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BERICHT/026: Kostenpauschalen für die Psychiatrie - das Ringen um die Mittel ... (SB)


Neuer Anlauf zur Verhinderung von PEPP

Bündnis stellt Positionspapier am 1. September 2015 in Berlin vor


Ende nächsten Jahres läuft das Moratorium für eine verbindliche Einführung von Kostenpauschalen in der Psychiatrie ab. Ein von Attac Deutschland, der Gewerkschaft ver.di und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband initiiertes Bündnis unternimmt derzeit einen zweiten Versuch, um das in Fachkreisen höchst umstrittene 'Pauschalierende Entgeltsystem für Psychiatrie und Psychosomatik' (PEPP) doch noch abzuwenden.

"Wir dürfen die Frist des Moratoriums nicht ungenutzt verstreichen lassen, sondern müssen uns auf menschenwürdige Alternativen verständigen", meinte Dagmar Paternoga von Attac Deutschland unlängst auf einer Informationsveranstaltung in Berlin. "Wird PEPP endgültig eingeführt, verschlechtert sich die Behandlung insbesondere der Schwerstkranken und die Arbeitssituation des behandelnden Personals."


Porträt - Foto: © 2015 by Schattenblick

'Wir müssen uns auf menschenwürdige Alternativen verständigen',
Dagmar Paternoga, Attac Deutschland
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Bisher werden die psychiatrischen und psychosomatischen Einrichtungen nach Pflegesätzen unabhängig von der Erkrankung des Patienten bezahlt. An ihre Stelle sollen die PEPP-Tagessätze für Krankheitsgruppen treten. Den Gegnern zufolge bilden jedoch diese Pauschalen den tatsächlichen Behandlungsaufwand psychisch Kranker nicht richtig ab und dieser wird somit auch nicht abgerechnet.

Doch gerade bei der psychiatrischen Versorgung erfolge die Behandlung in einem viel engeren und intensiveren Kontakt des Patienten mit dem therapeutischen Team, erläuterte Cordula Kiank, die bei ver.di für Krankenhäuser, Universitätskliniken und psychiatrische Einrichtungen zuständige Gewerkschaftssekretärin im Bereich Betriebs- und Branchenpolitik. Ebenso spiele der Zeitraum, der erforderlich sei, damit es bei den Patienten zu einer Veränderung kommen könne, eine Rolle.


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'Für die Schwerstkranken ist damit die Gefahr am größten, dass sie keine adäquate Behandlung bekommen.'
Cordula Kiank, ver.di
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Da diese Faktoren künftig nicht mehr abgerechnet werden, besteht nach Ansicht von Kiank die Gefahr, dass sich die Leistungserbringer auf diejenigen Behandlungen spezialisieren, mit denen sich am Ende Gewinn machen ließe. "Für die Schwerstkranken ist damit die Gefahr am größten, dass sie keine adäquate Behandlung bekommen."


Menschen 'pauschalisiert'

"Da wird der Mensch einem Finanzierungssystem untergeordnet", empörte sich Brigitte Richter, die Erste Vorsitzende von 'Pandora', einem Selbsthilfeverein für Psychiatrieerfahrene mit Sitz in Nürnberg. Psychisch erkrankte Menschen benötigten eine eigene individuelle Zeit der Genesung, was mit einer Pauschalisierung der stationären psychiatrischen Behandlung unvereinbar sei.


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'Da wird der Mensch einem Finanzierungssystem untergeordnet'
Brigitte Richter, Pandora
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Ursprünglich sollte das neue Preissystem für den Bereich der stationären Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am 1. Januar 2015 eingeführt werden - nach zwei sogenannten Optionsjahren, die die psychiatrischen Abteilungen zur Umstellung des neuen Systems nutzen können, aber nicht müssen. Doch aufgrund heftiger Kritik von Seiten der Fach- und Wohlfahrtsverbände, von Patienten und deren Angehörigen, Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen wurde die Optionsphase bis Ende 2016 verlängert.

Den Kliniken, die das Moratorium zur Umstellung auf PEPP nutzen wollen, habe man eine finanzielle Belohnung versprochen, erläuterte Paternoga. Viele Häuser, die rote Zahlen schrieben, hätten gar keine Wahl, als mitzumachen. Für diese werden jedoch Tatsachen geschaffen, wie Richter warnte. Optieren bedeute nämlich auch, dass neue Technologien angeschafft und Mitarbeiter in die neuen Abrechnungssysteme eingearbeitet werden müssten. "Ich möchte die Kliniken sehen, die damit angefangen haben und dies wieder rückgängig machen."

Wie die Bündnispartner in einer Pressemitteilung vom 1. September warnten, droht durch PEPP die Abkehr von der bisherigen Bedarfs- zur reinen Leistungsfinanzierung. Das als vergütungstransparent und leistungsgerecht beworbene und von den Krankenkassen begrüßte Entgeltsystem sieht die Einführung von Fallpauschalen vor und rechnet vorrangig Diagnoseleistungen ab. Den Kritikern zufolge werden die Ausgaben der psychiatrischen Krankenhäuser im Sinne einer weiteren Ökonomisierung im Gesundheitswesen zu Lasten Schwerkranker gedrückt.

"Es ist eine empirisch gesicherte Erfahrung, dass die Diagnose nur 20 Prozent des erforderlichen Behandlungsaufwands ausmacht", betonte Rolf Rosenbrock, Gesundheitsökonom und Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbandes. Wenn in psychiatrischen Kliniken zeitintensive Leistungen nicht mehr abgebildet und somit auch nicht abgerechnet würden, geht dies auch zu Lasten der übrigen Akteure wie Pflegepersonal und Sozialarbeiter.


Porträt - Foto: © 2015 by Schattenblick

'Wir träumen von einer psychischen Versorgung ohne Krankenhäuser. Die gibt es nicht.'
Rolf Rosenbrock, Paritätischer Wohlfahrtsverband
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Auch würden die psychiatrischen Krankenhäuser gegenüber anderen, alternativen Einrichtungen und Leistungen begünstigt. Das wäre Paternoga zufolge schlimm für die Pflichtversorger, die die Schwerstkranken aufnehmen müssen. "Die Privatkliniken könnten sich dann die leichten Fälle, die die meiste Fallpauschale bringen, aussuchen."


US-Krankenhauskonzerne in den Startlöchern

Eine weitere Befürchtung insbesondere von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Attac ist ein Ansturm US-amerikanischer Krankenhauskonzerne auf den deutschen Markt im Zuge der Verhandlungen über das US-europäische Freihandelsabkommens TTIP. "Die scharren schon mit den Hufen", meinte Paternoga. "Dann werden wir es mit einer völlig anderen Psychiatrie zu tun bekommen."

Mit PEPP lasse sich der größte Anteil des Personalaufwands für Patienten mit schweren akuten Erkrankungen, die einer 24-stündigen stationären Behandlung bedürfen, nicht messen, heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme des Bündnisses, dem auch die Arbeitsgemeinschaft Gemeindepsychiatrie Rheinland, der Dachverband Gemeindepsychiatrie, die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie, die Initiative PEPP, die Soltauer Initiative und der Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte angehören. Es werde ein Anreiz geschaffen, in der Pflege und Therapie möglichst wenig aufwendige Patienten sprich schwerkranke Menschen stationär aufzunehmen.

Die Notwendigkeit einer Reform der derzeitigen Abrechnungspraxis in den psychiatrischen Krankenhäusern sei in Fachkreisen unbestritten. Aber ausgerechnet im stark geschrumpften stationären Psychiatriesektor, "dem letzten Auffangnetz", Kürzungen vornehmen zu wollen, bezeichnete Rosenbrock als "Schwachsinn". Wenn alle anderen Optionen wie die ambulante Betreuung nicht greifen würden, müsse es den stationären Sektor geben. "Wir träumen von einer psychischen Versorgung ohne Krankenhäuser. Die gibt es nicht."

Degressive Vergütungssätze verleiteten dazu, Patienten möglichst früh zu entlassen, warnte Rosenbrock. "Das kann richtig sein. Das kann aber auch richtig verkehrt sein. Klar ist, dass es die falsche versorgungstechnische Denkweise ist."

Im Grunde sei zu wünschen, dass die vor 40 Jahren in der Psychiatrie-Enquête, dem Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland, gemachten Versprechen realisiert würden, so der Professor. Mit der Enthospitalisierung und der Auflösung größerer psychiatrischer Kliniken seien Kernforderungen dieses wichtigen gesundheitspolitischen Dokuments, das erstmals nicht von einer Standespolitik, sondern von Patientenbedürfnissen geleitet worden sei, erfolgreich umgesetzt worden.

Anstatt "wider jeden Sachverstand" zu handeln, forderte die Allianz in ihrem Strategiepapier die Bundesregierung auf, den "fehlgesteuerten" PEPP-Prozess zu beenden. Stattdessen gelte es ein Budgetsystem zu etablieren, das eine sektorenübergreifende und koordinierte Behandlung psychisch kranker Menschen ermögliche und gleichzeitig die Dauer der stationären Behandlung therapeutisch sinnvoll verkürze, ohne Drehtüreffekte zu erzeugen.

Doch der ver.di-Gewerkschaftssekretärin Kiank zufolge ist eine solche sektorenübergreifende Behandlung im PEPP-System nicht vorgesehen. Dies könnte sich für spezifische Sondereinrichtungen wie die Institutsambulanzen negativ auswirken. "Die Schnittstellen zwischen ambulantem und stationärem Sektor sind vor allem für die Schwerstkranken von Bedeutung. Werden sie nicht abgebildet, gibt es auch keine Finanzierung."

Für ver.di als Gewerkschaft ist der Wegfall der Psychiatrie-Personalverordnung (PsychPV) ein wesentlicher Kritikpunkt am PEPP-Prozess. Sie garantiert die Standards in der Personalentwicklung und regelt das Verhältnis von Patienten zu ärztlichem, therapeutischem und pflegerischem Personal.


Mehr Ärzte, weniger Pflegekräfte

"Wir fürchten, dass es aufgrund der Erfahrungen mit den Fallpauschalen im somatischen Bereich bei notwendigen Leistungsausweitungen nicht zu einer entsprechenden Stellenvermehrung, sondern zum Stellenabbau sowie einem höheren Dokumentationsaufwand kommt, wodurch sich die Pflege und Betreuung psychisch Kranker weiter verknappe.

Kinak wies in diesem Zusammenhang auf eine diesjährige Studie mit dem Titel 'Unterbesetzung und Personalmehrbedarf im Pflegedienst der allgemeinen Krankenhäuser. Eine Schätzung auf Grundlage verfügbarer Daten'. Darin kommt Michael Simon, Professor an der Universität von Hannover, zu dem Schluss, dass in den Krankenhäusern und psychiatrischen Stationen über 100.000 Pflegekräfte fehlen. "Bisher war man von 70.000 ausgegangen", so die ver.di-Vertreterin. "Im Vergleich anderer EU-Länder-Standards müssten bei uns sehr viel mehr Kräfte eingestellt werden."

Der Abwärtstrend bei den Pflegekräften geht mit einem Aufwärtstrend bei den Ärzten einher. So ist Rosenbrock zufolge die Zahl der Ärzte in allen Kliniken seit 1992 von 92.000 auf 140.000 gestiegen. "Bei psychischen Erkrankungen spielen die Pflegekräfte oder Sozialarbeiter aber häufig eine wichtigere Rolle als die Ärzte", sagte der Professor. "Deshalb sind wir grundsätzlich gegen jede Schematisierung."


Dialogangebot

In ihrer Stellungnahme fordert das Bündnis einen strukturierten Dialog über die Zukunft der Versorgung psychisch kranker Menschen in Deutschland in der Gemeinde, im ambulanten und im stationären Sektor auf. Der PEPP-Katalog sehe eine Behandlung im heimischen Umfeld ('Hometreatment') oder eine intensive ambulante Behandlung nicht vor, obwohl diese nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen sehr wirkungsvoll und nachhaltig seien.

Es gelte ein settingübergreifendes Vergütungssystem in der Psychiatrie und Psychosomatik zu schaffen, das psychisch schwerkranke Menschen nicht benachteilige, eine sektorenübergreifende und koordinierte Behandlung ermögliche und die Verweildauer therapeutisch sinnvoll verkürze, ohne die Rückfallgefahr zu erhöhen. Eine weitere Kernforderung des Bündnisses ist die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der PsychPV.

Das Entgeltsystem war 2013 vom Bundesgesundheitsministerium per Verordnung eingeführt worden. Hält die Bundregierung an PEPP fest, müssen 2017 alle psychiatrischen und psychosomatischen Krankenhäuser auf das neue System umsteigen. Die Konvergenzphase beginnt 2019 und soll bis 2024 abgeschlossen sein.

Die großen Fachverbände der Fachgesellschaften und Verbände der Plattform Entgelt haben inzwischen dem Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe ihr eigenes Alternativkonzept zu PEPP vorgelegt. "Wir sind alle gegen PEPP", sagte Paternoga. "Da ziehen wir an einem Strang."

16. September 2015


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