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BERICHT/030: Gesundheitswesen - die Klinik als Wirtschaftsbetrieb ... (SB)


Das Bündnis Krankenhaus statt Fabrik wendet sich gegen die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens in Deutschland und daher insbesondere gegen das System der Krankenhausfinanzierung durch DRGs. Wir treten ein für die bedarfsgerechte Finanzierung der Krankenhäuser und ihres Personals. Nicht die Gewinnmargen sollen ausschlaggebend dafür sein, ob und wie wir behandelt werden, sondern allein der medizinische Bedarf!
Bündnis Krankenhaus statt Fabrik [1]


Die neoliberale Offensive zur Okkupation der Daseinsvorsorge auch im Gesundheitswesen schließt wie jede innovative Fortschreibung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zwei maßgebliche Komponenten ein. Zum einen tritt der Staat als Sachwalter der Herrschaftssicherung auf den Plan, zum anderen erschließt das Kapital angesichts anwachsender Krisen im produktiven Sektor neue Regionen der Verwertung. Wird Gesundheit nicht länger als Leistung des Sozialstaats und Anspruch der lohnabhängigen Bevölkerungsteile auf angemessene Reproduktion verhandelt, sondern als Ware der privatwirtschaftlichen Profitmaximierung überantwortet, hat dieser Paradigmenwechsel zwangsläufig einschneidende Folgen: Für die Qualität des Gesundheitssystems, für Einkünfte und Arbeitsbedingungen der dort Beschäftigten wie auch für Patientinnen und Patienten.

Das ideologische Dogma, wonach der Markt die ausschließliche Sphäre gesellschaftlich handelnder Subjekte sei, die dort zum größtmöglichen Nutzen aller in freie Konkurrenz miteinander träten, treibt die Negation der Klassengesellschaft auf seine neoliberale Spitze. Unter dem Diktum, daß es keine Alternative gebe, werden die gesellschaftlichen Widersprüche für nichtexistent erklärt, selbst sozialstaatliche Erwägungen zu Hirngespinsten degradiert. Die Propagandaformel, private Unternehmen wirtschafteten effizienter als schwerfällige staatliche Strukturen, verschleiert den Charakter des Raubzugs, der nur auf verschärfte Ausplünderung und Ausbeutung hinauslaufen kann. Wie sollte die Klinik als Wirtschaftsbetrieb Profite generieren, wenn nicht aus menschlicher Substanz und Arbeitskraft?

Ob im ersten Feldversuch der Chicago Boys um Milton Friedman in der chilenischen Militärdiktatur oder unter der Ikone Margaret Thatcher, die den Streik der britischen Bergarbeiter brutal niederschlagen ließ, stets war der Neoliberalismus ein Instrument brachialer Aushebelung kollektiven Widerstands, der politischer Verfügung und ökonomischer Zurichtung im Wege stand. Die nachhaltige Verhinderung von Arbeitskämpfen mittels einer tiefgreifenden Zerrüttung des sozialen Gefüges stand ganz oben auf der Agenda administrativer Maßnahmen und wirtschaftlichen Kalküls. Denn was aus heutiger Sicht wie eine unabweisliche Normalität anmuten mag, mußte den Menschen buchstäblich aufgezwungen werden. Ihre Entwurzelung, Individualisierung und Spaltung bedurfte einer umfassenden Strategie, sie dauerhaft all jener Bezüge zu entfremden, die einem erbitterten Konkurrenzkampf als alleingültige Ratio den Rang ablaufen könnten.

Eine tiefe Zäsur in der Bundesrepublik markierte die von der rot-grünen Bundesregierung unter Schröder und Fischer durchgesetzte Agendapolitik samt Hartz IV wie auch die zeitgleich implementierte Gesundheitsreform. Dieses Bündel restriktiver Maßnahmen verstieß die Menschen aus einem seit langem abgebauten Sozialstaat endgültig in die Eigenverantwortung für ihr Schicksal, das sie nicht länger durch den Rückgriff auf Hilfen im Sinne einer Solidargemeinschaft abfedern konnten. Angemessene Einkünfte und erträgliche Arbeitsbedingungen sind ebenso zu einem Luxus geworden wie eine Absicherung bei Entlassung, im Krankheitsfall oder im Alter. Wer als Kunde und Konsument sein Monadendasein fristet, kann noch von Glück reden, doch unter dem Damoklesschwert drohenden Absturzes sitzt auch ihm die Angst im Nacken. Wird er überdies bezichtigt, seine gesundheitliche Beeinträchtigung durch eine falsche Lebensführung selbst herbeigeführt zu haben, hat das "Fördern und Fordern" umfänglich gegriffen und den Zahn möglichen Aufbegehrens gezogen.

Personalabbau und Arbeitshetze in den Kliniken wie auch die Enthumanisierung der Patienten sind daher kein bloßer Kollateralschaden der Privatisierung, sondern vielmehr integrale Instrumente einer Zerschlagung potentiellen Widerstands gegen Ausbeutung, Verelendung und Zurichtung im Kontext gesellschaftlicher Verhältnisse, deren immanente Krise die nächsthöhere Stufe der Verfügung über jegliche Lebenssphären des Menschen auf den Plan ruft.


Beim Vortrag - Foto: © 2019 by Schattenblick

Tom Dahlke
Foto: © 2019 by Schattenblick


Gegen die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens

Jour Fixe 179 der Hamburger Gewerkschaftslinken fand am 9. Oktober im Curiohaus statt und war dem Thema "Gegen die Kommerzialisierung der Krankenhäuser und des Gesundheitswesens" gewidmet. Als Referenten waren zwei engagierte Ärzte im Ruhestand gewonnen worden. Tom Dahlke war lange als Anästhesist, Schmerztherapeut und Palliativmediziner in Pinneberg tätig. Er ist bei ver.di organisiert und hat die Privatisierung des dortigen Krankenhauses und die Übernahme durch den Sana-Konzern als Betriebsrat miterlebt. Der Allgemeinmediziner und Theologe Gerd Mohrmann hat in einer kleinen Gemeinschaftspraxis im Kreis Segeberg gearbeitet.

Dahlke, der über die Jahre als Arzt und zuletzt als freigestellter Betriebsrat Zeuge der verschiedenen Etappen der Privatisierung wie auch der damit verbundenen Auseinandersetzungen geworden ist, berichtete über die konkrete Durchsetzung dieser tiefgreifenden Veränderungen und deren Folgen am Beispiel des Krankenhauses Pinneberg. Dabei ging er insbesondere auf die Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups - DRGs) als zentrale Instrumente der Kommerzialisierung in den Kliniken ein.

Mohrmann befaßte sich mit den Konsequenzen dieser Entwicklung für Patienten am Lebensende und ging dazu von einer Begegnung mit dem Mediziner Matthias Thöns, der in Herdeke ein Palliativzentrum aufgebaut hat, und dessen Buch "Das Lebensverlängerungskartell" aus. Er riet dringend zu einer Vorsorge aus Patientensicht und formulierte Forderungen an ein Gesundheitswesen, die dessen Kommerzialisierung etwas entgegenzusetzen versuchen.

Zu dieser Thematik ist der Film "Der marktgerechte Patient" sehr zu empfehlen.


Im Zangengriff des neoliberalen Umbaus

Gerd Mohrmann zitierte einführend die Präambel der ärztlichen Berufsordnung: "Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. Ich werde meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben." Zu diskutieren sei das Gesundheitswesen im Spannungsfeld dieses Menschenbilds mit wirtschaftlichen Interessen im Zuge des neoliberalen Umbaus der Daseinsvorsorge. Die Solidargemeinschaft beruht auf dem Grundsatz, daß den Versicherten im Krankheitsfall eine Behandlung unabhängig von ihren Einkünften zusteht. Für die Kosten dieser ambulanten oder stationären Behandlung kommen die Krankenkassen auf, in die Beiträge eingezahlt werden. Der weitaus größere Bereich ist mit fast 90 Prozent die gesetzliche Krankenversicherung, während auf die private 10 Prozent entfallen. Die Kassen zahlen an Leistungserbringer wie Ärzte und alle weiteren beteiligten Berufsstände. Berücksichtigt man beispielsweise, daß die Kosten für Medikamente genauso hoch wie die Leistungen der ambulanten Ärzte und die Kosten der Krankenhausbehandlung von 1990 bis 2017 um 42 Prozent gestiegen sind, verwundert nicht, daß niedergelassene Ärzte, andere Gesundheitsberufe, Kliniken und Hersteller von Arzneimitteln oder Medizinprodukten heftige Verteilungskämpfe untereinander austragen. So wird jeder fünfte Lobbyist in Berlin beim Gesundheitsministerium vorstellig.

Ärzte müssen nach dem Sozialgesetzbuch V Leistungen erbringen, die ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind. Die Wirtschaftlichkeit wird in zunehmendem Maße zum entscheidenden Kriterium, das einer engen Kontrolle unterliegt. Das Gesundheitssystem wird jedoch nicht nur von Marktmechanismen geregelt, sondern auch über Politik, Rechtsnormen und kollektive Vertragssysteme. Es handelt sich also um ein komplexes Geflecht, bei dem verschiedene Komponenten ineinandergreifen. Die Gesundheitspolitik ist ein Gefüge von allgemeiner Daseinsvorsorge, wirtschaftlichen Interessen, politischer Macht, gesellschaftlicher Programmatik und ethischen Normen, so der Referent.


Beim Vortrag - Foto: © 2019 by Schattenblick

Gerd Mohrmann
Foto: © 2019 by Schattenblick


Geschichte einer Privatisierung

Tom Dahlke kam vorab auf die krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus zu sprechen, die sich seit den 1980er Jahren vertieft hat. Die Einnahmen der Kommunen gingen zurück, und es wuchs der Druck, aus der Daseinsvorsorge auszusteigen. Der schlanke Staat wurde von der Politik wie auch diversen Instituten wie der neoliberalen Bertelsmann-Stiftung propagiert. Die Privatisierung schritt beim Wohnen, bei Energie- und Wasser, im Verkehr und auch im Krankenhaussektor voran. Gemäß der weithin vertretenen Vorgabe, daß nur große Kliniken sinnvoll seien, übernahm Asklepios in Hamburg zahlreiche Krankenhäuser. Im privaten Bereich waren ursprünglich mittelständische Unternehmen am Werk, die jedoch inzwischen erheblich gewachsen sind. Helios wurde vom Freseniuskonzern übernommen, und als die Paracelsus-Kliniken 2018 Insolvenz anmeldeten, traten unter den Bietern auch Hedgefonds aus Großbritannien und den USA auf den Plan. Die vier größten Konzerne sind heute Fresenius, Asklepios, Sana und Rhön.

Früher hatte der Kreis Pinneberg noch vier Krankenhäuser in Pinneberg, Elmshorn, Wedel und Uetersen. Alle vier Kliniken boten rund um die Uhr Notfallversorgung an und hielten dafür entsprechende Kapazitäten vor. Hinzu kam die Nähe zur Stadt Hamburg, die über mehr als 40 Krankenhäuser verfügt. Dies hatte zur Folge, daß der Anteil von Patienten, die im Kreis behandelt wurden, nur bei 30 Prozent lag. Dieses Problem war bis in die 90er Jahre wenig zu spüren, doch dann begann die Budgetierung im Gesundheitswesen, wodurch die Ausgaben an die Lohnentwicklung und die Einnahmeentwicklung der Kassen gekoppelt wurden. Der steigende Druck auf die Budgets der Krankenhäuser wurde auf die Pflegekräfte und Ärzte abgewälzt. Seit 1972 wurden die Krankenhäuser dual finanziert, indem Investitionen durch Bund, Länder und Kommunen geleistet wurden, während die Kliniken für den laufenden Betrieb aufkamen. 1985 stieg der Bund mit seinem Anteil von etwa einer Milliarde aus, wofür die Länder Steuergelder erhielten, die aber nicht an die Krankenhausfinanzierung gebunden waren, sondern anderweitig ausgegeben wurden. Dadurch nahm die Investitionsrate immer weiter ab. Heute wären dafür geschätzte 6 Milliarden Euro erforderlich, doch nur 3 Milliarden werden jährlich investiert. Deshalb wurden im Kreis kostspielige Neuerungen lange verschoben. Die Krankenhäuser gerieten in Schwierigkeiten und neigten zu Schaufensterentscheidungen wie der Anschaffung eines Robotrons, das automatisch Hüften operieren sollte, jedoch bald als zu kostspielig ausgemustert wurde.

Mit der Einführung der DRGs 2004 wurde das Krankenhaus in eine GmbH umgewandelt, die Schulden machen kann, für die aber der Kreis nicht mehr einsteht. Alle Parteien wollten die Krankenhäuser loswerden, da riesige Defizite befürchtet wurden. Der Belegschaft wurde angeboten, zum Kreis zurückzugehen, wovon aber kein Gebrauch gemacht wurde. Es kam ein neuer Geschäftsführer, der zwar dem Internet zufolge nicht unumstritten war, aber alle einfing, indem er Geld aufnahm, das sich auf 60 bis 70 Millionen summieren sollte. Er expandierte, kaufte zwei Altenheime wie auch Praxen auf und versuchte, einen Krankenhausbetrieb aufzubauen, der ständig aus den Praxen mit Nachschub beliefert wird und zugleich den Abfluß in die Heime in eigener Hand hat. Dies führte zu 15 Tochtergesellschaften, in die per Outsourcing Beschäftigte in der Küche und im technischen Bereich zum Mindestlohn eingestellt wurden. Dadurch entstanden zwei Klassen von Beschäftigten, die sehr unterschiedlich bezahlt wurden. Das konnte nicht verhindert werden, und ver.di sah sich gezwungen, einen eigenen Tarif für den Niedriglohnbereich abzuschließen. Der Geschäftsführer überzeugte mehrere Beratergesellschaften vom Erfolg seiner Konstruktion und versuchte mit diesem Gutachten, die Belegschaft mit einem Genossenschaftsmodell einzubinden. Als das Geld knapp wurde, verkaufte er die Krankenhäuser für 100 Millionen an die Banken und mietete sie zurück. Schließlich mußte er Konkurs anmelden. Interessenten wie Asklepios und Helios wollten den Bestand aufkaufen, Sana bekam dann für 2,5 Millionen den Zuschlag, und das Geschäft mit den Banken wurde für teures Geld rückgängig gemacht. Das Betriebsergebnis im Jahr der Übernahme betrug minus 9 Millionen Euro. Seit der Übernahme mußte Sana offenbar 22,4 Millionen Defizit ausgleichen.

Es wurden bundesweit zentrale Einkaufsgesellschaften für sämtliche Materialien eingeführt und alles, was nicht direkt am Patienten arbeitete, lagerte man aus. In der Pflege wurde das Personal abgebaut, Stationen wurden vergrößert und mit Mindestbesetzung gefahren: Drei Leute in der Schicht für bis zu 35 Patienten, nachts nur eine Pflegekraft. Viele Beschäftigte wurden krank oder schieden aus, was die Belastung zusätzlich erhöhte. Abteilungen wurden zentralisiert, Posten reduziert und es erfolgte eine Umstrukturierung nach kostengünstigen DRGs, um geldbringende Leistungen auszubauen.

Der Sana-Konzern wurde handgreiflicher gegenüber dem Kreis und monierte Gebäudemängel, was auf finanzielle Schwierigkeiten schließen ließ. Der Kreis hatte eine Minderheitsbeteiligung behalten, um die Standorte sichern zu können. Sana ist eine AG, doch sind die Aktien nicht frei handelbar, sondern werden von Versicherungskonzernen wie Axa oder Signal Iduna gehalten. Die privaten Konzerne sind nicht besser, wie es die neoliberale Doktrin suggeriert, verfügen aber über wesentlich mehr Geld als der Kreis, so daß sie größeren Druck entfalten können, so der Referent.


Krankenhausfinanzierung per Fallpauschalen

Die Krankenhausfinanzierung lief lange weitgehend über Tagespflegesätze, die eine Unterfinanzierung der Krankenhäuser von schätzungsweise einer Milliarde DM pro Jahr zur Folge hatten. 1972 regelte das Krankenhausfinanzierungsgesetz die Aufteilung in den laufenden Betrieb, den die Kassen zahlten, und die Investitionen durch Bund, Länder und Kommunen. Das war ein Kostendeckungssystem, das für jeden Patienten einen Pflegesatz pro Tag vorsah, während am Ende des Jahres abgerechnet wurde. Schon damals war strittig, welche Zahlen zugrunde gelegt werden, und es gab Diskussionen um die Senkung der Verweildauer. Diese ist im Laufe der Zeit von 18,3 auf 13,9 Tage gefallen. Wenn heute Beraterfirmen kommen, schauen sie sich nicht den realen Betrieb an, sondern setzen Zahlen ins Verhältnis. Sie arbeiten mit Listen bundesweiter Vergleichswerte und schlagen daraufhin Streichungen vor.

Dann folgte der bereits erwähnte Rückzug des Bundes. Die Ausgaben für Investitionen sind von 1991 bis 2017 von 3,5 Milliarden auf 2,7 Milliarden deutlich gesunken. Die Krankenhäuser müssen aus den von den Kassen finanzierten Kosten für den laufenden Betrieb auch die Investitionen bestreiten. Da ein Krankenhaus zwischen 55 und 65 Prozent Personalkosten hat, wird vor allem in diesem Bereich gespart. Schon in den 80er Jahren begann eine Diskussion um die angebliche Kostenexplosion. Die Lohnquote nahm ab 1980 im Verhältnis zum Volkseinkommen tendentiell ab, so daß die Einnahmen der Krankenkassen sanken und die Beiträge angehoben wurde. Die Kosten steigen gar nicht wesentlich, nur die vom Lohn abgezogenen Beträge nehmen zu, weshalb es sich bei der vorgehaltenen Kostenexplosion um ein ideologisches Konstrukt handelt. Nach 1989 kam die hohe Arbeitslosigkeit im Osten dazu. Die Ausgaben wurden an die Quote der Einnahmen angepaßt, deren Anstieg nur gering ausfiel. Dies führte zu extremen Einsparungen.

Es gab verschiedene Reformversuche, trotz dieser Deckelung das Gesundheitswesen zu verändern. Ab Mitte der 90er Jahre kamen die ersten Fallpauschalen, nach denen für bestimmte standardisierte Bereiche Preise festgelegt wurden. Sie wurden teilweise aus dem Budget herausgenommen und führten zu Mehrerlösen, so daß die Krankenhäuser erstmals Gewinne machen konnten. 2004/2005 folgten die DRGs, die für alle Krankheiten außer der Psychiatrie, die im Krankenhaus behandelt werden, bestimmte Fallgruppen mit einer festgelegten Vergütung einführten. Ein Beispiel: Lebertransplantation, 179 Stunden Beatmung sowie ein Index von 29,2 des Schweregrads, der mit einem Landesbasisfallwert von etwa 3500 multipliziert wird, was 105.000 Euro ergibt. Die normale mittlere Verweildauer wird mit 54,8 Tagen angesetzt. Vor Einführung der DRGs wurden Verfahren in aller Welt geprüft, Deutschland übernahm das australische System. Aus Sicht des Betriebswirtschaftlers sind Gewinne zu erzielen, wenn die mittlere Verweildauer unterschritten wird. Dies hat zur Folge, daß die Controller täglich auf der Station eine Liste ausgeben, die mit der mittleren Verweildauer die späteste Entlassung signalisiert und zugleich nahelegt, daß eine kürzere Verweildauer wünschenswert sei. Das Festgeld wird von dem Institut InEK auf Grundlage von Daten, die alle Krankenhäuser liefern müssen, jährlich festgelegt. Die Tendenz geht eindeutig in die Richtung, durch Verkürzung der Verweildauer den ermittelten Durchschnittswert zu verringern. Allerdings ist der Landesbasisfallwert ein politischer Preis, der in den Bundesländern unterschiedlich ausfällt. Man ließ diese Werte allmählich konvergieren, doch entstand kein bundeseinheitlicher Wert, weil es politische Widerstände einzelner Länder gab.

Zur Einführung gab es nur 409 DRGs, doch inzwischen ist das System auf 1300 Diagnosen ausgebaut worden. Hinzu kamen etliche Zusatzfaktoren. Schwerpunktkrankenhäuser, die beispielsweise viele Schwerverletzte aufnahmen, kamen mit den DRGs überhaupt nicht zurecht. Anfangs wurden alle möglichen Zusatzerkrankungen geltend gemacht, so daß die Nebendiagnosen von 33 auf 100 Millionen stiegen. Das System wurde deswegen immer wieder modifiziert, aber das Grundprinzip wird durchgetragen: Was als Durchschnittswert vorgesehen war, wird von den Controllern als Maximalwert umgesetzt. Gedreht werden kann auch an der Beatmungsdauer, deren Verlängerung den Wert und damit die Einkünfte erhöht.


Die Humanität bleibt auf der Strecke

Während der Arzt gemäß seines Auftrags dem Wohl des Patienten verpflichtet sein sollte, hat der Controller nur den wirtschaftlichen Gewinn im Blick. Es stehen einander gewissermaßen zwei miteinander unvereinbare Menschenbilder gegenüber, und dieser Konflikt führt dazu, daß sich das Verhältnis von Ärzten und Pflegekräften zur eigenen Tätigkeit und den Patienten verändert. Diese werden nicht mehr als Individuen mit jeweils eigenen Dispositionen betrachtet, sondern der Effizienznorm unterworfen. Dadurch geht die Emphatie für die Patienten verloren. Stimmung, Haltung und Sprachgebrauch richten sich gegen sie, sie werden eingeschüchtert, die Humanität bleibt auf der Strecke. Zugleich findet eine tiefgreifende Entsolidarisierung der Beschäftigten statt, die einer schizophrenen Situation ausgesetzt sind. Sie sollen Personalabbau und wachsenden Arbeitsdruck mittragen, denn man hält ihnen vor, daß sie schließlich ihren eigenen Arbeitsplatz finanzieren müßten. Das läuft subtil ab, denn der Controller fordert nicht offen bestimmte Entscheidungen ein, sondern legt einfach die Listen vor. Es machen auch nicht alle mit. Viele verabschieden sich innerlich aus diesem System oder ziehen sich in Bereiche zurück, wo das nicht so zum Tragen kommt. Aber junge Kollegen lernen das sofort. Der Widerspruch fällt vor allem denjenigen auf, die die früheren Verhältnisse noch kennen. Die Entfremdung wächst, und überdies nimmt die Dokumentation aller Tätigkeiten einen beträchtlichen Teil der Arbeitszeit in Anspruch. Teilweise werden inzwischen Leute dafür ausgebildet, die Funktion der Dokumentation zu übernehmen. Es entstehen auch neue Berufsgruppen wie Codierfachleute, und um die Zeiten einzuhalten, muß das Entlassungsmanagement organisiert werden.

In mancher Hinsicht wurde die Effizienz tatsächlich verbessert. Der Umgang mit teueren Materialien ist sorgsamer geworden, die Abläufe werden koordiniert und flüssiger gestaltet. Heute müssen alle Vorbefunde wie Röntgen oder CRT erbracht sein, bevor die Operation im Krankenhaus durchgeführt wird, die wiederum nach einem standardisierten Ablauf erfolgt. Bei der Entlassung werden die weiteren Maßnahmen mit der Reha abgestimmt. Hier deutet sich aber schon an, daß die Steigerung der Effizienz nicht zuletzt durch eine Verschiebung erkauft ist, indem Tätigkeiten vor- oder nachgelagert werden, die ursprünglich zu den Aufgaben der Kliniken gehörten. Legt man als entscheidendes Kriterium für Effizienz nicht den Profit des Krankenhausträgers, sondern die bestmögliche Behandlung der Patienten zugrunde, wozu insbesondere auch eine zugewandte Pflege gehört, fällt die Bilanz verheerend aus.

Deutschland hat im internationalen Vergleich extrem viele Krankenhausbetten, 50 Prozent mehr als der europäische Durchschnitt. Zu deren Verringerung wurde das System eingeführt, welches die Verweildauer senkte. Die großen Konzerne fuhren dabei Strategien, welche die Betriebsräte vor Ort verblüfften, wie Dahlke einräumt. Sie konnten die Einstellung in auslagerten Gesellschaften mit niedrigeren Tarifen nicht verhindern. Nach der Übernahme durch Sana wurden dann sogar Kolleginnen und Kollegen, die im öffentlichen Dienst und daher eigentlich nicht kündbar waren, in diese Gesellschaften überführt. Es gab keinen rechtlichen Hebel, um das abzuwenden.

Zwar wurden einige Protestaktionen durchgeführt, doch der Widerstand hielt sich in engen Grenzen, da die Stimmung schon längst im Keller war und die Entsolidarisierung bereits gegriffen hatte. Viele meinten, schlimmer könne es gar nicht werden, und verstanden nicht, was gegen eine Privatisierung einzuwenden sei. Und wer schon für die gleiche Arbeit weniger verdiente, hegte Groll gegen die besser bezahlten Kollegen. Von einem entschiedenen Widerstand, der dem Arbeitgeber womöglich Zugeständnisse abgerungen hätte, konnte keine Rede sein, so der Referent.

Trotz der DRGs hat sich die Zahl der Krankenhäuser nicht im angestrebten Maße verringert, vielmehr sind die kleinen Kliniken von den Privaten übernommen worden. Jetzt beginnt mit dem Krankenhausstrukturgesetz eine neue Schlacht. Es werden Abwrackprämien für die Schließung bestimmter Krankenhäuser gewährt. Zugleich wird abermals die Diskussion losgetreten, daß angeblich nur große Krankenhäuser eine angemessene Qualität gewährleisten und eine Finanzierung durch private Investoren erfolgen müsse. Andererseits wurden durch das Personalstärkungsgesetz gewisse Erfolge bei der Personalbemessung im Pflegebereich erzielt, wenngleich nicht im geforderten Maße. Die Verhältnisse haben sich derart zugespitzt, daß die Mißstände selbst im Sinne der Profitsteigerung kontraproduktiv werden. Eine Mindestbesetzung ist in bestimmten Bereichen kaum noch zu unterschreiten, auch hat die Hygiene etwa in der Intensivmedizin aufgrund des Arbeitsdrucks sehr gelitten. Vor allem aber haben die Arbeitsbedingungen dazu geführt, daß der Nachwuchs rückläufig ist und man heute keine Fachkräfte mehr bekommt. Die großen Konzerne werben einander Pflegekräfte ab, und obgleich die deutschen Krankenhausgesellschaften zu den zehn größten weltweit gehören, fehlen bundesweit inzwischen etwa 160.000 Pflegekräfte.


Mohrmann und Dahlke beim Vortrag - Foto: © 2019 by Schattenblick

Kahlschlag produziert Fachkräftemangel
Foto: © 2019 by Schattenblick


Patienten am Lebensende

Laut Thöns, auf den sich Gerd Mohrmann in seinem Vortrag bezog, wollen die meisten Menschen ohne Schmerzen und ohne Maximaltherapie sowie in ihrer gewohnten Umgebung sterben. In den Industriestaaten ist jedoch das Krankenhaus zum wichtigsten Sterbeort geworden. 50 Prozent sterben unter Einsatz der Apparatemedizin, 30 Prozent in Pflegeheimen "sauber, satt und sediert", nur 20 Prozent zu Hause. 50 Prozent der Gesundheitskosten fallen im letzten Lebensjahr durch vier maßgebliche Krankheitsgruppen an: Herz-Kreislauf, Muskel-Skelett, psychische Verhaltensstörungen und Krankheiten des Verdauungssystems.

Was erwartet uns? Anhand einiger Beispiele zeigte der Referent die extremen Unterschiede in der Vergütung bestimmter Leistungen auf. So werden für eine Fahrt in die Klinik mit dem Krankentransportwagen 150 Euro veranschlagt, bei Rettungswagen mit Blaulicht jedoch 490 Euro und bei Maximaleinsatz mit Notarzt 1200 Euro. Intensivpflege kostet 800 Euro pro Tag, Beatmung und Dialyse für drei Wochen 45.600 Euro. Künstliche Beatmung für 12 Tage bedeutet 21.000 Euro, bis 21 Tage 27.000 Euro und pauschal ab 22 Tagen 58.000 Euro. Ein Dialysearzt bekommt bis zu 40.000 Euro pro Patient, der Landarzt hingegen nur ungefähr einen Euro. Strahlentherapie kostet pro Tag ungefähr 1000 Euro, Chemotherapie zwei Tage stationär 2100 Euro plus Medikamente. Künstliche Ernährung ist lukrativ für die Krankenhäuser: Durch die Vene 1500 Euro pro Woche, Magensonde durch die Bauchdecke bei zwei Tagen Aufenthalt 2300 Euro, ambulant jedoch manchmal nur 100 Euro. Bei neuen Krebsmedikamenten ist deren Zusatznutzen oftmals minimal. So verständlich im Einzelfall sei, daß etwa ein Krebspatient ein solches, sehr teueres Medikament bekommen möchte, das sein Leben wenige Tage verlängert, handle es sich doch angesichts der enormen Kosten um eine gesundheitspolitisch extreme Abwägung, meinte der Referent.

Jeder vierte alte Mensch wird in den letzten vier Lebenswochen operiert. Die Kliniken brauchen ihre Operationen, um damit Geld zu verdienen. Wer nicht Vorsorge getroffen hat, ist völlig hilflos, zumal unzureichende Pflege die Mortalität erhöht. 2015 wurde das Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung erlassen, die gegenwärtig etwa 2 Prozent aller Sterbenden begleitet. Die Kosten betragen insgesamt 200 Millionen Euro, was nur ein geringer Bruchteil der Gesamtkosten in diesem Bereich ist. Liegt eine lebensbegrenzende Krankheit vor, kommt die Palliativmedizin in Frage, die nicht nur eine Behandlung in den letzten Tagen ist. Man bespricht mit den Patienten und Angehörigen das Therapieziel und was der Wille des Patienten ist, so der Referent.


Forderungen für heute und morgen

Abschließend formulierte Mohrmann Forderungen für heute und morgen. Die Ärzte sollten gegen die Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge protestieren. Wichtig seien Ombudsmänner bei den Ärztekammern, weil sich viele junge Kollegen nicht gegen ihren Chef auflehnen können und Schutz benötigen. Die geheimen Bonussysteme der Chefärzte müssen transparent gemacht und abgeschafft werden.

In einem Appell, der im Stern veröffentlicht wurde, hat eine Gruppe von Ärztinnen und Ärzten folgende Forderungen erhoben: Das Fallpauschalensystem muß ersetzt oder grundlegend reformiert werden. Die ökonomisch gesteuerte gefährliche Übertherapie sowie Unterversorgung müssen gestoppt werden. Dabei bekennen wir uns zur Notwendigkeit wirtschaftlichen Handelns. Der Staat muß Krankenhäuser dort planen und gut ausstatten, wo sie wirklich nötig sind. Das erfordert einen Masterplan und den Mut, mancherorts zwei oder drei Kliniken zu größeren leistungsfähigeren und personell besser ausgestatteten Leistungszentren zusammenzuführen.

Mohrmann wies auf den teils ambivalenten Charakter der Forderungen hin und teilte insbesondere die letztgenannte nicht. Er plädierte für eine integrierte Versorgung. Jedes Krankenhaus sei in der Lage, akute Herzprobleme zu behandeln und dies nicht zwangsläufig auf hochtechnisierte Weise. Nicht jeder Patient benötige im Alter eine invasive Behandlung oder eine neue Prothese. Die meisten älteren Menschen litten an Durchblutungsstörungen in den Beinen, die sich konservativ behandeln ließen, um das Bein zu retten. Das werde jedoch nicht bezahlt, während die Amputation 15.000 Euro bringe.

Wichtig seien ein guter Hausarzt, mit dem man diese Dinge besprechen kann, und die aktive Vorsorge mittels einer detaillierten Patientenverfügung. Im Fall einer umfangreichen Behandlung sollte unbedingt eine zweite Meinung eingeholt werden, was die Kassen auch übernehmen. Mit steigendem Alter komme man nicht umhin, sich Gedanken über Tod und Sterben zu machen, wie der Referent betonte.

Was können Krankenkassen tun? Der medizinische Dienst müsse die Krankenhäuser besser überprüfen. Auch sei der Aufbau einer flächendeckenden Palliativversorgung erforderlich. In Hinblick auf Forderungen an die Politik verwies Mohrmann auf große Morbiditätsunterschiede, die sozial bedingt seien. Krankenhäuser gehörten in öffentlicher Hand, die Privatversicherung müsse abgeschafft werden. Zudem Abschaffung der DRGs und Wiedereinführung kostendeckender Finanzierung wie auch Tarifverträge zur Entlastung des Personals.


Selbstbestimmt sterben?

So wenig der Wunsch nach einem selbstbestimmten Sterben in Abrede zu stellen und die Fragwürdigkeit einer profitgetriebenen Apparatemedizin in Zweifel zu ziehen ist, weist doch die Diskussion um Lebensende und Sterbehilfe eine eigentümliche Schräglage auf. Sie kreist in erster Linie um die Frage, auf welche lebensverlängernden Maßnahmen man verzichten möchte, während ein Interesse, jegliche medizinischen und pflegerischen Möglichkeiten bis zum letzten Atemzug vollumfänglich in Anspruch zu nehmen, nicht vorgesehen ist. Im Kontext einer gesellschaftlichen Entwicklung, immer mehr Menschen zu degradieren, für überflüssig zu erklären und auszugrenzen, wächst zwangsläufig der äußere und innere Druck, am Lebensende niemandem mehr zur Last zu fallen und eher früher als später Abschied zu nehmen, wenn dieser unabweislich näherrückt. Das neoliberale Kalkül des Menschen als bloße Ware, deren Wert der Verrechenbarkeit unterliegt, drängt um so mehr zur Entsorgung, wo keinerlei Nutzen mehr zu veranschlagen ist.


Fußnote:

[1] www.krankenhaus-statt-fabrik.de


15. Oktober 2019


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