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BERICHT/022: E-Cardmedizin - entmündigt ... (SB)


Die elektronische Gesundheitskarte - kein Streitfall für Juristen

Vortrag von Dr. phil. nat. André Zilch beim Aktionstreffen "Stoppt die e-Card" - "Medizin statt Überwachung" am 31. Oktober 2014 in Hamburg


Der Referent in Großaufnahme - Foto: © 2014 by Schattenblick

Dr. André Zilch
Foto: © 2014 by Schattenblick

Am 18. November 2014 traf das höchste deutsche Sozialgericht eine Entscheidung zur elektronischen Gesundheitskarte. Der 1. Senat des Bundessozialgerichts befand, daß die dem Patienten auferlegte Pflicht, seiner Krankenkasse ein Foto für die e-Card zur Verfügung zu stellen, der darin implantierte Speicherchip und der den Arztpraxen auferlegte Datenabgleich zwischen Chip- und Krankenversicherungsdaten rechtmäßig seien, auch wenn auf diese Weise in das informationelle Selbstbestimmungsrecht eingegriffen werde. Zur Begründung führten die Bundessozialrichter an, daß dieses Recht "nicht schrankenlos" gelte, die per Gesundheitskarte vorgenommenen Eingriffe sind nach Ansicht des Senats "durch überwiegende Allgemeininteressen" gerechtfertigt. [1] Für die e-Card-Gegnerinnen und -gegner stellt diese Entscheidung keineswegs einen Dammbruch dar. Aus ihrer Sicht dürfte sich das Bundessozialgericht mit dieser nicht an der Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Bürgerinnen und Bürger, sondern den "Allgemeininteressen" orientierten Entscheidung selbst kompromittiert haben.

Für ihre Bemühungen und Anstrengungen, der ab 1. Januar kommenden Jahres bevorstehenden Verschärfung der Situation durch Aufklärung und Protest entgegenzuwirken, dürfte dieses Gerichtsurteil sogar als zusätzlicher Ansporn wirken, offenbart es doch eine tiefe Diskrepanz zwischen den Rechten und Ansprüchen betroffener Bürgerinnen und Bürger und einer Verfassungs-, Rechts- und Sozialrealität, die im Erleben vieler Menschen mehr als zu wünschen übrigläßt. Wurde die Einführung der e-Card seinerzeit mit den Interessen der Krankenversicherten begründet, die sich ihr Einverständnis durch die in Aussicht gestellte Option abringen ließen, durch ein solches Datensystem könne ihnen im Notfall besser und schneller geholfen werden, scheint die Zahl derer, die die e-Card als Bedrohung empfinden, ständig zu wachsen.

In die Einführung der e-Card und - damit engverzahnt - dem als Effizienzsteigerungsprojekt ausgewiesenen telematischen Großprojekt einer Zentralerfassung und -verwaltung medizinischer Patientendaten sind selbstverständlich auch die Angehörigen der beteiligten Berufsstände involviert. Namentlich in der bundesdeutschen Ärzteschaft regten sich von der Stunde Null an Ablehnung, Protest und Widerstand. Wenngleich dieser nicht ganz so einhellig ausfällt, wie es aus Sicht der Mitglieder und Unterstützer des 2007 gegründeten Aktions- und Initiativenbündnisses "Stoppt die e-Card", dem mittlerweile 54 Organisationen angehören, wünschenswert wäre, steht doch außer Frage, daß zugunsten einer dringend gebotenen gesellschaftlich kontroversen Debatte über Sinn und Unsinn der e-Card und des Telematik-Vorhabens den öffentlich in Erscheinung tretenden Stimmen einer kritischen Ärzteschaft womöglich eine Schlüsselrolle zukommen könnte.


Bietet die e-GK eine sichere digitale Identität?

Zu den Vorträgen, die auf der Diskussionsveranstaltung "Stoppt die e-Card - Medizin statt Überwachung" am 31. Oktober 2014 in Hamburg von verschiedenen Expertinnen und Experten gehalten wurden, um über den aktuellen Stand der Auseinandersetzungen und Projektumsetzung aufzuklären wie auch ihre Hintergründe kritisch zu beleuchten, gehörte ein Referat von Dr. phil. nat. André Zilch zu der Frage "Bietet die e-GK eine sichere digitale Identität?" Dr. Zilch ist Experte in Sachen Identitätsmanagement. Seine berufliche Vita weist ihn seit Juni 2003 als Inhaber der Firma LSc LifeSciences aus, die Beratung für IT-, Qualitäts- und Informations-Management in Life-Science-Unternehmen anbietet. Seit Juni 2005 ist Dr. Zilch als Geschäftsführer der ValiPic (Deutschland) GmbH, ebenfalls mit Sitz in Eppstein, tätig. [2]

Bei der ValiPic (Deutschland) GmbH handelt es sich um eine "Forschungs- und Entwicklungsgruppe, die sich auf die Registrierungs- und Identifizierungsprozesse für große Volumina spezialisiert" habe. Nach eigenen Angaben profitiert ValiPic von der "großen Stärke" ihres Geschäftsführers André Zilch, "zukünftige Märkte frühzeitig erkennen zu können, um aus sich abzeichnenden Entwicklungen und Technologien Nutzen für das Unternehmen zu ziehen". [3] Zilch war nach seinem Studium, währenddessen er seine berufliche Karriere im Pharma- bzw. Gesundheitswesen bereits begann, bei IBM für das Beratungsgeschäft Pharma/Gesundheitswesen in Zentraleuropa tätig, wo er mit Gründung des Beratungsunternehmens LSc ausschied. Zwei Jahre später meldete er das ValiPro-Verfahren zum Patent an und lagerte es in die Firma ValiPic aus. [4] ValiPro stellt nach Firmenangaben die "passende Lösung zur Identifizierung von natürlichen und juristischen Personen für neue Service-Angebote wie De-Mail, Banking und die eGK: vollelektronisch - rechtssicher - verbindlich" dar. [5] Der elektronischen Gesundheitskarte ist auf der Webseite der ValiPic GmbH ein eigenständiger Beitrag gewidmet, in dem klargestellt wird, welche Leistungen das Unternehmen in Sachen e-Card anbietet [6]:

Durch die TÜV-IT Zertifizierung von ValiPro nach dem Signaturgesetz können Versicherte beim ValiPro-Partner Lichtbilder für die eGK entsprechend den gesetzlichen Anforderungen erstellen, administrative Daten erfassen und ihre Identität bestätigen lassen.
Der ValiPro-Partner übermittelt im Versichertenauftrag diese geprüften und bestätigten Daten einschließlich Lichtbild an die jeweilige Krankenkasse.
ValiPro stellt den Krankenkassen eine Schnittstelle zur elektronischen Annahme der Daten zur Verfügung. Dies spart den Krankenkassen Aufwendungen für Scandienste und Nachbearbeitung, die bei herkömmlichen papierbasierenden Verfahren unvermeidlich sind. Alternativ können die Daten durch ValiPro auch auf dem Papierweg übermittelt werden.

Auf der Hamburger Veranstaltung des Aktionsbündnisses "Stoppt die e-Card" konnte mit Dr. Zilch ein IT-Experte präsentiert werden, der die gravierenden Mängel der bestehenden e-Card fachkompetent darlegte und, auch für IT-Laien verständlich, einen Einblick in die Problematik gab. Kai-Uwe Steffens vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung und selbst Informatiker wies einleitend darauf hin, daß die Befürworter der elektronischen Gesundheitskarte damit argumentierten, daß die Karte mit einem Foto des Versicherten versehen werde, damit kein Mißbrauch stattfände und wirklich nur derjenige eine Leistung in Anspruch nehmen könne, der auch versichert ist. Zu der Frage, ob die e-Card tatsächlich ein sicherer Identitätsnachweis sei oder nicht, nahm Dr. Zilch ausführlich Stellung und machte deutlich, warum dies bei dem bestehenden e-Card-System seiner Auffassung nach nicht der Fall ist.

Dr. Zilch vor Darstellung einer Nachricht mit der Überschrift 'Schock-Test! - So leicht rücken Kassen intime Daten raus' - Foto: © 2014 by Schattenblick

Ungeschützte Patientendaten im digitalisierten Gesundheitswesen
Foto: © 2014 by Schattenblick

Um zu veranschaulichen, daß mißbräuchliche und illegitime Datenzugriffe auf Personendaten nicht etwa nur eine theoretisch bestehende Option, sondern bereits Bestandteil heutiger Cyber-Kriminalität sind, griff der Referent dementsprechende Pressemeldungen auf. Die Kölnische Rundschau berichtete am 30. Oktober von einer mutmaßlichen Betrügerbande [7], die u.a. beschuldigt wird, Krankenkassen betrogen zu haben, indem sie Dutzende Schein-Identitäten von Arbeitnehmern fiktiver Firmen mit fiktiven Arbeitsverträgen schuf, und, basierend auf Krankheits- oder Berufsunfähigkeitsbescheinigungen eines beteiligten Mediziners, Krankengelder kassierte. Zilch erläuterte dazu, daß den Krankenkassen die als sicher geltenden Fotos für die Krankenkassenkarten geschickt wurden, wobei davon auszugehen sei, daß die Fotos einfach aus dem Internet heruntergeladen wurden. Vor der Gefahr, daß ein beliebiges Foto an eine Krankenkasse geschickt wird, um auf diese Weise zu einer e-Card mit dem entsprechenden falschen Konterfei zu kommen, habe er seit Jahren gewarnt.

Bei einem weiteren Fall sei es, wie es bei www.golem.de, einer Webseite, die nach eigenen Angaben "IT-News für Profis" bereitstellt, hieß [8], einem "professionellen Anbieter von Datenschutz-Dienstleistungen" bei einer großen und bekannten Krankenkasse gelungen, sich auf deren Internetseite Zugang zu den Patientendaten eines gesetzlich Versicherten, einem für die Rheinische Post arbeitenden Journalisten, zu verschaffen und dessen Patientenquittungen über ärztliche Behandlungen, Diagnosen und verordnete Medikamente einzusehen. Laut www.golem.de habe die Kasse bereits angekündigt, "die internen Kontroll- und Sicherheitsvorschriften zu überprüfen und gegebenenfalls zu verschärfen". Ein Firmensprecher wies die Kritik zurück und erklärte, daß sich die Sicherheitssysteme zum Schutz der Versichertendaten auf höchstem Niveau befänden und daß der beschriebene Fall "konstruiert und gewollt" sei und "in Wirklichkeit" ein unbefugter Zugriff "kriminelle Energie und eine entsprechende Handlung" voraussetze. [8]

In seinem Vortrag machte Zilch deutlich, daß sich seiner Auffassung nach ein solcher Zugriff bei jedem Versicherten nicht nur dieser, sondern sehr vieler Krankenkassen, auf deren Webseiten elektronische Patientenquittungen eingesehen werden können, durchführen ließen. Weder der Versicherte noch die Kasse würden diese Angriffe bemerken, weil sie nicht wie bei klassischen Hacker-Methoden Spuren im System hinterließen. Bei solchen Angriffen werde eine falsche Identität vorgetäuscht, wozu keine IT-Fachkenntnisse erforderlich seien und es genüge, Namen, Geburtsdatum und Versichertennummer zu kennen. Der Angreifer könne sein eigenes Konterfei auf den Namen des anderen hochladen und sich auf dessen Namen eine Gesundheitskarte mit dem eigenen Foto ausstellen lassen.

So könnten Mißbrauchsfälle entstehen, die eigentlich genau dadurch, daß die e-Cards mit Fotos der Versicherten versehen werden, hätten verhindert werden sollen. Im Fachjargon eines Experten im Identitätsmanagement betrifft das Fragen der Identifizierung bzw. Authentisierung. Zur Erläuterung führte der Referent aus, daß eine Identifizierung die Gesamtheit der einen Menschen oder auch einen Gegenstand kennzeichnenden individuellen Merkmale sei. In Hinsicht auf eine digitale Identität müsse unterschieden werden zwischen abtrennbaren (z.B. Name, Versicherungsnummer) und nicht-abtrennbaren Merkmalen (Gesicht, Iris, Venenscan). Da die Gesundheitskarte abtrennbare Merkmale enthalte, bedürfe sie der Authentisierung, also der Bestätigung der angegebenen Identität durch eine dazu autorisierte Person.

So wird beispielsweise einem Klinikarzt von der Klinik, in der er arbeitet, ein Betriebsausweis ausgestellt; den kann er sich nicht selbst ausstellen. Genau das geschieht allerdings bei der elektronischen Gesundheitskarte. Die Versicherten schicken ein Bild von sich selbst ein. Sie bestätigen also ihre eigene Identität, was, so Zilch, wie jede Selbstbestätigung juristisch überhaupt keinen Wert habe. Mit einem normalen Ausweis läßt sich die Identität nachweisen, weil zuvor eine zur Authentisierung berechtigte Person die Zuordnung zwischen Ausweis, Bild und Unterschrift und dem betreffenden Menschen durchgeführt hat.

Dr. Zilch steht vor Schaubild mit der Frage 'Was ist Identifizierung und Authentisierung?' - Foto: © 2014 by Schattenblick

Fundamentale Begriffe des Identitätsmanagements
Foto: © 2014 by Schattenblick

Laut Gesetz solle die Gesundheitskarte als Authentisierungsinstrument dienen, wofür der Begriff "digitales Zertifikat" eingeführt worden sei. Darunter sei ein elektronischer Ausweis zu verstehen, ein Datensatz, der bestimmte Eigenschaften einer Person - seine Identität und seinen Versicherungsstatus - bestätigt. Gerade das Foto scheint den Nachweis zu erbringen, daß der Abgebildete tatsächlich derjenige ist, den er vorgibt zu sein. Doch wie soll nun die Zuordnung der e-Card zu der Person, die in einer Arztpraxis erscheint, erfolgen? Versuche, dafür einen PIN einzusetzen, sind fehlgeschlagen. Um eine Verbindung zwischen Mensch und Karte herzustellen, kommen nur noch Foto oder Unterschrift in Frage. Die Gesundheitskarte werde als ein digitales Zertifikat benutzt, in dessen Chip Daten wie Name und Vorname des Versicherten hinterlegt sind, und doch erkläre das Bundesgesundheitsministerium, die e-Card würde die Identität des Versicherten in rechtlicher Hinsicht gerade nicht bestätigen.

Die Versichertenstammdaten, um die es dabei geht und die in der Telematik-Infrastruktur im Versichertenstammdatendienst (VSD) zentral verwaltet werden, sollen, wie einer von Dr. Zilch mitverfaßten gutachterlichen Stellungnahme zu entnehmen ist [9], über "den allgemeinen Kenntnisstand vieler Beteiligten hinaus" weit mehr Informationen enthalten als im sichtbaren Bereich der e-Card aufgebracht wurden (Name, Vorname, Versicherungsnummer). Im Versichertenstammdatensatz seien Angaben enthalten, die dem Sozialdatenschutz unterliegen, beispielsweise darüber, ob der Versicherte an Disease-Management-Programmen teilnimmt, wie es in dem von Zilch mitverfaßten Gutachten vom 11. September 2014 hieß.


Wie ist es um den Schutz sozialer Daten bei der e-Card bestellt?

In seinem Vortrag wies Zilch darauf hin, daß bereits 1994 im Tätigkeitsbericht des Landesdatenschützers Brandenburgs gestanden habe, daß vor einem Zugriff auf Sozialdaten bzw. einer Datenübermittlung die Identität der Verfahrensbetroffenen festgestellt werden müsse, was bei telefonischen Auskünften generell nicht möglich, in dem eingangs geschilderten Fall jedoch geschehen sei. Da wurde bei der Kasse angerufen und gesagt, ich bin Müller, Meier oder Schulze und wohne jetzt woanders.... Bei der e-Card stelle man schnell fest, daß eine Identitätsprüfung überhaupt nicht stattfindet, und da helfe es auch nichts, wenn bei der Kasse, um die Sicherheit zu erhöhen, die Kontonummer mit angegeben werden soll.

Beim Schutz sozialer Daten sei, so fuhr Zilch fort, die Inkaufnahme von Verstößen auch in Einzelfällen unzulässig. Ist es einmal gelungen, an Sozialdaten heranzukommen, sei das gesamte Verfahren hinfällig wie auch bestimmte Verschlüsselungsalgorithmen ausscheiden, sobald sie einmal geknackt wurden. In der Spezifikation der "Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH" (gematik) heiße es, daß vor einer Anwendung der e-Card ihre technische Nutzbarkeit und die Gültigkeit des Zertifikats geprüft werden sollen. Letzteres werde aber im Moment überhaupt nicht getan, was Zilch zufolge schon erhebliche Konsequenzen habe. Und wie ist es um die Identitätsprüfung bestellt, die in der ärztlichen Praxis vorgenommen werden soll?

Der Prozeßablauf sehe vor, daß, noch bevor die e-Card in der Arztpraxis überhaupt in das Chip-Karten-Lesegerät eingeschoben werden darf, der Arzt bzw. die Ärztin oder die Helfer eine Identitätsprüfung vornehmen. Da geschehe dann folgendes: Das auf der e-Card vorhandene Bild wird mit der Person, die vor einem steht, verglichen. Einen PIN gibt es nicht. Im Zweifelsfall, so hieß es aus dem Gesundheitsministerium, solle man sich den Ausweis zeigen lassen. Der Haken dabei bestehe darin, daß es dafür keinerlei Rechtsgrundlage gibt und Ärztinnen und Ärzte die Sicherheitskriterien eines Ausweises gar nicht kennen. Sie seien darauf angewiesen, daß die Angaben auf der e-Card wie auch das Lichtbild und die Unterschrift stimmen.

Wenn nun die Karte ins Lesegerät gesteckt wird, könne ihre technische Funktionsfähigkeit geprüft werden, die Gültigkeit des auf ihr gespeicherten digitalen Zertifikats jedoch schon aus rechtlichen Gründen nicht, so die Argumentation des Referenten, weil dafür die Identität des Versicherten irgendwann einmal durch eine autorisierte Person hätte festgestellt werden müssen, was aber nie geschehen ist. Die e-Card könne mit Lichtbild und Unterschrift des (angeblich) Versicherten versehen werden, doch wenn diese Merkmale niemals von befugter Stelle direkt zugeordnet wurden, nützen noch so viele technische Purzelbäume hinterher nichts, um diesen fundamentalen Mangel zu beheben. Der Anfang sei schon falsch.

Wie Zilch berichtete, habe er sich über dieses Thema mit einem Staatsanwalt, der sich im Gesundheitssystem sehr gut auskenne, ausgetauscht. Der Jurist habe gesagt, daß der fehlende Identitätsnachweis bei der Ausgabe der Gesundheitskarte die gesamte Telematik-Infrastruktur kompromittiere. Selbst wenn das Ganze irgendwann mit einem PIN versehen werden würde, bliebe es dabei - egal, wie viele Stellen dieser PIN habe -, daß die Gesundheitskarte die Identität rechtlich nicht bestätigt. In dem von Zilch und der Rechtsanwältin Dr. iur. Franziska Meyer-Hesselbarth erstellten Gutachten vom 11. September heißt es dementsprechend [9]:

Die Nicht-Einhaltung der datenschutzrechtlichen Bestimmungen durch Krankenkassen bei Beantragung und Ausgabe der eGKs hat erhebliche Auswirkungen für die Durchführung von VSD in Arztpraxen. Der fehlende Identitätsnachweis kompromittiert die gesamte Telematikinfrastruktur, die somit als "datenschutzrechtlich unsicher zum Zugriff auf Sozialdaten" einzustufen ist.

Dieser fundamentale Fehler in der gesamten Telematik-Infrastruktur könnte dieser gutachterlichen Auffassung zufolge sogar strafrechtliche Konsequenzen haben. Zu der Frage, ob das Bereitstellen einer rechtlich unsicheren IT-Infrastruktur nach § 203 StGB strafbar sein könnte, gebe es bereits Dissertationen, die das bejahten. Der gutachterliche Rat an die Ärzteschaft laute daher, an einem solchen System überhaupt nicht teilzunehmen, wie dies auch dem genannten Gutachten zu entnehmen ist [9]:

Um als Arzt nicht Gefahr zu laufen, selbst gegen die Regelungen des § 203 StGB zu verstoßen, kann der Arzt nur durch die Nichtbeteiligung am VSD wegen der immanenten rechtlichen Mängel seine eigene Strafbarkeit - sei es als Täter oder Teilnehmer - sicher vermeiden. Schon die Bereitstellung einer unsicheren IT-Infrastruktur kann einen Verstoß i. S. v. § 203 StGB darstellen. Es ist nicht notwendig, dass tatsächlich ein unberechtigter Zugriff auf Sozialdaten (VSD) erfolgt. Es reicht aus, wenn ein Zugriff ohne weiteres möglich wäre.

Wenige Wochen nach der Veröffentlichung dieser gutachterlichen Stellungnahme veröffentlichte die gematik ein Gegengutachten, in dem die Möglichkeit einer Strafbarkeit beteiligter Ärzte klar verneint wird [10]:

Seit einigen Tagen kursiert in den Medien eine Meldung, dass sich der Arzt bei der Verwendung der eGK strafbar macht. Diese Meldung nimmt Bezug auf eine gutachterliche Stellungnahme von Dr. André Zilch und RAin Dr. Franziska Meyer-Hesselbarth. Diese gutachterliche Stellungnahme basiert auf veralteten Grundlagendokumenten und trifft falsche fachliche Annahmen. Zudem wird der juristische Sachverhalt nicht beschrieben, so dass eine rechtliche Auseinandersetzung mit dem Gutachten im Detail nicht möglich ist. Die Ausführungen zum subjektiven Tatbestand sind aber juristisch nicht haltbar. Eine Strafbarkeit des Arztes bei Verwendung der eGK kann ausgeschlossen werden.

Sollte die gematik mit ihrer rechtlichen Argumentation geschäftliche Interessen wahren wollen, erfolgte dies nach Maßgabe einer gesellschaftlichen Ordnung, in der gegenläufige Interessen mit juristischen Mitteln und Sanktionsinstrumenten durchgesetzt werden auf der Basis eines Staatswesens, das den Anforderungen einer kapitalistisch strukturierten Verwertungsordnung minutiös nachzukommen sucht und die Aufgabe, sozialregulativ und systemstabilisierend auch im Gesundheitsbereich einzugreifen, mitübernommen hat.

Die gutachterliche Stellungnahme von Dr. André Zilch und Dr. iur. Franziska Meyer-Hesselbarth wurde im übrigen vom Centralverband deutscher Berufsfotographen, einem Partner des 2004 gegründeten IT-Beratungsunternehmens ValiPic, in Auftrag gegeben. Daß Zilch als Geschäftsführer in einem Unternehmen tätig ist, das seinerseits Projektlösungen in Sachen e-Card offeriert, schmälert seine fachlichen Ausführungen und Argumentationen keineswegs. Gleichwohl könnten sich interessierte Laien veranlaßt sehen in Betracht zu ziehen, daß die e-Card-Schelte eines IT-Unternehmers möglicherweise nur einen begrenzten Aufklärungswert hat, weil die Spezifikationen und nicht das Projekt an sich kritisiert werden. Für viele Patientinnen und Patienten dürfte die in diesem Referat in den Vordergrund gerückte Frage der Datensicherheit nicht unbedingt an zentraler Stelle stellen, weil das e-Card-System nicht (allein) wegen eines etwaigen Mißbrauchs, sondern wegen der mit ihm geplanten vollständigen digitalen Erfassung des Menschen und seiner medizinischen Daten umstritten ist.

Dr. Zilch vor Schaubild mit der Frage 'Welche Verantwortung sollen Ärzte/innen übernehmen?' - Foto: © 2014 by Schattenblick

Hat Hippokrates diese Frage nicht längst beantwortet?
Foto: © 2014 by Schattenblick

Dr. Zilch meinte am Ende seines Vortrags, daß die Anwesenden ihm sicherlich darin zustimmen werden, daß die e-Card keine den datenschutzrechtlichen Anforderungen genügende digitale Identität biete. Er zollte den Experten der gematik Respekt, indem er sagte, sie hätten teilweise eine wirklich gute Arbeit geleistet. Mit der fehlenden Identitätsprüfung bei der Ausgabe der Karte sei aber ein fundamentaler Fehler gemacht worden. Auf die Frage des Schattenblick, ob sich nicht die Initiatoren und Betreiber des e-Card-Systems die Kritik an der fehlenden Zuordnung zu eigen machen und durch eine IT-Lösung beheben könnten, die zu noch mehr staatlicher Regulierung und Kontrolle führen würde, erwiderte der Referent, daß Ärzte, wenn ein Patient zu ihnen kommt, auf fremde Daten zugreifen müßten, um dessen Identität zu prüfen. Die Zuordnung zwischen Person und Karte sei für Ärzte extrem wichtig, weil sie auf jeden Fall einen Identitäts- und Versicherungsnachweis bräuchten, so Zilch.

Das Aktionsbündnis "Stoppt die e-Card" wäre gut beraten, in den eigenen Diskussions- und Klärungsprozessen wie auch der öffentlichen Aufklärungsarbeit die Frage zu berücksichtigen, ob der geforderte Stopp der elektronischen Gesundheitskarte bedingungs- und alternativlos gelten solle oder ob sich die Kritikerinnen und Kritiker des (heutigen) e-Card-Systems unter Umständen mit einer IT-Lösung einverstanden erklären könnten, die die in diesem Teilreferat der Hamburger Aktionsveranstaltung bemängelte fehlende Identifizierung bei der Ausgabe der e-Card - auf welche Weise auch immer - glaubwürdig zu beheben verspricht.


Fußnoten:

[1] http://www.neues-deutschland.de/artikel/952728.bundessozialgericht-bestaetigt-elektronische-gesundheitskarte.html

[2] https://de.linkedin.com/pub/andré-dr-zilch/13/754/838

[3] http://www.valipro.de/ueber-uns/

[4] http://www.nutzerinteressen.org/index.php%3Foption%3Dcom_content%26view%3Darticle%26id%3D46%26Itemid%3D53

[5] http://www.valipro.de/

[6] http://www.valipro.de/elektronische-gesundheitskarte/

[7] http://www.rundschau-online.de/koeln/razzia-gegen-betruegerbande-krankenkasse-betrogen--ford-bestohlen,15185496,28896548.html

[8] http://www.golem.de/news/barmer-gek-wie-ein-nutzerkonto-bei-der-krankenkasse-gekapert-wird-1406-107512.html

[9] http://www.adp-medien.de/index.php?id=8&tx_ttnews[tt_news]=1324&cHash=e9bfe4452f2e570b38e2753dbbd0cc16

[10] http://www.baymatik.de/app/download/5796410991/2014-09-11+-+gematik_Gegendarstellung_Gutachten_VSDM_20140926_fin-3.pdf


Bisherige Beiträge zum Aktionstreffen "Medizin statt Überwachung" in Hamburg im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN → REPORT:

BERICHT/018: E-Cardmedizin - Vorwand, Plan und Wirklichkeit ... (SB)
BERICHT/019: E-Cardmedizin - Brücke der Umlastdienste ... (SB)
BERICHT/020: E-Cardmedizin - Kontrolle, Ökonomie, Gesundheitseffizienz? ... (SB)
BERICHT/021: E-Cardmedizin - In einer Hand ... (SB)
INTERVIEW/033: E-Cardmedizin - Umlast und Bezichtigung ...    Manfred Lotze im Gespräch (SB)
INTERVIEW/034: E-Cardmedizin - Transparenz und Selbstbestimmung ...    Rolf Lenkewitz im Gespräch (SB)
INTERVIEW/035: E-Cardmedizin - Ökonomisierter Rückschritt ...    Axel Brunngraber im Gespräch (SB)
INTERVIEW/036: E-Cardmedizin - Beweisumkehr Patientenwürde ...    Gabi Thiess im Gespräch (SB)

6. Dezember 2014


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