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BERICHT/027: Der gläserne Patient - steter Tropfen ... (SB)


Langer Atem im Kampf gegen ein Kernstück der Gesundheitsökonomie

Strategietreffen der Aktion "Stoppt die e-Card" am 29. April 2016 in Hamburg


Die elektronische Gesundheitskarte zählt zu jenen Großprojekten, die nicht von ungefähr an den Zauberlehrling gemahnen, dem die gerufenen Geister über den Kopf gewachsen sind. Warum dieses Vorhaben trotz unzureichender technologischer Voraussetzungen, zahlloser Verzögerungen und explodierender Kosten unerbittlich vorangetrieben wird, bedarf einer näheren Klärung. Im Zuge der Kommodifizierung des Menschen verspricht das Gesundheitswesen als eine der wenigen zukunftsträchtigen Branchen expandierende Verwertungsmöglichkeiten für ein Kapital, das am Rande der unbewältigten Krise unablässig Anlagemöglichkeiten sucht. Der e-Card kommt im Kontext eines zunehmend elektronisch organisierten und verwalteten Gesundheitssystems eine zweifache Schlüsselfunktion zu, da sie als Türöffner die Ressource jeglicher Patientendaten erschließen und damit zugleich die Kontrolle und Steuerbarkeit von Individuen und Kollektiven perfektionieren soll. Aus staatlich-administrativer wie auch ökonomischer Sicht repräsentiert die e-Card mithin eine Aussicht auf künftigen Zugewinn, der gegenüber eskalierende aktuelle Probleme und immense Kosten als nachrangig eingestuft werden.

Daß der Mensch mit seiner Körperlichkeit sein intimstes Wesen und höchstes Gut assoziiert, macht den Zugriff auf diese Identität und Wertschätzung im Sinne einer restriktiven und kommerziellen Verfügung außerordentlich attraktiv. Um diesen Generalangriff auf die Privatsphäre durchzusetzen, bedarf es indessen einer Strategie der Vereinnahmung, die nicht nur die Schranken verteidigter Persönlichkeitsrechte perforiert, sondern den Zwang, die Arbeitskraft auf flexibelste Weise zum Zweck ihrer Vernutzung bereitzustellen, ideologisch in den Primat der Selbstverantwortung und -optimierung verkehrt. Vom Ensemble schädigender gesellschaftlicher Verhältnisse entkoppelt, wird Krankheit mit falscher Lebensführung gleichgesetzt und damit dem Einzelnen als persönliche Schuld angelastet. Daß diese Bezichtigung greift, zeigt der massenhafte und entufernde Drang, sich freiwillig einem neoreligiös anmutenden Gesundheitskult mit Ernährungsweisen, Bewegungspflichten und technischen Applikationen zu überantworten.

Was an der e-Card gefährlich sein soll, wo doch Gesundheit erste Bürgerpflicht ist, leuchtet folglich den wenigsten auf Anhieb ein. Der Netzaktivist padeluun von der Datenschutzvereinigung Digitalcourage sprach dazu auf dem Strategietreffen der Aktion "Stoppt die e-Card" [1] einige aufklärende Worte. Er habe die e-Card stets auf der Datenschutzebene angegriffen, doch im Kontext des letzten Big Brother Award realisiert, daß den Betreibern der Datenschutz völlig egal sei. Ihnen gehe es nicht darum, das Gesundheitssystem zu verbessern, sondern die Milliarden, die in die deutsche Gesundheitsversorgung fließen, zu verdoppeln und größtenteils in Finanzkanäle zu lenken.


In der Diskussion - Foto: © 2016 by Schattenblick

Netzaktivist padeluun
Foto: © 2016 by Schattenblick


Sand im Getriebe des Großprojekts

Dieser Herausforderung stellt sich nun schon seit neun Jahren ein fester und im Laufe der Zeit gewachsener Kreis kritischer Expertinnen und Experten der Aktion "Stoppt die e-Card". Wie deren Sprecherin Dr. Silke Lüder bilanzierte, schleppe sich das Großprojekt inzwischen seit einem Jahrzehnt hin, da eine Verzögerung auf die andere folge. Zugleich zeigten aktuelle Umfragen, daß die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger kein Vertrauen in das E-Health-Gesetz habe und Zweifel in der Bevölkerung wüchsen.

Daß auf diesem Weg schon sehr viel erreicht worden sei, belegten auch Informationen, wonach Kritik und zahlreiche Klagen von Versicherten auf seiten der Betreiber sehr wohl wahrgenommen würden. Wenn nun das Bundesministerium den beteiligten Körperschaften des öffentlichen Rechts auf gesetzlichem Weg beträchtliche finanzielle Sanktionen androhe, sei das ein beispielloser Vorgang, der von wachsenden Schwierigkeiten bei der Umsetzung zeuge.

Um diesem Anliegen Nachdruck zu verleihen, prüfe man zusammen mit dem erfahrenen Rechtsanwalt und Richter am Verfassungsgericht Berlin, Meinhard Starostik, eine Verfassungsbeschwerde gegen das Anfang des Jahres in Kraft getretene E-Health-Gesetz. Dieses übe Druck auf die kritisch eingestellte Ärzteschaft aus und führe dazu, daß der Schutz medizinischer Daten zum Nachteil der Patientinnen und Patienten nachhaltig ausgehöhlt werde.


Im Vortrag - Foto: © 2016 by Schattenblick

Silja Samerski
Foto: © 2016 by Schattenblick


"Der Patient als Datensatz"

Die Arbeitstreffen der e-Card-Gegner zeichnen sich nicht zuletzt dadurch aus, daß jeweils neue Entwicklungen referiert und die Zusammenhänge aus unterschiedlichen Perspektiven ausgelotet werden. So hielt diesmal Dr. Silja Samerski, ehemals enge Mitarbeiterin des Sozialphilosophen Ivan Illich und derzeit Dozentin an der Universität Bremen, einen Vortrag zum Thema "Der Patient als Datensatz - Digitalisierung und Überwachungsmedizin." Die Referentin entwarf eingangs die Situationsskizze einer Patientin beim Arztbesuch. Frau M. ist bestückt mit verschiedenen Wearables, mißt ihre Vitalparameter, hat einen Bewegungssensor und in ihrem Handy ein Depressions-Frühwarnsystem installiert. Sie hat zwar keine Beschwerden, doch weil ihre Geräte beim Joggen ungewöhnliche Werte gemeldet und das Analyseprogramm auf ihrem Handy erhöhte Gesundheitsrisiken ausgewiesen hat, sucht sie den Arzt auf.

Der Arzt sitzt vor seinem Computerbildschirm und spricht nicht viel mit Frau M., sondern greift direkt auf ihre relevanten Gesundheitsdaten zu. Die elektronische Patientenakte enthält die Ergebnisse des letzten Gentests, die ihr ein erhöhtes Risiko für Depression wie auch für Brustkrebs bescheinigen. Zudem hat sie mit ihrem Hausarzt das Softwareprogramm Ariba durchlaufen, wobei ihr der Risiko-Score für Herz-Kreislauf-Erkrankungen ein erhöhtes Risiko attestiert hat. Der Arzt nimmt etwas Blut ab, mißt den Puls und einige weiteren Werte, worauf er die Daten direkt in ein Computerprogramm eingibt, das den Gesundheitszustand errechnet. Über die damit einhergehenden Risiken klärt der Arzt seine Patientin auf, wobei das Programm Lebensstiländerungen wie andere Fitneßprogramme und Psychopharmaka vorschlägt. Das Ziel der digitalen Datensammlung ist erreicht.

Die Patientin Frau M. sei natürlich fiktiv, aber die verschiedenen Zutaten für ihre Geschichte seien es nicht, betont die Referentin. mHealth, E-Health, Big Data in der Medizin, Wearables und Meßstationen, Diagnose- und Entscheidungssoftware im ärztlichen Bereich wie Ariba und Risikokalkulatoren nähmen zu. Es würden immer mehr Daten gesammelt, um mit Hilfe von Algorithmen Normabweichungen vorherzusehen und vorausschauend zu behandeln. Sowohl die Behandlungen als auch die möglichen Zukünfte und die Reaktion darauf seien hochgradig programmiert. Das Versprechen bestehe darin, die Medizin zu individualisieren, Abläufe zu optimieren, Entscheidungen zu objektivieren und Prävention zu gewährleisten. Neben dem gleichermaßen wichtigen Thema des Datenschutzes stelle sich insbesondere die Frage, wie sich dadurch die Medizin, Gesundheit und Krankheit, die körperliche Selbstwahrnehmung und das Arzt-Patienten-Verhältnis verändere. Ihre These: Wir bekommen zunehmend eine Überwachungsmedizin, die Ärzte und Patienten programmiert, so daß Ärzte letztlich durch Computer ersetzt werden können.

In einem kurzen historischen Rückblick stellte Silja Samerski dar, wie das leibhaftige Subjekt zunehmend aus der Medizin verschwunden ist. Im 18. Jahrhundert war es eine sprechende Medizin: Die Patientinnen erzählten aus ihrem Leben und klagten, warum ihnen unwohl war. Ein wesentlicher Teil der ärztlichen Kunst bestand im Zuhören. Der Arzt versuchte, aufgrund des Gehörten der Natur der Patientin wieder auf die Sprünge zu helfen und verschrieb bestimmte natürliche Heilmittel. Im 19. Jahrhundert verwandelte sich der Arzt in einen Experten, der seinem Gegenüber Pathologien zuschreibt. Der Patient äußert nur noch Symptome, die der Arzt deutet und daraus auf tieferliegende Pathologien schließt. Nicht umsonst gilt die Anatomie als Geburtsstunde der modernen Medizin. So spricht der Historiker Michel Foucault von einem tiefen Einschnitt in der Geschichte der abendländischen Medizin, als die ärztliche Erfahrung zum anatomisch-klinischen Blick wird: "Die Nacht des Lebendigen weicht vor der Helligkeit des Todes." Der Patient wird zum Verstummen gebracht, sein Körper objektiviert.

Ende des 20. Jahrhunderts erfolgt der Umbruch von der klinischen Medizin zur Risikomedizin. Wenngleich nach wie vor Krankheiten individuell diagnostiziert werden, ist die Hauptaufgabe doch die Erkennung von Risikofaktoren und das vorausschauende Management von Risiken. Es geht nicht mehr in erster Linie um Heilung, sondern um Prävention. Ziel ist es nicht mehr, eine abhanden gekommene Gesundheit wiederherzustellen, sondern sich der Zukunft zu bemächtigen. Der Gegensatz zwischen gesund und krank löst sich auf, da alle ins Visier der Medizin geraten, die in der Gegenwart etwas ändern will, um zukünftige Krankheiten zu vermeiden. Vordem war ein Symptom Hinweis auf eine versteckte Pathologie, heute ist es vor allem ein Risikofaktor, so die Referentin. Das Risiko habe in der Medizin einen sehr eigenartigen Status, da es im Unterschied zu konkreten Schmerzen und manifesten Schädigungen nichtexistent sei. Es sage auch nichts über eine einzelne Person aus, sondern nur über Häufigkeiten in statistischen Populationen. So besage ein Krebsrisiko von 30 Prozent, daß man bei 100 Leben in 30 erkranken würde und in 70 nicht. Aber jeder von uns lebe nur einmal. Diese Zuschreibung von Risiken stehe im Mittelpunkt der digitalisierten Überwachungsmedizin.

Auch in der Kriminalitätsbekämpfung hielten dieselben Logiken und Techniken Einzug. So berechne das Programm Precops über Daten erfolgter Einbrüche, wo wahrscheinlich die nächsten stattfinden würden. Die Polizei verstärke dort ihren Einsatz und spreche von erfolgreicher Abschreckung, wobei die Wirksamkeit natürlich kaum nachzuweisen sei. In den USA würden beim Predictive policing neben polizeilichen Daten auch solche aus sozialen Netzwerken, Videoüberwachung und Sensoren eingespeist. Das 2014 abgeschlossene europäische Forschungsprojekt INDECT strebe eine ähnlich umfassende Überwachung zur Erfassung von abnormalem Verhalten an. Der Verdacht werde universalisiert, jeder gelte als potentieller Straftäter oder Terrorist, so Samerski.

Letztlich sei weder für die Betroffenen noch für die Anwender solcher Überwachungssysteme nachvollziehbar, warum jemand als risikoträchtig gilt, zumal die Menschen nicht mehr unbedingt anhand sichtbarer Merkmale, sondern biometrischer Daten und statistischer Artefakte wie Konsumverhalten oder Bewegungsmuster klassifiziert würden. Die präventive Verurteilung werde in Algorithmen verpackt und automatisiert. So werde an der Grenze zwischen den USA und Mexiko das System Avatar, ein virtueller Agent für Wahrheitsbeurteilung in Echtzeit eingesetzt, der Einreisende befragt und screent. In der Schweiz sei das Risikoprogramm Fortress im Einsatz, das ohne Kenntnis der Person nur anhand von Daten über die Sicherheitsverwahrung von Gefängnisinsassen entscheidet. Da diese Entscheidungen als objektiv gelten, seien sie ihrer ethischen Dimension beraubt. Man könne von einer organisierten Verantwortungslosigkeit in der hochtechnisierten Gesellschaft sprechen, da niemand mehr die Verantwortung für das übernehme, was Menschen angetan wird.

Auch in der Medizin gelten in zunehmendem Maße Patienten aufgrund bestimmter Datenkombinationen als verdächtig - krankheitsverdächtig. Auch hier führe der Versuch, die Zukunft vorwegzunehmen, zur unbegrenzten Überwachung. Gegen die Verdächtigung einer künftigen Krankheit seitens des Arztes könne man sich kaum wehren, zumal angesichts der Drohung, an einer späteren Krankheit selbst schuld zu sein, freiwillige Selbstkontrolle gefordert sei. Das ärztliche Urteil werde zunehmend ersetzt, der Arzt verwandle sich in einen Datenmanager, Diagnosen und Therapien würden kalkuliert. Die Patienten seien nur noch Datensätze, die vom Computer errechneten Diagnosen immer nur Wahrscheinlichkeiten. Ärztliches Handeln am leibhaftigen Patienten ließe sich nur dann erhalten, wenn das Wissen um diese Kluft zwischen Risikokalkulation und ärztlichem Urteil bestehen bleibe, schloß die Referentin ihren Vortrag.


Im Vortrag - Foto: © 2016 by Schattenblick

Andre Zilch
Foto: © 2016 by Schattenblick


Sicherheitslücken auf dem Prüfstand

Nach diesem Blick aus einer medizinsoziologischen Perspektive trug der Datenschutzexperte Dr. Andre Zilch die aktuellen Ergebnisse seiner Recherchen vor. Nachdem er nachgewiesen hatte, daß die Übereinstimmung von Bild und Personendaten auf der e-Card nicht zweifelsfrei geprüft wird, versuchten die Betreiber, diese Kritik mit dem Argument zu entkräften, die e-Card sei für sich genommen kein Identitätsnachweis.

Wie Silke Lüder erklärte, habe man die Problematik bis hinauf in den zuständigen Bundestagsausschuß vorgebracht, sei aber immer wieder "totgetreten" worden. Die Verantwortlichen seien sich der Mängel vollauf bewußt, hätten sich aber stets mit Ausflüchten und Irreführungen aus der Affäre gezogen.


Auf dem Podium - Foto: © 2016 by Schattenblick

Silja Samerski und für "Stoppt die e-Card" Gabi Thiess, Kai-Uwe Steffens, Silke Lüder
Foto: © 2016 by Schattenblick


Widerstand gegen die neoliberale Transformation

Wo sich sozial und politisch engagierte Ärztinnen und Ärzte dem humanistischen Ideal der Heilberufe verpflichtet fühlen, droht die Instrumentalisierung und Ökonomisierung des Gesundheitswesens diesen noch immer existierenden Widerstand zu verdrängen und schließlich zu eliminieren. Dies mutet um so verhängnisvoller an, als sich die Polarisierung der Gesellschaft zuspitzt und mit ihr die Lebensverhältnisse bis hin zur Lebenserwartung je nach Einkommenslage der Bundesbürger zunehmend auseinanderklaffen. Dies konfrontiert den ärztlichen Berufsstand in wachsendem Maße mit der Gefahr, zu einer administrativen Funktion im Kontext sozialdarwinistischer Verfügung degradiert zu werden.

Sollte es den Kritikerinnen und Kritikern der e-Card und mithin des Gesamtkonzepts E-Health gelingen, dieses Großprojekt weiterhin zu bremsen und letztendlich zu Fall zu bringen, wäre dies ein Meilenstein im Kampf gegen die neoliberale Transformation des Gesundheitswesens. Es schlüge darüber hinaus eine Bresche in die eskalierende Überwachung der Bürgerinnen und Bürger wie auch die Biologisierung des Sozialen mit dem Ziel, die Realisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse und eine Positionierung in deren Widerspruchslage durch ein reduktionistisches Weltbild monadischer Eigenverantwortung für alle Fährnisse einer zunehmend bedrängten Existenz zu ersetzen.


Fußnote:


[1] http://www.presseportal.de/pm/72083/3316719


11. Mai 2016


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