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BERICHT/020: E-Cardmedizin - Kontrolle, Ökonomie, Gesundheitseffizienz? ... (SB)


Mit schnödem Mammon, Sachzwängen und Verlockungen gegen ärztlichen Protest

Vortrag von Dr. med. Axel Brunngraber beim Aktionstreffen "Stoppt die e-Card" - "Medizin statt Überwachung" am 31. Oktober 2014 in Hamburg


Der Referent im Halbprofil vor Plakat mit Aufschrift 'Gläserner Patient' - Foto: © 2014 by Schattenblick

Dr. Axel Brunngraber
Foto: © 2014 by Schattenblick

Das flächendeckende und alle Betroffenen vollständig erfassende System der sogenannten "elektronischen Gesundheitskarte", kurz "e-Card" oder "eGK", und die mit ihr verknüpfte, weltweit größte telematische Anwendung, nämlich die Zentralerfassung und -speicherung sämtlicher Patientendaten, kommt, was die technische und organisatorische Umsetzung betrifft, etwas holprig, und, in Hinsicht auf eine kritische Wahrnehmung und Infragestellung, auf vergleichsweise leisen Sohlen daher. Von seiten der Kritikerinnen und Kritiker, die sich seit Jahren mit großer Sachkompetenz und Engagement einer Entwicklung entgegenstemmen, die die Warnungen vor "gläsernen" Patienten bzw. Arztpraxen noch hinter sich zu lassen droht, hat es an der Bereitstellung triftiger Gründe, plausibler Argumente und öffentlichkeitswirksamer Aktionen nicht gemangelt, und doch ist die gesellschaftliche und mediale Resonanz, stellt man sie beispielsweise in den unter Datenschutzgesichtspunkten naheliegenden Vergleich zu mißbrauchsgefährdeten Steuerdaten, relativ gering geblieben.

Es darf nicht vergessen werden, daß mit der elektronischen Gesundheitskarte, deren Einführung 2004 gesetzlich beschlossen wurde, dann für 2006 vorgesehen, aber erst ab 2013 vollzogen werden konnte, ursprünglich sogar beabsichtigt wurde, nicht nur medizinische, sondern auch sämtliche Personendaten aus den Renten- und Sozialversicherungen zentral zu erfassen und verfügbar zu stellen. Deshalb hegen kritische Stimmen den Verdacht, daß mit der e-Card und der geplanten telematischen Infrastruktur die Voraussetzungen für eine Digitalisierung des Menschen in einem bisher nicht erreichten und als potentiell totalitär zu bewertenden Ausmaß geschaffen werden sollten.

Ab dem 1. Januar kommenden Jahres soll nach Wunsch und Darstellung der Betreiber und Initiatoren ausschließlich die elektronische Gesundheitskarte verwendet werden können. Schon jetzt wird versucht, Ärzte wie Patienten mehr noch als bisher unter Druck zu setzen und sie dazu zu bringen, sich den Neuerungen zu fügen, was die auch unter der Ärzteschaft stark vertretenen Gegnerinnen und Gegner des e-Card-Projekts nur in ihren Bemühungen bestärkt, durch Aufklärung und Protest dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten.

Die ärztliche Beteiligung an diesem Widerstand fällt keineswegs einhellig aus, da die Berufskollegen in zunehmendem Maße glauben, sich in vermeintliche Unabänderlichkeiten fügen zu müssen, um keinen fundamentalen Streit zu riskieren. Umso mehr steht außer Frage, daß im Interesse einer dringend gebotenen gesellschaftlichen Kontroverse über Sinn und Unsinn des e-Card- und Telematik-Vorhabens den öffentlich in Erscheinung tretenden kritischen Ärztinnen und Ärzten, die sich vielfach dem 2007 gegründeten Aktionsbündnis "Stoppt die e-Card", einem Zusammenschluß von inzwischen 54 Organisationen, angeschlossen haben, ein hoher aufklärerischer Wert zukommt.


"Medizin statt Überwachung" - Motto der Aktion "Stoppt die e-Card"

An dem "Stoppt die e-Card"-Aktionstreffen, das unter dem zugespitzten Titel "Medizin statt Überwachung" am 31. Oktober im Hotel Barceló in der Hamburger Innenstadt stattfand, waren mit Dr. Silke Lüder, Mitbegründerin und Sprecherin des Aktionsbündnisses und Ärztin in Hamburg, und Dr. Axel Brunngraber, einem niedergelassenen Arzt aus Hannover, zwei Repräsentanten ihres Berufsstandes beteiligt, die sich in der dem Bündnis angehörenden "Freien Ärzteschaft" organisiert haben. Hierbei handelt es sich um eine Interessenvertretung niedergelassener Haus- und Fachärzte, die sich für eine patientenorientierte Medizin mit ambulanter Patientenversorgung durch freie Praxen und gegen eine durchrationierte und bürokratisierte Staatsmedizin einsetzt. Während Silke Lüder in ihrem Einführungsreferat die rund 80 Anwesenden auf den neuesten Stand des e-Card-Projekts unter Berücksichtigung des weiteren Vorgehens seiner Protagonisten brachte [1], nutzte Axel Brunngraber die Gelegenheit, um die ärztliche kritische Sicht in einem grundsätzlicheren Verständnis darzulegen.

Bei einem so großen und kostenintensiven Projekt, das keineswegs nur von den im Gesundheitswesen tätigen Verbänden, Versicherungen und Organisationen, sondern zudem mit staatlicher Unterstützung und Initiative vorangetrieben wird, liegt die Vermutung nahe, daß man seine Durchsetzung auch an der Medien- bzw. Meinungsfront forciert. Dem kritischen ärztlichen Votum ist ein eigener Stellenwert schon deshalb zuzusprechen, weil es nicht mit angeblich fehlender Sachkompetenz diskreditiert werden kann. Betroffene Patienten haben es demgegenüber schwerer, sich überhaupt Gehör zu verschaffen - sei es, daß ihre Medienpräsenz eher gering ist; sei es, daß mit dem Argument, ihnen fehle die medizinische Fachkompetenz, ihre Argumente und Kritikpunkte abgeschwächt und ignoriert werden.


Wie stehen Ärzte zur elektronischen Gesundheitskarte?

Dr. Brunngraber begann seinen Vortrag mit einer Vorbemerkung zum Thema Propaganda. Wenn Ärzte sagten, sie hätten Angst angesichts der aktuellen Entwicklung und wollten vor dem "gläsernen Patienten" warnen, werde ihnen unterstellt, daß dies ein Lobby-Trick ihres Berufsstands und ihre Kritik nicht wirklich ernst gemeint sei. Brunngraber bewertete dies als einen Versuch, Ärzte und ihre Patienten gegeneinander auszuspielen und zu spalten. Ärzte würden, so der ihnen gemachte Vorwurf, "gläserne" Praxen und Ärzte aus egoistischen Motiven verhindern wollen, was nach Ansicht des Referenten schon deshalb ein schlechtes Argument sei, weil es bei Kassenärzten, um die es dabei ja wohl gehe, angesichts der bereits in vollem Umfang erreichten Transparenz eigentlich gar nicht mehr viel nachzugucken gäbe.

Brunngraber wies darauf hin, daß die e-Card heute auf eine ganz andere mediale Handhabung und öffentliche Wahrnehmung gestoßen sei als beispielsweise das Volkszählungsprojekt Anfang der 1980er Jahre, demgegenüber sich alsbald eine konflikt- und boykottbereite, vielfach von eher jüngeren Menschen getragene Protestbewegung formiert hatte. Ohne deren massenwirksame Aufklärungs- und Mobilisierungsarbeit hätte, wie zu vermuten steht, das Bundesverfassungsgericht dem Projekt wohl kaum den Todesstoß versetzt durch die Ende 1983 gefällte Entscheidung, daß das im März 1982 von allen Bundestagsfraktionen angenommene Volkszählungsgesetz in wesentlichen Teilen verfassungswidrig und eine massenhafte Verletzung der Persönlichkeitsrechte nicht auszuschließen sei.

Dem Referenten zufolge war das damalige Volkszählungsprojekt gegenüber dem heutigen elektronischen Gesundheitsprojekt eine Petitesse, gemessen an den kaum abschätzbaren Risiken, Gefährdungen und negativen Folgewirkungen, die der Bevölkerung sogar in nachfolgenden Generationen daraus erwachsen könnten. Brunngraber erzählte von seinen bei dem Bemühen, über die Gefahren des e-Card-Projekts aufzuklären, gemachten Erfahrungen. Journalisten beispielsweise reagierten oft erstaunt und mit gewissen Vorbehalten bis dahin, daß sie der Überzeugung Ausdruck verliehen, das könne doch wohl alles nicht wahr sein. Kritisches Denken sowie das Bewußtsein, gegenüber staatlich verordneten Projekten eine gewisse Autonomie bewahren zu wollen, sei nicht mehr allgemein verbreitet, was Brunngraber, der 1969 zu studieren begonnen hatte und sich noch zum letzten Drittel der "Alt-68er" zählt, auf einen Generationswechsel zurückführte. Jüngere Kollegen stellten seinem Eindruck nach im Arbeitsalltag sowie in der gesellschaftlichen Präsenz nicht mehr so viel in Frage.

Die ärztliche Sicht zum Thema e-Card wollte der Referent auf zwei verschiedenen Ebenen - der der niedergelassenen, selbständigen Ärzte und der der Krankenhausärzte - behandelt wissen. Am Beispiel des ehemaligen Formel-1-Weltmeisters Michael Schumacher, dessen gesamte Krankenakte nach seinem schwerzen Unfall zehn Tage lang zugänglich war, bevor dieses Datenloch gesperrt wurde, habe sich gezeigt, wie groß dieses Risiko in Krankenhäusern ist. In diesem Bereich kann der einzelne Krankenhausarzt die Verhältnisse seiner Arbeit nicht selbst bestimmen, er arbeitet so, wie es in der jeweiligen Klinik vorgesehen ist. Ihm gegenüber seien niedergelassene Ärzte, die in ihren Praxen dezentral arbeiten und den Datenbestand ihrer Patienten vor Ort sichern könnten, noch im Vorteil. Mit dem e-Card-Projekt werde allerdings eine Akkumulation der Patientendaten geschaffen, die, sollten sie einmal geknackt werden, nicht in Einzelfällen, sondern dann gleich in ihrer Gesamtheit mißbraucht werden können.

Wenn e-Card-Befürworter damit argumentierten, daß ein solcher Mißbrauch der auf der Karte gespeicherten Daten ausgeschlossen, weil bei Strafe verboten sei, sei das so, wie wenn man vor einen riesigen, im Wald aufgehängten Honigtopf ein Schild stellte mit der Aufschrift: "Achtung Braunbären! Nicht an den Honig gehen!" Gegenüber dem früheren Chef der Betreiberfirma gematik habe er zu dieser Argumentation einmal gesagt, daß das ja eine ganz tolle Idee sei und in der Kriminalitätsbekämpfung gewiß aufgegriffen werde; schließlich stünden ja auch jede Form der Alltagskriminalität, Bankraub und Entführungen unter Strafe.

Der Referent merkte in diesem Zusammenhang auch an, daß er nicht begreifen könne, wieso die Politik dieses Problem nicht verstünde. Schließlich gehe es beim e-Card-Projekt auch um die Geheimnisse unserer Eliten, die Nierenwerte von Frank-Walter Steinmeier beispielsweise oder den HIV-Status von Guido Westerwelle, und nicht zuletzt auch den möglichen Zugriff ausländischer Geheimdienste auf die Gesundheitsdaten der ersten Riege, aber auch möglicher Nachfolger: Wer wird neuer SPD-Vorsitzender, wer Chef der Zentralbank? Die Politik scheine in dieser Hinsicht wenig drauf zu haben und so müsse festgestellt werden, daß die einst erkämpften Errungenschaften in Sachen Datenschutz etc. ganz offenbar rückabgewickelt werden.

Dr. Brunngraber während seines Vortrags, stehend - Foto: © 2014 by Schattenblick

Zugriff ausländischer Geheimdienste auf die Geheimnisse unserer Eliten?
Foto: © 2014 by Schattenblick


Ärzte und Empathie, wie paßt das zusammen?

Niedergelassene Ärzte sind, so fuhr Brunngraber fort, zum einen Geschäftsleute, die einen kleinen Betrieb führen und dementsprechend motiviert sind. Sie hätten sich allerdings auch das Berufsbild eines empathischen Arztes bewahrt, worunter eine freiberufliche professionelle Berufsausübung zu verstehen sei. Die Patienten kämen ja nicht, weil sie alles selber regeln könnten, sondern weil sie, gezwungen durch starke Schmerzen, Blutverlust etc., erwarten, daß der Arzt, die Ärztin sich auf ihre individuelle Situation einlassen und ihnen mit ihrem Fachwissen helfen, ihre Ansprüche zu formulieren und ihre Gesundheitsziele zu erreichen.

In der momentanen Gesundheitspolitik jedoch, die den Rahmen des e-Card-Projekts bildet, werde eine solche ärztliche Betreuung durch Diagnose und Behandlung ersetzt durch Versorgung. Wie Brunngraber erläuterte, orientiere sich der Versorgungsbegriff nicht an den Bedürfnissen individuell behandelter Patienten, sondern an den Verwaltungsanforderungen großer Menschenkohorten, wie sie auch in der Massentierhaltung gang und gäbe seien. Wenn zehntausend Puten zusammengepfercht in einer Halle leben, kümmert sich der Veterinärmediziner nicht darum, wie es Pute Nr. 395 geht, sondern sorgt dafür, die Kohorte mit einem Schwund von unter drei Promille zur Schlachtreife zu bringen. In einem solchen Betrieb gibt es keine Julanda und keine Gerda mehr. Dasselbe Prinzip kennen wir auch vom Militär. Im Krieg geht es beim Sanitätsdienst nicht darum, am Bett des Verwundeten zu sitzen und ihn wegen des Verlusts seines Beins zu trösten, sondern darum, die Regimentsstärke wiederherzustellen.

Im Gesundheitswesen werden die intimsten Elemente des Menschseins - Krankheiten und die mit ihnen verbundenen Schmerzen, Einschränkungen und Sorgen, aber auch die Angst vor dem Tod bzw. Sterben - einer solchen Versorgungsidee geopfert. Für das Management menschlicher Kohorten sind selbstverständlich Daten in großer Zahl erforderlich. Unter diesen Umständen spielt es überhaupt keine Rolle, daß ein Mensch über einen Datensatz überhaupt nicht sinnvoll - in Hinsicht auf eine individuelle Betreuung und Behandlung - definiert werden kann. Für die Versorgung von zehntausend Puten hingegen seien Daten über die Gewichtszunahme in den zurückliegenden vier Wochen und etwaige Keime in den Ausscheidungen der Tiere von großem Interesse; in einer solchen Versorgungsmedizin wären sie effizient und funktional.


Der ärztliche Anspruch, Partner der Patienten zu sein, wird zurückgewiesen

Der Anspruch empathischer Ärzte, die an Verschwiegenheit und individueller Betreuung im Verhältnis zu ihren Patienten festhalten, sich gegen das Projekt e-Card stellen und ihre Tätigkeit in einem solchen Massenbetrieb nicht ausüben wollen, werde Brunngraber zufolge vom politischen System zurückgewiesen. Wie der Medizinhistoriker Prof. Unschuld einmal gesagt habe, benötigte der Staat im 19. Jahrhundert in Industrie und Militär Menschenmassen für seine nationalstaatlichen wie wirtschaftlichen Zwecke, wobei Gesundheit bzw. das Gesundheitssystem nicht mehr Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck eines starken Staates wurden. [2] Da sich die Menschheit derzeit angeblich in einer Phase befände, in der es zuviele Menschen gibt, werde die Ärzteschaft von der Politik nicht mehr als Wahrerin staatlicher Interessen gesehen, sondern sogar beschuldigt, an dem "demographischen Chaos" mitschuldig zu sein. In dieser Ratio gäbe es zuviele ältere, rentenbeziehende oder anderweitig Ansprüche stellende Patienten und Bürger, weshalb der Ansatz von Ärzten, die Partner ihrer Patienten sein wollten, von vornherein bestritten werde.

Um eine hausärztliche Versorgungsmaschinerie in Mecklenburg-Vorpommern zu schaffen, müsse die Krankheit des einzelnen Patienten nicht direkt rekonstruiert werden. Es würde genügen, die Differenz seiner persönlichen Gesundheitsdaten von den Durchschnittsdaten eines Durchschnittspatienten zu ermitteln. Für das Versorgungskonzept wäre es ausreichend, Angaben zu einer Person "Delta" zu machen, die kleiner oder größer ist als der Durchschnittspatient, mehr oder weniger raucht und ißt und so weiter. Deswegen sei, so Brunngraber, das ganze Projekt e-Card völliger Schrott, aber von zentraler Bedeutung für die Durchsetzung dieser neuen Perspektive gesundheitspolitischer Vereinheitlichung. Aus ärztlicher Sicht gleiche das, was mit der e-Card installiert werden soll, dem Übergang freier, zumeist im Familienbetrieb geführter Optiker zu einer mittelständischen Dienstleistungsarchitektur mit Filialketten und Franchisingsystemen, die nach betriebswirtschaftlichen Maßstäben organisiert werden und ihre Produktionsprozesse unter das Primat der Rendite-Erwirtschaftung stellen.


Vertraulichkeit zwischen Arzt und Patient - eine altmodische Erscheinung?

Den Protagonisten dieser Entwicklung gehe es "am Gesäß vorbei", was mit den Patienten, die in die Praxen niedergelassener Ärzte kämen, geschähe und wie es ihnen gehe. Gegenüber den administrativen Anforderungen der neuen Versorgungslogik stellten Prinzipien wie Vertraulichkeit zwischen Arzt und Patient eine altmodische Erscheinung dar, ein vollkommen überflüssiges Relikt aus längst vergangener Zeit. Das habe zur Folge, wie der Referent erläuterte, daß die Argumente kritischer Ärzte, die auf Verschwiegenheit bauen wollten und darauf, daß Patienten sich ihrem Arzt anvertrauen können, ohne daß irgend etwas davon auf Twitter erscheint, von vielen Menschen a) nicht geglaubt und b) nicht mehr als real empfunden werden. Brunngraber erläuterte dies damit, daß sich heute viele Menschen, vor allem junge Leute den Gesundheits-Apps, die den Markt überschwemmten, anvertrauten. Sie ließen sich Sensoren am eigenen Körper installieren, die ihre Bewegungen und alles mögliche kontrollierten, in der Vorstellung, eine solche Mikroelektronik wäre so etwas wie ein guter Hirte, der einen durchs Leben führt.

Selbstverständlich handele es sich bei diesen Algorithmen um vollkommen geistlose Wenn-Dann-Schaltungen, was aber von den jüngeren Generationen nicht mehr als der Schrecken sozialer Kälte empfunden wird. Dieser Haltung stünden wir Ärzte, wie der Referent anmerkte, manchmal ebenso ratlos gegenüber wie der heute von vielen Menschen gegenüber abgehörten Telefongesprächen eingenommenen Haltung, die in der Frage gipfelt: Ja, was sollen die schon rauskriegen, was ich am Telefon bespreche? Daß die angeblich banalen abgehörten Gespräche keine Banalität sind, sondern ernste und gefährliche Folgen für die Betroffenen nach sich ziehen können, werde, wie Brunngraber befürchtete, wohl erst wirklich verstanden, wenn ein Mensch diesen Machenschaften selbst zum Opfer gefallen ist.

Die ärztlichen Argumente gegen das e-Card-Projekt werden innerhalb der Gremien berufsständischer Selbstverwaltung im kassenärztlichen wie allgemeinen ärztekammerlichen Bereich zwar angenommen und in "Stoppt die e-Card"-Beschlüsse umgesetzt, dann aber doch administrativ als störend empfunden und beiseite gelegt. Wenn in der Kassenärztlichen Bundesvereinigung der Beschluß gefaßt wird, daß die Kassenärzte die Einführung des ihnen mit dem e-Card-Projekt auferlegten Versichertenstandardmanagements ablehnen, hieße das noch lange nicht, daß sich die Vereinigung tatsächlich auf diesen politischen Konflikt einließe und eine der Politik konträre Position beziehe.

Offenbar sei es doch so, resümierte der Referent, daß, wie sich auch bei der Atomkatastrophe in Fukushima gezeigt habe, über einen Wandel erst nachgedacht werde, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Eine echte Problemeinsicht entstünde wohl erst, wenn es richtig weh tut, und so könne es passieren, daß das e-Card-Projekt erst einmal weiter gebaut werden müsse. Es gäbe allerdings auch die begründete Hoffnung, daß es an sich selbst scheitern wird, da ein so umfassendes Kontrollsystem immer wieder weitere Unkosten und Komplikationen generieren wird. Deshalb würden die "Stoppt die e-Card"-Aktivisten in ihren Bemühungen nicht nachlassen. Auch wenn wir eigentlich ein Systemversagen prognostizieren, so Brunngraber, halten wir es für unverzichtbar, dennoch weiter gegen das Projekt zu kämpfen, wobei es wichtig sei, sich über die Bedeutung der einzelnen Argumente im klaren zu sein.


Und wenn die Einwände der Kritiker ausgeräumt werden
würden?

Gesetzt den Fall, der Staat würde die von den Kritikern erhobenen Vorwürfe ausräumen und zu diesem Zweck einen noch größeren Aufwand betreiben, würde dies das Projekt dennoch nicht legitimieren können, so die Stellungnahme des Referenten. Auf dieser Ebene könne dem Projekt und seinen Betreibern und Befürwortern allerdings ein Spiegel vorgehalten werden, doch sollte seitens der an den Protesten gegen die e-Card beteiligten Kolleginnen und Kollegen nicht die Frage vernachlässigt werden, wie es gelingen könne, mehr Patientinnen und Patienten, also die eigentlich Betroffenen, mit ins Boot zu holen.

Aktuellsten Informationen der Ärztezeitung zufolge soll im Dezember der Referentenentwurf eines E-Health-Gesetzes vorgelegt werden, durch das erste Funktionen der elektronischen Gesundheitskarte wie der automatische Abgleich von Versichertenstammdaten in den Arztpraxen nutzbar gemacht werden sollen. [3] Brunngraber hatte in seinem Vortrag darauf aufmerksam gemacht, daß beim Versichertenstammdatenmanagement versucht wird, den ärztlichen Widerstand durch sogenannte Transaktionsgebühren einbrechen zu lassen. Die Praxen würden für jeden Datensatz, den sie oder andere Ärzte managen, 6, 10 oder 30 Cent bekommen. Wenn der Preis stimme, werde irgendwann auch die Prinzipientreue nachlassen.


Gegen "monetäre Köder" nicht immun

Zum Abschluß seines Referats thematisierte Brunngraber die relative Schwäche des gegen das Mammutprojekt bislang entwickelten ärztlichen Protests und sprach von "monetären Ködern", die weitaus mehr Wirkung zeigten als Gegenargumente etwa der Art, daß das Ganze doch gar nicht so schlimm sei. Es gäbe zwar einen Widerspruch zwischen dem e-Card-Projekt und den primären ärztlichen Ansprüchen und Absichten, doch diese Spannungen und Kopfschmerzen ließen sich mit viel Geld aus dem Weg räumen, so die kritische/selbstkritische Einschätzung des Referenten, der seine Ausführungen mit einer, wie er sagte, etwas oszillierenden Prognose beschloß.

Von der Sachlage her gäbe es keine Zweifel daran, daß die ärztlichen e-Card-Kritikerinnen und -Kritiker ein berechtigtes, zentrales, bürgerliche Freiheiten verteidigendes und die Belange künftiger Generationen berücksichtigendes Interesse verträten und dazu auch legitimiert seien. Auf der Gegenseite gäbe es jedoch eine, wie Brunngraber es nannte, "Kraft des Systems", die nicht mit guten Argumenten, sondern mit Mammon, Sachzwängen und Verlockungen agiere. Das Spiel sei noch nicht gelaufen, die Gegenseite habe keineswegs gesiegt, so der Referent, der mit diesen Schlußworten die Stimmungs- und Interessenlage der Podiumsbeteiligten wie auch der übrigen Anwesenden genau getroffen haben dürfte.

Die Podiumsrunde - Axel Brunngraber spricht stehend - Foto: © 2014 by Schattenblick

Engagierte Diskussion - Silke Lüder, Kai-Uwe Steffens, Rolf Lenkewitz, Christoph Kranich und Axel Brunngraber (v.l.n.r.)
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] Siehe den Bericht zum Einführungsvortrag von Silke Lüder im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN → REPORT:
BERICHT/019: E-Cardmedizin - Brücke der Umlastdienste ... (SB)

[2] Siehe das Interview mit Prof. Unschuld vom 18. April 2012 im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN → REPORT:
INTERVIEW/013: Das System e-Card - Paul Unschuld zur Ökonomisierung des Gesundheitswesens (SB)

[3] http://www.aerztezeitung.de/praxis_wirtschaft/gesundheitskarte/article/873449/gesundheitskarte-aerzte-lehnen-datenabgleich-praxis-ab.html?sh=1&h=-1557634110


Bisherige Beiträge zum Aktionstreffen "Medizin statt
Überwachung" in Hamburg im Schattenblick unter

www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN → REPORT:

BERICHT/018: E-Cardmedizin - Vorwand, Plan und Wirklichkeit ... (SB)
BERICHT/019: E-Cardmedizin - Brücke der Umlastdienste ... (SB)
INTERVIEW/033: E-Cardmedizin - Umlast und Bezichtigung ...    Manfred Lotze im Gespräch (SB)

21. November 2014