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BERICHT/029: Vorratstherapeutikum Antibiotika - Sparsamkeit am falschen Platz (SB)


"Antibiotika - Stumpfe Waffen?"

Diskussionsveranstaltung auf Einladung des Zentrums für Strukturelle Systembiologie (CSSB) und der Akademie der Wissenschaften in Hamburg am 8. November 2016 im Lichthof des Altbaus der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg



Diskussionsrunde auf dem Podium - Foto: © 2016 by Schattenblick

Für 3.300 Krankheitserreger gibt es noch keine spezifischen Antibiotika.
Von links nach rechts: Wissenschaftsjournalistin Angela Grosse, Prof. Dr. Ansgar W. Lohse, Ärztlicher Direktor der I. Medizinischen Klinik des UKE und Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg, Prof. Dr. Petra Dersch, Leiterin der Abteilung Molekulare Infektionsbiologie, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, Dr. Werner Lanthaler, CEO Evotec AG und Prof. Dr. Thomas Marlovits, Stellvertretender wissenschaftlicher Direktor CSSB
Foto: © 2016 by Schattenblick


Antibiotika - Wunderwaffe oder Chemische Keule?

In der Vorstellung von Arzt und Patient kommen die antiinfektiösen Therapeutika der ursprünglichen Bedeutung des Wortes "Pharmakon" als der eines Zauber- und Wundermittels sehr nahe. Das hat andererseits zu ihrer unkritischen Anwendung beigetragen, die uns heute vor eine Reihe ernster Probleme stellt. [1]

Daß die Geheimwaffe Antibiotika ein zweischneidiges Schwert ist und ihr Einsatz umstritten, ist keineswegs neu. Bereits seit 40 Jahren wird - wie hier in den einleitenden Worten in das Kapitel "Antibiotika" des pharmazeutischen Lehrbuchs "Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie" von W. Forth, D. Henschler und W. Rummel - darauf hingewiesen. Seither haben Antibiotika nicht nur dazu beigetragen, schwere Seuchen zu verbannen, sondern zahlreiche, ungelöste Mißhelligkeiten mit sich gebracht, von denen die Resistenzentwicklung der Krankeitserreger in den Krankenhäusern nur eine von vielen ist.

Ein ebenso alter Hut ist, daß wohl der erste beispiellose Erfolg des Pharmakons Antibiotikum den Menschen lange Zeit in der durch nichts zu begründenden Sicherheit gewogen hat, die Heilkunst habe es sich mittels medizinischen und pharmazeutischen Fortschritts zur Aufgabe gemacht, unsere zukünftige Welt von Krankheit und Leid zu befreien. Denn auch nach einem halben Jahrhundert pharmazeutischen Fortschritts ist nichts davon zu erkennen. Solange die medizinische Versorgung von den Gesetzen des Marktes abhängt und dieser profitorientierte Motor nicht in Frage gestellt wird, läßt sich der Widerspruch, daß es trotz hochtechnologischer Forschungsmöglichkeiten, die neue Angriffspunkte für wirksame Medikamente liefern könnten, keine neuen Wirkstoffe gibt, die bis zur Marktreife entwickelt werden, nicht auflösen, da sie den Bedarf und damit die Nachfrage durch vollständige Abdeckung ad hoc abschaffen würden.

Während also der Erhalt des Status Quo bei chronischen Krankheiten für die Pharmaindustrie einen annehmbaren Kompromiß darstellt, und der Pharmamarkt an Mitteln für Diabetes, Bluthochdruck, Herz-, Kreislauferkrankungen, rheumatischen Beschwerden und dergleichen boomt, lassen sich gleichwertige Innovationen bei Infektioskrankheiten kaum finden.

So konnte es auf der Diskussionsveranstaltung am 8. November 2016 zum Thema "Antibiotika - stumpfe Waffen", zu der das Zentrum für Strukturelle Systembiologie (CSSB) und die Akademie der Wissenschaften in Hamburg [2] einige Experten aus Medizin, Forschung und Wirtschaft auf das Podium des Lichthofs im Altbau der Hamburger Universitäts- und Staatsbibliothek eingeladen hatte, auch nur - wenn überhaupt - um eine Kompromißlösung gehen, was die Entwicklung neuer "Waffen" im Wettrüsten zwischen Pharmazie und Mikroben angeht. Anders als erwartet wurde von den geladenen Experten nicht einmal zu verschleiern versucht, daß Heilmittel, die ihr Versprechen tatsächlich einlösen und kurativ wirken, kein lukratives "Geschäft" für die an Forschung und Entwicklung beteiligte Pharmaindustrie sind. Antibiotika werden höchstens ein bis zwei Wochen verordnet. Dann sind die Erreger in der Regel besiegt und was weg ist, ist weg und muß nicht mehr behandelt werden. Für etwa 3.300 Krankheitserreger, das wurde in der Runde klar, gibt es noch kein spezifisches Antibiotikum, obwohl das technische Know-How, die entsprechenden Wirkstoffe zu entwickeln, zur Verfügung steht und sogar wesentlich verbessert wurde. Allerdings hatte der Titel der Veranstaltung durchaus zu der Aussicht Anlaß gegeben, tatsächlich etwas Kronkreteres über den Stand dieses Wettrüstens und über die Frage zu erfahren, ob das häufig in den Medien wie medizinischen Fachjournalen befürchtete präantibiotische Zeitalter der Weltbevölkerung neben allen anderen globalen Problemen inzwischen tatsächlich bevorsteht oder nicht.


Penicillinwerbung mittels abgebildeter Laborforschung in einem Apothekenschaufenster 1953 in Brandenburg - Foto: Bundesarchiv, Bild 183-23912-0002 / CC-BY-SA 3.0 Foto: Bundesarchiv, Bild 183-23912-0002 / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en], via Wikimedia Commons

Man vergißt leicht, daß noch 1941 vor dem ersten klinischen Test mit Penicillin ein Mensch an einem Kratzer sterben konnte.
Foto: Bundesarchiv, Bild 183-23912-0002 / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en], via Wikimedia Commons

Unbestritten, daß mit der Einführung von Penicillin, die wohl vor allem aufgrund des II. Weltkriegs und dessen zweckdienlichem und möglicherweise kriegsentscheidendem Einsatz in den Lazaretten beispiellos vorangetrieben wurde, auch für die zivile Bevölkerung ein neues Zeitalter anbrach. Noch im vorindustriellen Europa hatten Massenepidemien wie Pest und Cholera ganze Landstriche entvölkert und ihre wirtschaftliche Entwicklung um Jahrhunderte zurückgeworfen. Infektionen waren vor Entdeckung der Antibiotika eine der Haupttodesursachen. Menschen konnten bereits an geringen Verletzungen wie einem Schnitt mit dem Rasiermesser sterben, wenn sich die Wunde entzündete.

Inzwischen hat hierzulande wohl kaum einer jemals Infektionskrankheiten in einem fortgeschrittenen Stadium zu Gesicht bekommen, denn die antiinfektiösen Mittel senken sofort das Fieber und lassen stinkende Pusteln oder Eiterbeulen gar nicht erst entstehen, Infektionsherde sofort verschwinden und ebenso den damit verbundenen Schmerz.

Dank Antibiotika überleben Frühgeborene oder werden schwere, künstliche Verletzungen durch Knochen- und Organtransplantationen überstanden. Bei aller möglicherweise berechtigter Kritik am Antibiotikakonsum hat dieser die Lebenserwartung des Menschen wissenschaftlichen Schätzungen gemäß um mindestens 10 Jahre verlängert. In Deutschland sterben 16,5 mal mehr Menschen an den Folgen nichtübertragbarer Krankheiten als an hochansteckenden Infektionskrankheiten. [3] Da die meisten der gebräuchlichen 70 Antibiotika zudem im Vergleich mit dem therapeutischen Erfolg verhältnismäßig wenige Nebenwirkungen zeigen [4], gehören sie zu den am meisten verordneten Medikamenten weltweit.


US-amerikanische Werbung für die Wunderwaffe Penicillin. Auf dem Plaket steht in Englisch: Penicillin heilt Gonorrhoe in 4 Stunden - geh' noch heute zum Arzt. - Foto: gemeinfrei via Wikimedia commons

Im August warnte die WHO davor, daß Gonorrhoe zu einem Risiko werden könnte, für Millionen mit Clamydien Infizierte gibt es in absehbarer Zeit keine Heilung mehr. [5]
Foto: gemeinfrei via Wikimedia commons


Die Waffe ist noch scharf, nur das Waffenarsenal ist dezimiert, Prof. Thomas Marlovits

Einem aktuellen Bericht der Paul-Ehrlich Gesellschaft (PEG) zufolge [6] werden allein hierzulande jährlich 700 bis 800 Tonnen Antibiotika geschluckt, mit zunehmender Tendenz.

Das wird vor allem im Zusammenhang mit der zunehmenden Resistenzen- oder Multiresistenzenbildung gemeinhin kritisch gesehen. Befürchtet wird, daß Antibiotika mit ihrer Einnahme als Allzweckwaffe verschlissen, verschwendet und immer nutzloser werden. Denn Bakterien sind durchaus in der Lage, ihre eigenen Waffen oder sogar ganze Waffenarsenale gegen die unterschiedlich eingesetzten Chemikalien zu entwickeln und immun zu werden. Das hat dazu geführt, daß die PEG die Resistenzentwicklung für fragliche Krankheitserreger mit einer regelmäßig erscheinenden Studie über den Antibiotikaverbrauch und die Verbreitung von Antibiotikaresistenzen in der Human- und Veterinärmedizin in Deutschland begleitet und beobachtet. Die Initiative wurde deshalb unter anderem auch im letztjährigen G7-Treffen in Deutschland als "Best Practice"-Beispiel für die Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen im Rahmen des sogenannten "One-Health"-Ansatzes erwähnt. [7] Letztere besagt, daß der Fokus nicht allein auf den Resistenzen liegt, sondern zudem die Probleme und Auswirkungen auf Wechselwirkungen zwischen Mensch, Tier, Umwelt, Ernährungs- und Lebensmittelsicherheit sowie auf die Landwirtschaft berücksichtigt werden.


Auf dem Podium während eines Beitrags - Foto: © 2016 by Schattenblick

Die Waffe ist noch scharf, nur das Waffenarsenal ist dezimiert, Prof. Thomas Marlovits.
Foto: © 2016 by Schattenblick

Dieser ganzheitliche Ansatz kam auf der Diskussionsveranstaltung allerdings nur in einer Randbemerkung der Moderatorin zur Sprache, dagegen wurde das Thema des Abends, weshalb sicher viele Besucher gekommen waren, bereits in den ersten acht Minuten der Veranstaltung vom Podium gefegt. Auf die Frage der Wissenschaftsjournalistin Angela Grosse, die den Abend moderierte, was er von der Einschätzung halte, daß allein in der Europäischen Union bereits jährlich etwa 25.000 Menschen aufgrund von Antibiotikaresistenzen ihr Leben verlieren - eine Größe, die aus einer gemeinsamen Studie des European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) und die European Medicines Agency (EMEA) von 2009 hervorgeht und in diesem Zusammenhang immer wieder kolportiert wird [8], und ob es künftig vielleicht doch wieder mehr würden, antwortete Prof. Lohse, es sei unmöglich, zu diesem Problem überhaupt solide Zahlen zu liefern. Jeder, der sich aufgrund seiner Erkrankung, beispielsweise eines Infarktes, längere Zeit im Krankenhaus aufhalten muß, kann theoretisch und sehr wahrscheinlich Träger von multiresistenten Keimen werden, daran erkranken oder sterben oder auch nicht.

Neben der besorgniserregenden Zahl wurde gleichzeitig der im medizinischen Alltag durchaus geläufige Sachbestand, daß eine todbringende Krise selten auf nur eine Ursache zurückgeführt werden kann und eine Schlacht an mehreren Fronten gleichzeitig kaum einmal gewonnen wird, für irrelevant erklärt.

Neben Prof. Dr. Ansgar W. Lohse, Ärztlicher Direktor der I. Medizinischen Klinik des UKE und Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg, waren sich auch Prof. Dr. Petra Dersch, Leiterin der Abteilung Molekulare Infektionsbiologie, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, Dr. Werner Lanthaler, CEO Evotec AG, und Prof. Dr. Thomas Marlovits, Stellvertretender wissenschaftlicher Direktor CSSB, die das Podium bildeten, darüber einig, daß es übertrieben sei, schon jetzt mit der Dystopie eines präantibiotischen Zeitalters zu drohen. Die akute Gefahr, daß heute jemand wegen des Mangels an Antibiotika sterben müsse oder daß die alten Geißeln der Menschheit wieder ausbrechen und Menschenmassen dahinraffen, sei sehr gering und nur ein von Medien gerne aufgegriffenes Thema, das nichts mit der Realität gemein habe.

Nicht in Abrede gestellt wurden allerdings doch die Hauptursachen, die gemeinhin für die Entwicklung von Resistenzen verantwortlich gemacht werden: Hygienemängel, Über- oder Fehltherapie mit Antibiotika, vor allem auch durch zu hohe Nachfrage der zumeist anspruchsvollen Patienten in den reichen Industrieländern, die stets die bestmögliche Versorgung verlangen, der massenhafte Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung und nicht zuletzt auch die zunehmenden globalen Menschen- und Warenströme werden offiziell hierzu gezählt. Sie bilden auch die Hauptangriffspunkte der nationalen Antibiotika-Resistenzstrategie "DART 2020" der Bundesregierung, die bereits seit 2008 besteht. Einer der wichtigsten Punkte im Aktionsprogramm ist die Antibiotikaminimierung auf allen Ebenen. Sie wurde erst im September 2016 im Bundestag ausführlich diskutiert und in 26 Einzelmaßnahmen spezifiziert. [9] Das gleiche gilt für den seit 2011 bestehenden EU-Aktionsplan zur Bekämpfung von Antibiotika-Resistenzen, sowie für den Globalen Aktionsplan, den die Weltgesundheitsorganisation 2015 zu Antibiotikaresistenzen verabschiedet hat. Sogar die Vereinten Nationen haben vor kurzem dieses Thema auf die Agenda ihrer Generalversammlung gesetzt. Sie alle machen vor allem den Menschen als Patienten, Tierhalter oder Arzt mit seinem leichtfertigen und unvernünftigen Umgang für die derzeitige Situation verantwortlich.

Warum also sollte das Thema in den letzten Jahren derart kritisch in den Mittelpunkt nationaler und internationaler Gesundheitspolitik gerückt werden, wenn nicht die Furcht vor einem Rückfall ins Mittelalter oder zumindest vor einer schlechteren gesundheitlichen Versorgung sogar mehr als bisher berechtigt wäre?


Sparen statt Forschen?

Weniger und seltener, dafür aber gezielter, Antibiotika zu verschreiben, damit die Entwicklung von Resistenzen eingedämmt und gebremst wird, sei aber nur eine marginale und sehr kleine Maßnahme, um mit dem Resistenzenproblem zu leben, meinte Prof. Lohse, den die Veranstalter nicht zuletzt deshalb eingeladen hatten, weil die internationale Debatte zum Thema u.a. auf eine von ihm bereits 2009 initiierte Arbeitsgruppe der Hamburger Akademie der Wissenschaften "Infektionsforschung und Gesellschaft" zurückging. Als praktizierender Mediziner wagte er zudem als einziger der Runde, den Erfolg der von der Politik verordneten Sparmaßnahmen in Frage zu stellen. Selbstbeschränkung hat, so der Tenor seiner Aussage, in der Vergangenheit etwa bei dem Beispiel der globalen Klimaerwärmung noch nie eine grundlegende Änderung erwirkt, wie solle es dann funktionieren, wenn es im Zweifelsfall um Leben und Tod geht? Der Arzt müsse und würde sich im Zweifelsfall für den Patienten und damit auch für Antibiotika entscheiden. Und auch der Patient besteht zu Recht auf der bestmöglichen Therapie und wirksamen Medikamenten.

Im weiteren Diskussionsverlauf wurde klar, mit modernen molekularbiologischen Forschungsmethoden und vor allem auch mittels der strukturellen Systembiologie ist es längst möglich und gar nicht mal schwer, neue und vor allem spezifische Angriffspunkte auf der Oberfläche oder in der DNA der Bakterien zu finden, um sie letztlich zu vernichten. Die Nobelpreisträgerin Ada E. Yonath (2009), an die Angela Grosse erinnerte, hatte bereits in den 80er und 90er Jahren durch die Röntgenstrukturanalyse von Bakterienribosomen Antibiotikaangriffspunkte aufgedeckt und damit zahlreiche Ansatzmöglichkeiten geschaffen, die aber seinerzeit nicht aufgegriffen wurden. Warum also war die Forschung in diesem Punkt bisher säumig?

Die einfache Antwort, daß schlicht "kein Interesse" seitens der großen Chemiekonzerne oder pharmazeutischen Unternehmen besteht, an kurativen Mitteln zu forschen, also Mitteln, die nach einmaligem, kurzfristigem Einsatz tatsächlich heilen und somit keine großen Profite bringen, wurde in der Runde mit großem Bedauern übereinstimmend verstanden. Die Beteiligung war angesichts der versammelten Gäste auch wenig verwunderlich, da aufgrund der eigenen Arbeit in der Industrie oder durch die zunehmende Verzahnung von universitärer Grundlagenforschung und angewandter Forschung in nichtuniversitären Forschungseinrichtungen von den Zuwendungen eben dieser kritisierten Pharmaindustrie eine immer größere Abhängigkeit besteht. Daß die Pharmaunternehmen an der Entwicklung von Wirkstoffen und Medikamenten auch verdienen müßten, wurde ebensowenig hinterfragt, wie die Tatsache, daß dadurch menschliches Leid vor allem in den Regionen, die die Menschen in den forschenden Industrieländern nicht ständig vor Augen haben, längst in Kauf genommen würde.

Nur ein Beispiel: Während man in den reichen westlichen Ländern der Welt kaum noch Fälle von Tuberkulose kennt, der noch im 19. Jahrhundert etwa jeder vierte Mensch in Europa zum Opfer fiel, verbreitet sich die Seuche inzwischen in den ärmeren Ländern Afrikas, Asiens, Osteuropas sowie Südamerikas weiter. Das inzwischen mutierte Tuberkelbakterium entwickelte Resistenzen gegen alle eingesetzten Antibiotika. Ganz besonders dramatisch ist die Allianz, die Tuberkulose mit der bedrohlichen Immunschwächekrankheit AIDS eingegangen ist. Leidet ein Mensch unter beiden Krankheiten, was in den erwähnten Ländern nicht selten der Fall ist, beschleunigen sie ihr Voranschreiten gegenseitig. In manchen Teilen Afrikas sind zwischen zehn und 15 Prozent der erwachsenen Bevölkerung mit HIV und Tbc infiziert. Ähnliche Tendenzen lassen sich auch bei anderen tödlichen Seuchen nachvollziehen, die nie wirklich ausgemerzt, sondern in die Länder verschoben wurden, die noch kein flächendeckendes Gesundheitssystem haben. Sie kommen jetzt in resistenter Form zurück und oftmals mit anderen unbekannten Infektoren im Gepäck.


Dr. Lanthaler auf dem Podium im Lichthof der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg - Foto: © 2016 by Schattenblick

"Es hat den Irrglauben der Pharmaunternehmen in den 70er, 80er und 90er Jahren gegeben, daß mit Antibiotika kein Geschäft zu machen sei ..." (Dr. Werner Lanthaler, CEO Evotec AG)
Foto: © 2016 by Schattenblick


Anreize schaffen, zur Not mit privaten Mitteln ...

Laut Dr. Lanthaler, CEO der Pharmafirma Evotec AG, kostet die Entwicklung von einem einzigen hochwirksamen Antibiotikum allein ein bis zwei Milliarden Euro und mindestens 15 Jahre Entwicklungszeit. Nach einer Patentlaufzeit von etwa 20 Jahren werden Medikamente gemeinhin generisch, d.h. sie können dann von jedem anderen Pharmaunternehmen, das nicht die Entwicklungskosten hatte, nachgebaut und preiswerter auf den Markt gebracht werden. Das geschah bereits in den 70er und 80er Jahren mit einigen nach dem Krieg entwickelten Antibiotika.

Es müssen zudem nicht nur spezifische Antibiotika, sondern gleichzeitig auch entsprechende Diagnostika entwickelt werden, mit denen die Identifikation des Erregers erleichtert und beschleunigt werden könnte, um einen sparsamen, zielgerichteten und möglichst kurzfristigen Einsatz mit einem kostspielig entwickelten Instrument zu ermöglichen. Dazu ist keineswegs gewährt, daß gerade der Keim, für den das Medikament entwickelt wurde, in den Infektionskrankheitscharts der nächsten 20 Jahre auch ganz oben steht und somit viel gebraucht wird. Zudem muß die Pharmaforschung bei der freiwilligen Entwicklung eines solchen Profitkillers bei jeder neuen Idee, die sie als Lösungsansatz für ein neues Medikament verfolgt, mit einer Ausfallquote von 90 bis 99 Prozent rechnen. Und schließlich, so die Forderung von Medizin und Gesundheitspolitik, sollen die neuen Antibiotika möglichst gar nicht verwendet werden, sondern für den Ernstfall als Reserve in der Schublade landen.

Welche Anreize könnte man Unternehmen bieten, damit sie -zig Milliarden für eine Schublade-Substanz auslegen, die vielleicht erst nach 20 Jahren aufgezogen werden muß, wenn ohnehin kein Patentschutz mehr besteht?

Der Ruf nach staatlichen oder multinationalen Fonds, aber auch nach privaten Initiativen und Töpfen, die alles Erdenkliche aus eigener Überzeugung finanzieren, wie es etwa die Bill & Melinda Gates Foundation oder die Michael J. Fox Foundation auf anderen Gebieten tun, war eine der konsequenten Schluß"forderungen" des Abends. Denn auch darin waren sich die Experten einig: Die Pharmaforschung und vor allem die Antibiotikaforschung must go on und könnte gar nicht früh genug mit der Entwicklung neuer Reserveantibiotika beginnen.


Forschung zu jedem Preis?

Allein der verzweifelte Aufruf zu Forschung um jeden Preis läßt nur den Schluß zu, daß die Gefahr, die von den 3.300 noch nicht behandelbaren Infektionskrankheiten ausgehen könnte und für die laut Prof. Marlovits nach strukturellen Lösungen gesucht wird, vielleicht doch wesentlich größer ist, als die auch auf diesem Forum kolportierten Beschwichtigungen von Medizin, Politik und Wissenschaft gemeinhin vermuten lassen. Denn im Widerspruch dazu, daß eine akute Gefahr kleingeredet wird, scheinen die Dringlichkeit und damit der Forschungsbedarf in den Himmel zu wachsen, wenn es darum geht, Finanzierungen oder Forschungsgelder zu akquirieren. Dr. Lanthaler zufolge sei es in einigen Ländern (beispielsweise Großbritannien) jetzt schon die preiswertere Lösung, ganze Krankenhauskomplexe abzubrennen und neu zu bauen, da die Folgekosten an den Patienten durch resistente Keime noch höher sind.


Das Problem ist zu groß, daß die Kosten und die Folgekosten jeden Einsatz rechtfertigen, den wir heute in unserer Ökonomie darstellen können, Dr. Werner Lanthaler, Evotec

Geht man allein von den genannten 3.300 unbehandelbaren Krankheitserregern aus, ohne das Problem der bereits multiresistenten Keime mitzurechnen, wer sollte dazu in der Lage sein, die konsequenterweise dringend notwendigen 3.300 Milliarden aufzubringen, die rein rechnerisch für die noch ausstehenden Lösungen fehlen? Eines der kostspieligsten Forschungsprojekte der jüngsten Zeit, die Landung der Sonde Schiaparelli auf dem Mars, hatte einen Etat von nur einer Milliarde. Allein um den notwendigen Etat aufzubringen, müßten die Staatsoberhäupter der Welt auf Rüstungsvorhaben und Prestigebauten verzichten und zusammenlegen, um ein nur gesamtheitlich zu lösendes Problem noch abzuwenden. Wann hätte so etwas je stattgefunden?

Zudem enthalten die Schätzung von 3.300 oder auch 6.600 Milliarden Entwicklungskosten (so sicher war man sich da nicht) noch lange nicht alle Aufwendungen, die davor oder danach nötig werden. So müßten auch noch etwa 3.300 Labors bestückt und ausgerüstet werden, damit an allen Lösungen zeitgleich begonnen werden kann, denn angesichts der Versorgungslücke für derzeit noch behandelbare Keime, die schon in 10 Jahren droht, wird die Forschungszeit knapp.

Selbst wenn alle Mittel erlaubt wären und beispielsweise die umstrittene Gentechnik, die die Moderatorin am Ende der Runde als positiven Ausblick am Beispiel des tasmanischen Teufels [10] ins Gespräch brachte, da einige Naturstoffe aus Schwämmen oder Lebewesen in der Tiefsee antibiotische Leitsubstanzen aufbieten könnten, die nicht erst entwickelt werden müssen, dann wäre der Preis nicht nur in Geldbeträgen gemessen hoch. Wie immer sind Risiken selten im Preis einkalkuliert, man geht von günstigsten Bedingungen aus und rechnet weder Gentechnikfolgekosten noch Laborunglücke, Folgen für Umwelt und Natur durch den erbarmungslosen Raubbau des Menschen sowie unvorhergesehene Risiken durch Ausbringen der Wirkstoffe oder ihre Beiprodukte in die Natur oder durch entwichene Erreger nicht dazu. Zudem lassen sich Nebenwirkungen und gesundheitliche Risiken auch bei neu entwickelten Wirkstoffen nie völlig ausschließen, weder bei Wirkstoffklassen aus der Natur, die sich per Zufall gebildet haben, noch bei gezielten Angriffen der Pharmazie auf punktuelle Strukturen.


Antibiotikaresistenzen sind ein Grundprinzip der Biologie, Prof. Lohse

Auf dem Podium - Foto: © 2016 by Schattenblick

Yersinia pestis ist ein noch sehr junger Keim, nur mal 2.000 bis 10.000 Jahre alt, und ursprünglich aus Yersinia pseudotubercolosis entstanden, Prof. Dr. Petra Dersch.
Foto: © 2016 by Schattenblick

Und schließlich vergißt man, wenn es um die Forschung an neuen Substanzen geht, leicht, auf welche Weise die Kampfstoffe gegen Mikroorganismen überhaupt auf das Schlachtfeld kamen.

Bakterien, Viren und Pilze sind die ältesten Lebensformen auf diesem Planeten. Noch ehe sie vom Menschen bekämpft wurden, traten sie gegeneinander an. Die Folge sind die antiinfektiösen Stoffe, die der Mensch heute als Antibiotika oder Antimykotika zu nutzen weiß, sowie ihre Abwehrmechanismen. Antibiotikaresistenzen sind ein Grundprinzip der Biologie.


Bakterien können gegen jeden Angreifer und jede Form des Angriffs Resistenzen entwickeln, auch gegen Bakteriophagen, Prof. Petra Dersch

Würde man tatsächlich ein wirksames Mittel generieren, das nicht nur Bakterien tötet, sondern auch in dieses Prinzip eingreift und es außer Gefecht setzt, würde der Mensch einer millionen Jahre andauernden Auseinandersetzung einen Impuls in eine Richtung geben, deren Folgen nicht nur unabsehbar, sondern im Hinblick auf die körpereigene Fauna mit Sicherheit tödlich wäre.

Bis es dahin kommt, kann man davon ausgehen, daß Bakterien in punkto Resistenzenbildung wesentlich schneller bleiben als der Mensch und ihre Waffen vielleicht gerade durch die "Ideen" und Innovationen der Forschung immer schärfer werden.


Die Milch des tasmanischen Teufels enthält antibiotische Leitsubstanzen gegen multiresistente Keime, die mittels Biotechnik nachgebaut werden könnten. - Foto: by Wayne McLean (own work) [CC BY-SA 2.5 http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5], via Wikimedia Commons.

Giftiger Teufel, könnte einige multiresistente Keime in Schach halten - doch wie lange?
Foto: by Wayne McLean (own work) [CC BY-SA 2.5 http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5], via Wikimedia Commons


Anmerkungen:

[1] aus Forth W., Henschler D., Rummel W., "Allgemeine und spezielle Pharmakologie, und Toxikologie - für Studenten der Medizin, Pharmazie, Chemie, Biologie sowie für Ärzte und Apotheker. Bibliographisches Institut, 1977, ISBN 10: 3411015365

[2] http://www.cssb-hamburg.de/
und
http://www.awhamburg.de

[3] Vgl. World Health Organization, World Health Statistics 2014, Genf 2014, S. 175

[4] Die in der Regel aus Pilzen oder anderen Mikroorganismen gewonnenen "Naturkampfstoffe" greifen zumeist ausgesprochen selektiv nur die Zellwände von Bakterien an oder hemmen ihre Teilung im Innern. In allen Fällen wird der Wirkstoff an Eiweiße in der Zellwand gebunden. Da tierische Zellen keine Zellwände besitzen, haben Antibiotika wenig direkte Auswirkung auf das menschliche Vitalsystem. Allerdings schädigen sie die natürliche Flora der Mundschleimhäute und des Darms, so daß eine Antibiotikabehandlung nicht selten einige unangenehme Begleiterscheinungen wie Übelkeit oder Durchfall mit sich bringen kann. Darüber hinaus rufen Antibiotika (hier vor allem Penizillin) bei empfindlichen Menschen manchmal Allergien hervor. Die heute als Ersatz dienenden Lincosamide rufen Magen-Darm-Probleme hervor und können auch allergische Reaktionen nach sich ziehen. Letzteres wie auch die oftmals mißinterpretierte Resistenzenbildung von Bakterien als etwas, das sich für jedes menschliche Individuum vermeiden läßt, wenn man dieser Medikamentengruppe vorzugsweise ausweicht und sie nur in sehr brisanten Fällen einnimmt, hat die Antibiotika unter ihren Gegnern als "chemische Keule" in Verruf gebracht.

[5] http://www.who.int/mediacentre/news/releases/2016/antibiotics-sexual-infections/en/

[6] Die Antibiotika Reports der Paul-Ehrlich-Gesellschaft lassen sich hier abrufen:
http://www.p-e-g.org/econtext/germap/

[7] G7 GERMANY 2015, Combating Antimicrobial Resistance, Examples of Best-Practices of the G7 Countries.
http://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/dateien/Downloads/G/G7-Ges.Minister_2015/ Best-Practices-Broschuere_G7.pdf. 2. Empfehlung

[8] http://ecdc.europa.eu/en/publications/Publications/0909_TER_The_Bacterial_Challenge_Time_to_React.pdf

[9] http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/097/1809789.pdf

[10] http://web.de/magazine/gesundheit/muttermilch-tasmanischen-teufel-wirksam-multiresistente-keime-31965938


Interviews mit Prof. Dr. med. Ansgar W. Lohse und Prof. Dr. Thomas Marlovits siehe auch Medizin → Report:


INTERVIEW/040: Vorratstherapeutikum Antibiotika - So heiß wird die Suppe nicht verzehrt ...    Prof. Dr. med. Ansgar W. Lohse im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/report/m0ri0040.html

INTERVIEW/041: Vorratstherapeutikum Antibiotika - Gezielte Vergaben ...    Prof. Dr. rer. nat. Thomas Marlovits im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/report/m0ri0040.html


28. November 2016


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