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BERICHT/023: E-Cardmedizin - politisch profilieren, verankern und durchsetzen (SB)


e-Card - Der Kampf geht weiter

Diskussion beim Aktionstreffen "Stoppt die e-Card" - "Medizin statt Überwachung" am 31. Oktober 2014 in Hamburg


Kai-Uwe Steffens spricht stehend - Foto: © 2014 by Schattenblick

Engagierte Moderation - Kai-Uwe Steffens vom Aktionsbündnis "Stoppt-die-e-Card"
Foto: © 2014 by Schattenblick

Vor rund 30 Jahren führte die Ankündigung der damaligen Bundesregierung, an alle Haushalte Fragebögen zu verschicken, um eine die Wohn-, Arbeits- und Lebensverhältnisse der gesamten Bevölkerung erfassende Volkszählung durchzuführen, zu massiven Protesten, einer bundesweiten Boykottbewegung und schließlich einer Intervention des Bundesverfassungsgerichts. Die Durchführung der für April/Mai 1983 geplanten Volkszählung war zunächst ausgesetzt worden, am 15. Dezember 1983 erklärten die Karlsruher Richter das Projekt für verfassungswidrig und etablierten mit dieser Entscheidung das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. In stark modifizierter Form wurde die Volkszählung 1987 ungeachtet abermaliger Proteste durchgeführt, blieb jedoch bis heute die letzte ihrer Art, wofür vielfach die weitverbreitete Ablehnung in der Bevölkerung verantwortlich gemacht wird.

Sind damit aber auch alle Absichten, die technologischen Möglichkeiten des aufziehenden Informationszeitalters in den Nutzen einer digitalen Erfassung, Kontrolle und Überwachung der Bevölkerung zu stellen, ebenfalls ad acta gelegt worden? Wer diese Frage nicht uneingeschränkt bejaht, wird wie vermutlich Millionen andere Bundesbürger auch ein fundamentales Mißtrauen gegen jede Datenerhebung empfinden, die sich auf persönliche Informationen bezieht, die die Betroffenen niemals aus der Hand geben würden und schon gar nicht in eine für sie unüberschaubare und unkontrollierbare Datenstruktur eingespeist sehen möchten.

Mit dem digitalen Zugriff, der mit der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte eingeleitet wurde, da das Gesamtkonzept der damit verbundenen telematischen Infrastruktur seine Testphasen noch nicht überstanden hat, sehen sich die Bürgerinnen und Bürger nun einem Frontalangriff auf ihre Datenhoheit ausgesetzt, der die Volkszählungen früherer Zeiten weit in den Schatten stellen wird. Ein Blick in § 291a (2) SGB V (Fünftes Buch Sozialgesetzbuch) [1], in dem die Modalitäten der elektronischen Gesundheitskarte geregelt wurden, genügt, um erahnen zu lassen, welche Vision eines Gesundheitssystems, das mit dem Begriff des "gläsernen" Patienten bzw. Menschen nur zu gut umschrieben wäre, den Initiatoren dieses weltgrößten IT-Projekt wohl vorschwebt. Demnach soll die e-Card geeignet sein, Daten zu erheben, zu verarbeiten und zu nutzen, die sich auf die Bereiche Notfallversorgung, Befunde, Diagnosen, Therapieempfehlungen und Behandlungsberichte beziehen wie auch Informationen zur Arzneimitteltherapiesicherheit, Erklärungen des Versicherten zur Organ- und Gewebespende und Hinweise zu Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen.

Die Proteste gegen die e-Card bzw. das mit ihr angeschobene telematische Infrastrukturprojekt haben bislang noch nicht das Niveau der Volkszählungsboykottbewegung erreicht, obwohl der Datenzugriff noch sehr viel weiter gehen und nicht einmal vor den intimsten körperlichen wie seelischen Schwächen oder persönlichsten Lebenskonflikten eines Menschen halt machen wird. Über die Gründe des eher verhaltenen e-Card-Widerstands ist bereits vielfach spekuliert worden. Offenbar sind viele Menschen eher bereit, Einschränkungen ihrer informationellen Selbstbestimmung hinzunehmen, wenn es um ihre gesundheitliche Versorgung geht bzw. das Versprechen, im Krankheitsfall adäquate medizinische Unterstützung in Anspruch nehmen zu können. In einer Gesundheitswirtschaft, in der kranke Menschen längst zu Kunden, aber auch ihrerseits zu Leistungserbringern mutiert sind - letzteres deshalb, weil die Berechtigung, medizinische Leistungen in Anspruch zu nehmen, durch Versicherungsbeiträge, aber auch, wie es den Anschein hat, durch Wohlverhalten erwirkt werden muß -, sieht sich jeder Betroffene auf sich selbst gestellt, was solidarisches und widerständiges Handeln gerade in diesem Bereich erschwert.

Dessenungeachtet haben kritische Patienten, Ärzte, Datenschutzengagierte und Bürgerrechtler gegen das e-Card-Projekt argumentiert, agitiert und protestiert, seit es aus der Taufe gehoben wurde. Viele von ihnen haben sich in dem über 50 Organisationen umfassenden Aktionsbündnis "Stoppt-die-e-Card" zusammengeschlossen, das seine Aktivitäten mit Blick auf den unmittelbar bevorstehenden 1. Januar 2015 noch intensiviert hat, um dem massiven Druck, mit dem die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV) und der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen die 1995 - angeblich aus Kostenerspargnisgründen - als Chipkarte eingeführte Krankenversicherungskarte (KVK) zugunsten des e-Card-Projekts endgültig für ungültig erklären wollen, etwas entgegenzusetzen.

Schaubild, das Gerhard Schröder und Joschka Fischer zeigt, mit der Titelzeile 'Visionäre der Politik', im Vordergrund Dr. André Zilch und Kai-Uwe Steffens - Foto: © 2014 by Schattenblick

Schöne neue Welt 1999 - wer möchte elektronisch durchregiert werden?
Foto: © 2014 by Schattenblick


Wie weiter im Kampf gegen das e-Card-Projekt?

Im Anschluß an die informativen Kurzreferate, die im Rahmen einer am 31. Oktober in Hamburg durchgeführten Veranstaltung der Aktion "Stoppt-die-e-Card" von namhaften Experten gehalten wurden, fand unter den rund 70 Teilnehmenden eine engagierte und ihrerseits durch die Wortbeiträge anwesender Mitstreiter informative Diskussion statt. Die Frage "Was tun gegen e-Card und Telematik-Infrastruktur?" wurde immer wieder in den Mittelpunkt gestellt, wobei juristische Erörterungen der Sachlage wie auch Erfahrungsberichte über die bisherigen Bemühungen der e-Card-Gegner, die Auseinandersetzung mit den Krankenkassen vor Gericht auszutragen, einen recht breiten Raum einnahmen. Aus aktuellem Anlaß trat ein junger Mann ans Rednerpult und berichtete über seinen tags zuvor in erster Instanz fehlgeschlagenen Versuch, sich mit einer Klage vor einem Sozialgericht gegen den Zwang, der Krankenkasse für die e-Card ein Lichtbild zur Verfügung zu stellen, zur Wehr zu setzen.

2012 sei er von seiner Kasse mehrfach aufgefordert worden, ein Foto einzusenden, worauf er nicht reagiert habe. 2013 habe er nach einer abermaligen Aufforderung eine Widerspruchserklärung abgegeben, und, als dieser abgelehnt wurde, Klage beim Sozialgericht Hamburg eingereicht. Zur Begründung habe er sich auf das Volkszählungsurteil von 1983 bzw. das darin festgelegte Recht auf informationelle Selbstbestimmung berufen mit dem Argument, daß er über seine Daten selbst verfügen könne und der Kasse das Lichtbild verweigere, weil er nicht möchte, daß auf diese Weise eine Verknüpfung zwischen dem Foto und seinen persönlichen Daten hergestellt werde. Desweiteren habe er mit § 291 SGB V argumentiert, in dem zwar stünde, daß die Krankenversichertenkarte ein Lichtbild enthalten müsse, aber nicht, daß die Versicherten verpflichtet sind, ein Foto abzugeben.

Als die Richterin ihn fragte, ob er denn mit der alten Karte zufrieden sein würde, was er bejaht habe, habe der Krankenkassenvertreter klargestellt, daß die Geschäftspolitik seiner Kasse beinhalte, keine alten Gesundheitskarten mehr auszustellen und daß sie dies auch gar nicht mehr könne, ebensowenig sei die Ausgabe elektronischer Gesundheitskarten ohne Lichtbild vorgesehen. Er sei jetzt auf das Ersatzverfahren angewiesen, erläuterte der bislang erfolglose Kläger seine derzeitige Situation. Jedes Mal, wenn er zu einem Arzt gehen wolle, müsse er einen Tag vorher bei der Kasse anrufen, um sich eine papierene Bescheinigung über seinen Versichertenstatus ausstellen zu lassen, die dann genau für einen Tag gelte.

Unter den Anwesenden befand sich ein Anwalt, der sowohl das Hamburger Verfahren gegen den jungen Versicherten als Zuschauer verfolgt, als auch eigene Mandanten in ähnlich gelagerten Fällen vertreten hat. Wie er berichtete, hätten wie jetzt in Hamburg alle in der ersten Instanz zuständigen Sozialgerichte die Klagen der e-Card-Gegner abgewiesen. Einige Landessozialgerichte hätten ebenfalls bereits Entscheidungen getroffen, und ein Verfahren sei seit etwa einem Jahr beim Bundessozialgericht anhängig. Nach Einschätzung des Anwalts sei frühestens in einem weiteren Jahr mit einer Entscheidung in der Sache zu rechnen. Vorher werde sich das Bundesverfassungsgericht aller Voraussicht nach auch nicht mit dieser heiklen Thematik beschäftigen, komme ihm doch der Umstand zugute, eine abschließende eigene Stellungnahme mit dem Argument, zuvor die Entscheidung des Bundessozialgerichts abwarten zu wollen, hinauszögern zu können.

Die rechtlichen Argumente der klageabweisenden Urteile deckten sich. Seitens der Gerichte werde auf verfahrensrechtlicher Ebene geltend gemacht, daß die Klagen der e-Card-Gegner unzulässig seien, weil sie sich gegen Entscheidungen der Krankenkassen richteten, die gar keine Verwaltungsakte seien. Wie der Anwalt weiter erläuterte, begründeten die Sozialgerichte ihre ablehnenden Entscheidungen aber auch auf einer inhaltlichen Ebene. Demnach würde die geforderte Lichtbildabgabe zwar einen Eingriff in die Patientenrechte darstellen, dieser sei nach Auffassung der Gerichte jedoch nicht unzumutbar, weshalb das informationelle Selbstbestimmungsrecht nicht berührt sei. Bislang hat sich für die e-Card-Gegner der Gang an die Sozialgerichte nicht als eine den versprochenen Erfolg auch einlösende Option herausgestellt.

Dr. Axel Brunngraber [2], niedergelassener Internist in Hannover, der 18 Jahre lang als ärztlicher Richter im Sozialgericht mitgeurteilt hat und die Vorsitzenden Richter des jetzigen wie auch des vorherigen 6. Senats des Bundessozialgerichts in Kassel persönlich kennt und ihren Rechtstenor einzuschätzen weiß, bestärkte die skeptische Haltung der Diskussionsteilnehmer gegenüber den gerichtlichen Instanzen. Die höchsten Richter am Bundessozialgericht wären sehr daran interessiert, in Sachen e-Card ein höchstinstanzliches Urteil zu fällen. Da völlig prognostizierbar sei, wie dieses ausfallen würde, so Brunngrabers Einschätzung, würde er "eher eine zurückhaltende Begehung des Rechtsweges empfehlen". Sollte in Kassel eine gegen die e-Card gerichtete Klage abgewiesen werden - und sei es aus noch so formalistischen Gründen -, werde dies PR-mäßig vermarktet. In den Zeitungen würde dann nicht stehen, wie die Ablehnung zustandegekommen ist; es würde nur heißen "die e-Card ist gerecht", "e-Card-Gegner haben kein Recht bekommen" etc.

Deshalb müsse man aufpassen, nicht in diese Rechtsfalle hineinzulaufen, was nicht generell dagegen spräche, sich an die Gerichte zu wenden. Viel wichtiger sei jedoch der zivile Widerstand. Wenn man sich mit der Entwicklung der schwarzen Bürgerrechts- oder auch anderer Zivilbewegungen in den USA befaßt, werde schnell deutlich, daß sie erst in dem Moment vor den obersten US-Gerichten Recht bekommen, wenn auf den Straßen eine Menge los ist und auch die weiße US-Bevölkerung erklärt, daß sie nicht damit einverstanden ist, was da in ihrem Namen geschieht. Zurückgekoppelt auf die e-Card-Proteste in Deutschland lautete der Ratschlag Brunngrabers, die Urteilssuche vorsichtig zu betreiben, solange sie nicht mit gesellschaftlich spürbaren zivilen Protesten - in Kirchen, Gewerkschaften etc. - flankiert werden könne. Wenn es den e-Card-Gegnern nicht gelingt, das politisch zu wuppen, werden die Gerichte die Klagen auf der linken Gesäßbacke absitzen.

Ein Aktivist ging ergänzend auf die bislang in Sachen e-Card ergangenen Gerichtsurteile ein. Seiner Auffassung nach sind sie negativ für die Protestierenden ausgefallen, weil behauptet wurde, daß der in § 291a SGB V definierte Datenumfang nicht überschritten werde. Das sei aber - inzwischen in zwei Punkten nachweisbar - der Fall. Das beträfe zum einen die DMP-Kennung, also die Informationen darüber, ob der Versicherte an einem Disease-Management-Programm teilnimmt, und zum anderen den Sozialstatus des Versicherten. Er sei derzeit dabei, so erklärte der Diskussionsteilnehmer, den XML-Bereich inklusive der Zusatzdokumente, die da aufgerufen werden können, zu untersuchen, wofür er noch Mitstreiter suche. Seiner Meinung nach werde schon bei der jetzigen e-Card der erlaubte Datenumfang um ein Vielfaches überschritten.

Dr. Brunngraber vor einem Plakat zur elektronischen Gesundheitskarte - Foto: © 2014 by Schattenblick

Dr. Axel Brunngraber
Foto: © 2014 by Schattenblick

Debattiert wurden auf der gutbesuchten Hamburger Veranstaltung Fragen wie: Was kann Menschen, die nach wie vor keine e-Card haben (wollen), aus ärztlicher Sicht empfohlen werden? Stimmt es, daß man ihnen eigentlich nur sagen könne: Haltet durch und holt euch die Papierbescheinigungen, so wie es der junge Mann getan hat, um gegenüber den behandelnden Ärzten den eigenen Versichertenstatus und damit den Behandlungsanspruch nachzuweisen? Die Zwischenfrage einer Teilnehmerin, ob die Krankenkassen verpflichtet seien, eine solche Bescheinigung auszustellen, wurde mit ja beantwortet. Gleichwohl wurde deutlich gemacht, daß viele Kassen in diesem Punkt eine Hinhaltetaktik verfolgten und dieser Pflicht nicht immer sofort nachzukommen bereit sind.

Die Kassen dürften die Bescheinigung nur für einen Tag ausstellen, weil sie streng genommen nicht bescheinigen könnten, daß die Versicherteneigenschaft auch am folgenden Tag noch besteht, hieß es. Dazu berichtete ein Versicherter, daß seine Kasse ihm die Bescheinigung bislang immer für ein Quartal ausgestellt habe. Das sei, wie berichtet wurde, in der Praxis häufig so, doch viele Kassen würden mehr und mehr dazu übergehen, Tagesbescheinigungen auszustellen insbesondere dann, wenn es sich - und so habe sich ein Krankenkassenvertreter noch am Vortag ausgedrückt - um einen aktiven Verweigerer handelt. Bei all denjenigen, die sich nur noch nicht darum gekümmert hätten, würden nach wie vor Quartalsbescheinigungen ausgestellt werden, denn das sei natürlich auch für die Kassen viel einfacher. Ein Teilnehmer wollte wissen, ob ein Arzt die Behandlung ablehnen dürfe, wenn der Patient mit einem solchen Versichertennachweis zu ihm komme. Die Antwort lautete "nein", ein Zwischenrufer meinte allerdings: "Aber sie tun es nicht."


Ziviler Widerstand versus Klageweg?

Dr. Silke Lüder, Ärztin in Hamburg und Sprecherin des Aktionsbündnisses, stimmte der Auffassung zu, daß sich die Bewegung im Moment noch in einem Stadium befindet, in dem die Richter es sich leicht machen und sagen könnten: Wir äußern uns nicht zu dem Projekt, wir prüfen nur, ob Patienten die e-Card nehmen müssen. Lüder bezeichnete es als einen Ausdruck zivilen Ungehorsams, daß sehr viele Versicherte Widerspruch eingelegt hätten und daß es in ganz Deutschland eine große Zahl an Klagen gegen die elektronische Gesundheitskarte gäbe. Über diesen bundesweiten Widerstand werde in den Medien allerdings nicht berichtet. Einige e-Card-Gegner hätten den Klageweg ganz allein und ohne anwaltliche Unterstützung eingeschlagen. Einer von ihnen sei bereits auf dem Weg zum Bundesverfassungsgericht, wobei Lüder befürchtet, daß dort eventuell ein schlechtes Urteil ergehen könnte. Da sei es doch sinnvoller, einen erfahrenen Anwalt zu Rate zu ziehen und in Karlsruhe nicht sehr viele, sondern eher gezielt einige wenige Verfahren zu betreiben.

Wie Brunngraber vertraten auch die in e-Card-Prozesse involvierten Rechtsanwälte die Auffassung, daß strategische Fragen dazu, wie ab dem 1. Januar 2015 mit der Situation praktisch und politisch umzugehen sei, viel wichtiger seien als rechtliche Überlegungen. Silke Lüder erklärte zum weiteren Vorgehen des Aktionsbündnisses, es sei sehr wichtig, daß auch weiterhin auf ganz verschiedenen Ebenen gearbeitet werde. Da engagierten sich Menschen, die selbst betroffen sind, andere setzten ihre Bemühungen in Gremien und auf Ärztetagen fort. Es sei auch schon vorgekommen, daß Vertreter von Stoppt-die-e-Card als Sachverständige in einem Bundestagsausschuß gehört wurden. Lüder schlug vor, die Medien- und Öffentlichkeitsarbeit noch zu intensivieren, um mehr noch als bisher zu verbreiten, wieviele Prozesse gegen die e-Card im gesamten Bundesgebiet bereits geführt werden und daß sich ganz viele Bürgerinnen und Bürger mit dem Projekt kritisch auseinandersetzen.


Was kann man konkret ab dem 1. Januar 2015 tun?

Bei dieser Frage verwies Silke Lüder abermals auf das Ersatzverfahren, das nichts mit der elektronischen Gesundheitskarte zu tun hat. In ihrer Praxis werde das auch nach dem 1. Januar so gehandhabt. Wenn die alten Krankenversicherungskarten wie angekündigt gesperrt werden, obwohl auf ihnen steht, sie seien bis 2017 gültig, könne immer noch nach dem im Ersatzverfahren vorgesehenen Notfall verfahren werden - eine Möglichkeit, die kritische Ärztinnen und Ärzte weiterhin genauso häufig nutzen werden wie bisher. Mit dem Ersatzverfahren sind die Probleme aus Sicht der Patienten keineswegs gelöst, denn schon heute komme es vor, daß Patienten ohne e-Card in Arztpraxen beschimpft und unter Druck gesetzt werden, was eine große Belastung darstellt, die für viele Menschen und vor allem auch chronisch Kranke kaum zu bewältigen ist.

Versicherte, die dem Druck nachgegeben und den Kassen ein Foto für die elektronische Gesundheitskarte zur Verfügung gestellt haben, bräuchten jedoch nicht zu verzweifeln. Ihnen macht das Aktionsbündnis einen Vorschlag, wie der nächste Schritt aussehen könnte. Eine "Patientenverfügung zum Datenschutz" wurde bereits formuliert [3], sie soll, wie Silke Lüder ankündigte, bundesweit an praktizierende Ärztinnen und Ärzte verschickt werden mit der Idee, sie massenhaft in den Praxen auszulegen. Dabei gehe es darum, daß möglichst viele Patienten ihren Ärzten auf diesem Wege verbieten, ihre Daten außer zur Behandlung an einen anderen Arzt weiterzugeben, und ihnen erklären, daß es ein Bruch der ärztlichen Schweigepflicht wäre, wenn sie es doch täten.

Wenn ich als Ärztin 200 oder 300 dieser Verfügungen in meiner Praxisverwaltung hätte, wäre das eine große Verpflichtung, gegenüber der kassenärztlichen Vereinigung zu erklären: So läuft das nicht mit dem e-Card-System, ich kann mich nicht an eine IT-Infrastruktur, welcher Art auch immer, anschließen, so Lüder. Die e-Card mag eingeführt sein, doch das ganz dicke Ende komme erst noch, und deshalb sei das Thema ganz und gar noch nicht durch, wie viele vielleicht glaubten. Der Widerstand werde weitergehen, denn er richtet sich nicht primär gegen die kleine Plastikkarte, sondern eine Rieseninfrastruktur, die für alle Menschen gefährlich werden wird.

Dr. Lüder am Rednerpult - Foto: © 2014 by Schattenblick

Dr. Silke Lüder
Foto: © 2014 by Schattenblick


Stille und schleichende Negativfolgen

Ein auf Arbeitsrecht spezialisierter Jurist meldete sich in der Diskussion zu Wort, um sich zu dem von den Protagonisten des e-Card-Projekts bemühten Argument, durch die Lichtbildpflicht solle der Mißbrauch eingeschränkt, wenn nicht ausgeschlossen werden, zu äußern. Seiner Einschätzung nach werde es überwiegend so sein, daß die Versicherten ihre eigenen Lichtbilder einschickten und daß zwischen Foto und Versichertem auch eine mehr oder minder große Ähnlichkeit bestehe. Nach wie vor werde es möglich sein und in Einzelfällen wohl auch geschehen, daß sich Patienten mit einer fremden Karte behandeln ließen. Das zu verhindern, so der Standpunkt des Arbeitsrechtlers, sei jedoch nicht der tatsächliche Schwerpunkt und Hauptzweck des e-Card-Systems.

Wenn sich Arbeitnehmer in Zukunft, so seine Prognose, um eine Arbeitsstelle bewerben, werden sie auch aufgefordert, ihre Krankenversicherungskarte vorzulegen. Wenn der Arbeitgeber dann erklärt, ich möchte 'mal in deine Karte gucken, könne der Arbeitnehmer zwar sagen, nee, das will ich nicht, aber dann sagt der Arbeitgeber ganz einfach, okay, kein Problem, und entscheidet sich für einen anderen Bewerber. Auf dieser Ebene werde sich wahrscheinlich sehr viel abspielen, wie heute schon von Arbeitgebern, obwohl es verboten ist, nach der Schwerbehinderteneigenschaft gefragt wird. Natürlich kann ein Bewerber diese Auskunft verweigern und hat auch alles Recht auf seiner Seite, nur wird er die Stelle nicht bekommen. Dann nachzuweisen, daß die Entscheidung des Arbeitgebers auf seine Verweigerung zurückzuführen ist und deshalb ein Verstoß gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGB) vorliegt, sei sehr, sehr schwierig.

So ähnlich werde es, so die Einschätzung des Juristen, auch mit der e-Card sein. Diese Karte wird sich als ein Instrument erweisen, das noch sehr viel weiter wirkt. Wenn sie erst einmal vollständig etabliert und in Nutzung übergeführt ist, wird es für die Versicherten immer schwerer, wenn nicht unmöglich werden, noch ihre Grenzlinien zu ziehen.


Widerstand tut not

Dr. Manfred Lotze von der Hamburger Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) [4] stellte das e-Card-Projekt in einen grundsätzlicheren Rahmen, indem er es als einen Schlüssel zur Umsteuerung der Gesundheitsversorgung bezeichnete. Eine individuelle ärztliche Versorgung, basierend auf einem Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient, solle transformiert werden in ein Versorgungssystem nach Maßgabe von Kontrolle und Profitmaximierung. Dagegen anzugehen, hieße deshalb auch, sich gegen eine mit internationalen Konzernen verbündete Regierungsmacht zu stellen. Um dies zu bewerkstelligen, reiche die im bundesweiten Maßstab noch kleine Schar engagierter e-Card-Gegner nicht aus. "Wir müssen viel, viel mehr werden", so Lotze.

Um eine breitere Widerstandsbereitschaft und -fähigkeit der Bevölkerung zu erreichen, sei es wichtig, die Menschen direkt anzusprechen und mehr noch als bisher zu informieren und aufzuklären beispielsweise auch darüber, was in Staaten wie England und den USA schon heute im Gesundheitsssystem geschähe. Wie sieht der Alltag eines kranken Menschen konkret aus, der unter einer solchen Kontrolle steht und nachweisen muß, daß er medizinisch versorgt werden darf? Wie fühlt es sich an, wenn Kinder erkranken und Eltern die Sorge haben müssen, ob das für ihre Behandlung erforderliche Geld von der Krankenkasse auch zur Verfügung gestellt wird? Und wie sieht die Situation schwerkranker und sterbender Menschen aus, wenn das Solidarprinzip kaputt gemacht wird? Lotze schlug vor, mit diesen Fragen und Argumenten in die Öffentlichkeit hineinzuwirken und ihnen beim nächsten Bündnistreffen sehr viel Platz einzuräumen.

Ein weiterer IT-Experte, der bereits vor zehn Jahren Vorträge über die gesellschaftliche Entwicklung in diesem Bereich gehalten hatte, verwies diejenigen, die die Befürchtungen und Argumente der e-Card-Gegner für Paranoia hielten, auf die Enthüllungen über die NSA-Abhörpraxis. Seinerzeit sei, wer vor einer solchen Mammutüberwachung gewarnt hatte, noch als Spinner bezeichnet worden; heute habe sich längst herausgestellt, daß alles noch viel schlimmer gekommen sei als damals vermutet. Aus Sicht dieses Teilnehmers befinden wir uns bereits auf dem Weg in eine matrixfähige Diktatur. Computer seien generell dazu gebaut, Daten zu manipulieren, das sei ihre ureigenste Aufgabe. Daten seien heute für Politik und Industrie extrem wertvoll. Das träfe auch auf den Gesundheitsbereich zu, der längst Bestandteil unserer marktorientierten Produktivität geworden sei. Angesichts dessen eine Gegenpolitisierung aufzubauen, sei ungeheuer schwierig. Die Medien seien daran beteiligt, dafür zu sorgen, daß bei den Massen nicht ankommt, was wirklich läuft, da herrschten Unverständnis und Desinteresse vor.

Dr. Axel Brunngraber ergriff in der Schlußphase der Diskussion abermals das Wort. Er stellte sich aus zwei Gründen gegen die Auffassung, die bisherigen Proteste seien vergeblich gewesen, weil die Einführung der e-Card nicht habe verhindert werden können. Zum einen wies er darauf hin, daß es den Kritikern in den zurückliegenden zehn Jahren gelungen sei, dieses Riesenprojekt, in das Interessen aus Industrie und Politik hineinwirken, zum Teil für Jahre zum Stillstand zu bringen. Den beteiligten Institutionen seien die Diskussionen der Basis aufgenötigt worden, der Verzögerungsfaktor sei nicht zu unterschätzen. Wenn beispielsweise ein Bauprojekt wieder und wieder nicht fertig werde, könne es geschehen, daß eines Tages der Kran abgeholt wird. Durch den Widerstand der Ärzteschaft konnte das Projekt - und das sei der zweite Punkt - an wesentlichen Stellen abgewandelt werden. Brunngraber zeigte sich optimistisch, daß es der Ärzteschaft weiterhin gelingen werde, Einfluß zu nehmen, mit einem eigenen Votum und demokratischen Fragestellungen in die Diskussion zu gehen, so wie sie es bereits in den vergangenen zehn Jahren bewiesen hätte.

Ein weiterer Teilnehmer, ein "e-Card-Gegner der 1. Stunde", erklärte, er habe in 20 Jahren gelernt, daß man sehr viel Geduld haben müsse. Seiner Auffassung nach werden die sogenannten freiwilligen Anwendungen bei dem e-Card- bzw. Telematikprojekt von entscheidender Bedeutung sein. Die ersten Anwendungen, die voraussichtlich kommen werden, sind Notfall-Datensatz, Medikationskontrolle und elektronische Fall-Akte. Werden die Patienten tatsächlich bereit sein, dies in Anspruch zu nehmen? Wieviele von ihnen werden es bewußt ablehnen? Und gibt es überhaupt in ausreichender Menge kritische Ärzte, die wirklich darüber aufklären, was da auf die Patienten zukommt? Wenn es auf beiden Seiten, also bei Ärzten und Patienten, genügend kritische Geister gäbe, könnte dies eines Tages dazu führen, daß das gesamte Projekt - auch in finanzieller Hinsicht - in Frage gestellt werden müsse. Wird der Bundesgesundheitsminister dem Bundestag im Falle des Falles ein Gesetz vorlegen, das aus den freiwilligen Anwendungen verpflichtende macht? Doch unabhängig davon, wie die politischen Auseinandersetzungen verlaufen werden, benötigen die e-Card-Gegner einen sehr, sehr langen Atem.

Eine Patientenvertreterin schlug vor, all den Menschen, die heute schon eine e-Card haben, klarzumachen, daß sie auf keinen Fall den freiwilligen Anwendungen zustimmen sollten. Sie glaubt, daß es genügend Instrumente geben werde, "uns alle zu zwingen, diesen Anwendungen zuzustimmen". Es sei wichtig, das hohe Ausmaß an Nichtwissen zu verringern. Silke Lüder erklärte, daß die Tests für den ersten Schritt, nämlich das Versichertenstammdatenmanagement, gerade erst auf unbestimmte Zeit verschoben wurden, vielleicht werden sie Ende 2015 durchgeführt. Ihre Auswertung würde ein weiteres Jahr in Anspruch nehmen, bevor überhaupt die Signatur getestet werden könne, und dann erst würden Anwendungen wie Notfalldatensatz und elektronisches Rezept in der Praxis erprobt werden können. Den e-Card-Gegnern blieben noch einige Jahre, bis die freiwilligen Anwendungen wirklich kämen, und bis dahin könne noch sehr viel erreicht werden, so die Schlußworte Lüders.

Moderator und Referenten am Podiumstisch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Mit vereinten Kräften - Kai-Uwe Steffens, Dr. Silke Lüder, Rolf Lenkewitz, Christoph Kranich, Dr. Axel Brunngraber (v.l.n.r.)
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] http://www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/__291a.html

[2] Siehe den Bericht zum Vortrag von und das Interview mit Dr. Axel Brunngraber im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN → REPORT:
BERICHT/020: E-Cardmedizin - Kontrolle, Ökonomie, Gesundheitseffizienz? ... (SB)
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN → REPORT:
INTERVIEW/035: E-Cardmedizin - Ökonomisierter Rückschritt ...    Axel Brunngraber im Gespräch (SB)

[3] Der Text der vorbereiteten "Datenschutzverfügung für Patienten" lautet:
Hiermit nehme ich mein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung wahr. Ich widerspreche der geplanten Speicherung von Gesundheitsdaten in zentralen Großcomputern außerhalb von Arztpraxen oder Krankenhäusern.
Ich bitte Sie, meine medizinischen Daten außer zur Abrechnung nur zum Zwecke meiner Behandlung an einen anderen Arzt/Ärztin bzw. ein Krankenhaus weiterzuleiten. Jede anderweitige Verwendung sehe ich als Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht an.
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN → FAKTEN:
KASSEN/1034: e-GK Zwang ab 1.1.2015? Was tun für kritische Bürger? (Aktion Stoppt die eCard)

[4] Siehe das Interview mit Dr. Manfred Lotze im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN → REPORT:
INTERVIEW/033: E-Cardmedizin - Umlast und Bezichtigung ...    Manfred Lotze im Gespräch (SB)


Bisherige Beiträge zum Aktionstreffen "Medizin statt Überwachung" in Hamburg im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN → REPORT:

BERICHT/018: E-Cardmedizin - Vorwand, Plan und Wirklichkeit ... (SB)
BERICHT/019: E-Cardmedizin - Brücke der Umlastdienste ... (SB)
BERICHT/020: E-Cardmedizin - Kontrolle, Ökonomie, Gesundheitseffizienz? ... (SB)
BERICHT/021: E-Cardmedizin - In einer Hand ... (SB)
BERICHT/022: E-Cardmedizin - entmündigt ... (SB)
INTERVIEW/033: E-Cardmedizin - Umlast und Bezichtigung ...    Manfred Lotze im Gespräch (SB)
INTERVIEW/034: E-Cardmedizin - Transparenz und Selbstbestimmung ...    Rolf Lenkewitz im Gespräch (SB)
INTERVIEW/035: E-Cardmedizin - Ökonomisierter Rückschritt ...    Axel Brunngraber im Gespräch (SB)
INTERVIEW/036: E-Cardmedizin - Beweisumkehr Patientenwürde ...    Gabi Thiess im Gespräch (SB)

24. Dezember 2014


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