicht die Legitimation partikulären Nutzens ginge.

Stadtpanorama - Foto: © 2013 by Schattenblick

Ausblick vom ZiF auf Bielefeld
Foto: © 2013 by Schattenblick

Wer darf leben, wer kann getötet werden?

Der qualitative Unterschied zwischen einer die Patientenautonomie schützenden Einstellung lebensverlängernder Maßnahmen und der aktiven Tötung durch das Entfernen vitaler Organe bestimmt auch die möglichen Folgen, die aus dieser ethischen Grenzziehung respektive -überschreitung resultieren. Widersetzen sich schwerkranke Menschen einer medizinischen Behandlung, dann verweigern sie sich einer Maßnahme, bevor sie eingesetzt wird, in ganz persönlichem Interesse. Der auf sie ausgeübte Druck wird sich daher in Grenzen halten, auch wenn nicht auszuschließen ist, daß Angehörige mehr oder weniger unverhohlen zu verstehen geben, wie sehr ihnen die Sorge um einen ohnehin "hoffnungslosen" Fall lästig wird.

An der Spende von Organen sind von vornherein mindestens zwei Parteien beteiligt. Der Wunsch der Organempfängerin oder des Organempfängers an der Fortsetzung des Lebens ist in institutionelle und berufsständische Interessen eingebunden, die erhebliche Eigendynamik entfalten können, wie allein der Aufwand belegt, mit dem die Organspende im Verhältnis zur Beseitigung anderer Gesundheitsprobleme beworben wird. So plausibel und verständlich der Lebenswunsch Herz-, Nieren-, Leber- und Lungenkranker ist, so würde mit der offiziellen Aufhebung des Tötungsverbotes eine fundamentale Grenze in der sozialen und gesellschaftlichen Organisation eingerissen.

Die Behauptung, die Freiheit der Verweigerung bestimmter therapeutischer Maßnahmen sei mit der Freiheit, den eigenen Körper anderen Menschen zum Preis seines Todes zur Verfügung zu stellen, prinzipiell gleichzusetzen, geht von einer Unveränderlichkeit ethischer Normen aus, die schon durch die Einführung einer neuen Todesdefinition zugunsten der Transplantationsmedizin widerlegt wird. Wie schnell aus der individuellen Freiwilligkeit der Organspende eine gesellschaftliche Pflicht werden kann, belegen historische Beispiele für eugenische Zwangsmaßnahmen ebenso wie die durchaus diskutierten Fragen, ob nicht eine generelle Verpflichtung zur Organspende erforderlich wäre und ob ein verstorbener Mensch überhaupt einen Eigentumsanspruch auf seinen Körper erheben könne. Wer heute die informierte Zustimmung zur unabdinglichen Voraussetzung einer Organspende nach Hirn- oder Herztod erhebt, wird morgen, wenn die Subjekte unter dem Diktat der Warenform stehender Gesellschaften zum wehrlosen Objekt fremdnütziger Interessen werden, kaum mehr in der Lage sein, dies zu verhindern.

So hat die Praxis der Euthanasie in den Niederlanden längst dazu geführt, daß auch an nichteinwilligungsfähigen Patientinnen und Patienten aktive Sterbehilfe vollzogen wird. Wenn eine bioethische Lebenswertlogik über Leben und Tod kranker Menschen befindet, was schon der Fall ist, wenn über den sogenannten benefit eines etwa aufgrund einer Demenz nichteinwilligungsfähigen Menschen geurteilt wird, dann sind immer auch sozioökonomische Motive im Spiel. Zu behaupten, dies ließe sich vermeiden, kann schon angesichts der Priorisierungsdebatten in der sogenannten Gesundheitswirtschaft ausgeschlossen werden. Daß schwerkranke Menschen aus sozialen Gründen den Tod vorziehen, weil sie sich einsam und überflüssig fühlen, bringt schon die kosteneffiziente Rationalisierung der Pflege mit sich. So entspricht der Mangel an Spenderorganen nicht dem allgemeinen Mangel an Lebenschancen, den insbesondere mittellose Menschen erleiden, sondern ist Ausdruck einer ihren Interessen eher entgegenstehenden HighTech-Medizin, deren Errungenschaften für das Gros der Menschheit nicht verfügbar sind, die aber Mittel beanspruchen, die an anderer Stelle fehlen.

Allein mit ethischen Argumenten zu operieren, wie es Truog und Miller tun, ohne die gesellschaftlichen Zwänge in Rechnung zu stellen, die Menschen zu verzweifelten Taten treiben, ist gerade in Hinsicht auf das materielle Gut eines vitalen Organs abwegig. Es liegt auf der Hand, daß das Spenden von Organen unter Bedingungen, die maßgeblich von einer hochprofitablen Pharmabranche und privatwirtschaftlichen Gesundheitsindustrie gesetzt werden, früher oder später die Frage nach einem Entgelt für das Substrat eigenen Lebens aufkommen läßt. Was etwa zur Bekämpfung des illegalen Organhandels gefordert wird, macht um so mehr Sinn, je höher die Qualität verfügbarer Organe und der sie im fremden Körper erhaltenden Begleittherapien ist. In Ländern mit mehrheitlich um ihr pures Überleben ringenden Bevölkerungen wie etwa Indien ist die Kommodifizierung der menschlichen Physis für die Transplantationsmedizin und andere Zwecke längst Alltag, und sie wird im Sinne der Legalisierung einer bereits erfolgenden Praxis auch in Europa immer mehr Fürsprecher finden.

So steht der altruistische Anspruch der Organspende desto mehr zur Disposition des nackten Überlebensinteresses der Spender, je mehr deren propagierte Selbstbestimmung zum schlagenden Argument für die Transplantation nur wenige Sekunden nicht mehr schlagender Herzen wird. Die Verkürzung der sogenannten warmen Ischämiezeit, in der zwar die Blutzufuhr zum Organ unterbrochen, es aber noch körperwarm ist, auf wenige Sekunden nach Herzstillstand liegt in der Logik der Forderung, Organe im denkbar besten Zustand zu verpflanzen. Warum an dieser Stelle kein Geld fließen soll, wenn doch alles andere im Leben seinen Preis hat, wird immer schwieriger zu erklären sein, je mehr das Risiko zunimmt, bei der DCD-Spende auch unter Narkose noch Schmerzen zu erleiden. Wird die Respektierung der Selbstbestimmung des Spenders über das Tötungsverbot gestellt, dann verschieben sich auch andere Relationen im tauschwertbedingten Charakter seiner gesellschaftlichen Existenz.

In dem zusammen mit dem Moralphilosophen Walter Sinnott-Armstrong von der Duke University in North Carolina 2011 verfaßten Papier "What makes killing wrong?" argumentiert Miller, daß es nicht moralisch falsch sein müsse, Patienten zu töten, die vollständig und unumkehrbar behindert ("universally and irreversibly disabled") seien, weil sie keine Fähigkeiten mehr besäßen, die man ihnen nehmen könne. Nicht Töten als solches sei moralisch falsch, sondern die Verursachung vollständiger Behinderung, argumentieren die Autoren gegen das ärztliche Tötungsverbot. Menschen, die nichts mehr, also auch nicht ihre Bewußtseinstätigkeit, selbsttätig kontrollieren könnten, und deren Leben von medizinischen Apparaten abhängig sei, erlitten keinen Schaden dadurch, daß man ihnen vitale Organe entnimmt und sie dabei zu Tode bringt. Da sie nach Einstellung lebensverlängernder Maßnahmen ohnehin stürben, mache es keinen Unterschied, ob man ihnen zuvor Organe entnommen hat oder nicht, konstatieren Armstrong und Miller.

Allein die in dem Kriterium "Kontrolle" enthaltene Unterstellung zu wissen, ab welchem Punkt menschliches Leben unumkehrbar fremdbestimmt wäre, unterstreicht den willkürlichen Charakter dieser Zugriffslegitimation. Welcher Mensch wäre lebensfähig ohne die vielfältigen Assistenzen und Prothesen, die die hochgradig technisierte Umwelt moderner Metropolen zur Verfügung stellt? Wie weitreichend muß ein Mensch kognitive wie somatische Prozesse steuern können, um ihm keinen Kontrollverlust unterstellen zu können? So wenig bekannt darüber ist, was Menschen kurze Zeit nach Herzstillstand erleben, so wenig erforscht sind die Grenzbereiche menschlicher Existenz in komatöser Bewußtlosigkeit oder anderer Folgen schwerwiegender körperlicher wie geistiger Schädigungen. Die Daseinsberechtigung anhand von Fähigkeiten zu definieren, den Menschen also ausschließlich als soziales Wesen zu bestimmen, und davon abweichende Manfestationen humanen Lebens für legal tötbar zu halten, entspricht einer Ratio des Nutzens und Verbrauchs, die das Potential menschlicher Entwicklung biologistisch verkürzt und auf den vergesellschafteten Menschen beschränkt.

Die Frage, wer leben darf und wer getötet werden kann, ist ein zentrales Element staatlicher Souveränität. Sie zugunsten einer medizinischen Therapie auf eine Weise zu öffnen, die Vorwände aller Art schaffen könnte, mißliebig, nutzlos und überflüssig gemachte Menschen vom Leben in den Tod zu befördern, läßt auf einen erheblichen Mangel an historisch wie politisch begründeter Kritikfähigkeit schließen. Armstrongs und Millers Behauptung, sie könnten die Spende vitaler Organe noch lebender Menschen auf diejenigen begrenzen, die sich in einem Zustand totaler Behinderung befinden, wird damit begründet, daß ihnen kein Schaden zugefügt werden könnte, weil sie ja nichts zu verlieren hätten. Warum sollte Menschen, die etwas zu verlieren haben, kein Schaden zugefügt werden, wenn die Ausbeutung durch Arbeit auch in der westlichen Welt sklavenähnliche Zustände annimmt, wenn die Dominanz von Kapitalinteressen die Verelendung ganzer Bevölkerungen bewirken, wenn Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken und Millionen verhungern müssen, wenn aggressive Kriege geführt werden und der Planet zugunsten bestimmter Produktionsverhältnsse zugrunde gerichtet wird?


Fußnoten:

[1] Video unter http://www.youtube.com/watch?v=2pmmOdS6f9U oder Audio unter
http://www.hlrc.qut.edu.au/news-and-events/ProfTruogPublicLectureAudio.mp3

[2] http://jme.bmj.com/content/early/2012/01/19/medethics-2011-100351.full.pdf+html

Bisherige Beiträge zum Kongreß "The Importance of Being Dead - The Dead Donor Rule and the Ethics of Transplantation Medicine" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN→ REPORT:

BERICHT/014: Der Entnahmediskurs - Fluß der Fragen, Meer der Zweifel (SB)
BERICHT/015: Der Entnahmediskurs - Ein Schritt vor, zwei zurück (SB)
INTERVIEW/022: Der Entnahmediskurs - Außen vor und mitten drin, Gespräch mit Prof. Dr. Ralf Stoecker (SB)
INTERVIEW/023: Der Entnahmediskurs - Interessensausgleich? Gespräch mit Dr. Theda Rehbock (SB)

13. Dezember 2013