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BERICHT/036: Am Lebensrand - der assistierte Suizid ... Bundestag muss sich nur noch zwischen zwei Gesetzentwürfen entscheiden (SB)


Unentschlossen zwischen Schutzkonzept und Freiheitsgedanken

Bundestag muss sich nur noch zwischen zwei Gesetzentwürfen zur Sterbehilfe entscheiden

Von Christa Schaffmann - 16. Juni 2023


Absehbar in der letzten Sitzungswoche des Bundestages Anfang Juli wird dreieinhalb Jahre nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) entschieden werden, ob die von Karlsruher Richtern formulierte weitgehende Freiheit, über sein Lebensende selbst bestimmen zu dürfen, erhalten bleibt oder ob diese nur verbal existiert, in Wahrheit aber so weit wie möglich eingeschränkt werden wird. Inzwischen gibt es nur noch zwei Gesetzentwürfe, zwischen denen die Abgeordneten sich entscheiden müssen: den von der Gruppe um Lars Castellucci und den von Renate Künast und Katrin Helling-Plahr, die ihre ursprünglichen Entwürfe zu einem verschmolzen und in der vergangenen Woche vor der Bundespressekonferenz vorgestellt haben.


Zwischen ihren ursprünglichen Entwürfen hatte es einige Unterschiede aber auch Gemeinsamkeiten gegeben, die diesen wichtigen Schritt schließlich ermöglichten. Beide wollten die Schaffung eines verständlichen klaren Rechtsrahmens und die Etablierung eines Schutzkonzepts mit der Möglichkeit eines transparenten Zugangs zu Medikamenten zur Selbsttötung. Auch teilten sie die Überzeugung, dass Suizidhilfe in Deutschland Menschlichkeit braucht und keine Verbotsgesetze. "Wir dürfen es Betroffenen nicht antun, dass ihr Recht auf selbstbestimmtes Sterben noch einmal mit einem Paragraphen 217 (vom BVerfG als nichtig erklärt) leerläuft. Wir wollen, dass sie nicht auf unnötig risikoreiche und schmerzhafte Methoden zur Selbsttötung verwiesen werden, wenn es doch Medikamente gibt, die eine humanere Möglichkeit bieten. Deshalb gebot es die Vernunft, die Vorstellungen beider Gruppen zu vereinen", so Katrin Helling-Plahr bei der Bundespressekonferenz. Fachleute hatten bereits vor Monaten diesen Schritt empfohlen, um einem liberalen und dem Karlsruher Urteil zumindest nahekommenden Entwurf die Chance einer Mehrheit im Bundestag zu geben.

Für ein Aufatmen oder gar Begeisterung unter Betroffenen, die sich einen Freitod wünschen, gibt es bei genauerer Betrachtung dennoch keinen Grund. Es wird auch weiter einen Beratungszwang geben abgesehen von Ausnahmen. Und Helling-Plahr ließ es sich nicht nehmen, das dafür zu schaffende "flächendeckende und hochwertige Beratungsangebot" zu preisen. Menschen mit Suizidgedanken könnten sich an Stellen wenden, "an denen sie nicht bevormundet werden, auch Hilfe zum Weiterleben vermittelt wird; wo sie an die Hand genommen werden und der Weg zur medizinischen Versorgung, vielleicht zur Palliativmedizin oder auch zu sozialen Unterstützungsangeboten geebnet wird." Der Beratungszwang entfällt nur, wenn sich Betroffene in einem existenziellen Leidenszustand, etwa bereits in einer Palliativ-Situation befinden. In Härtefällen kann ohne Beratung, dann aber mit zwei Ärzten (ungebunden) das tödliche Medikament verordnet werden. Ein Härtefall tritt ein, wenn ein existenzieller Leidenszustand mit anhaltenden Symptomen existiert, die gesamte Lebensführung dauerhaft eingeschränkt ist, die Person in absehbarer Zeit stirbt oder an einer nicht heilbaren Erkrankung leidet. Ist ein solcher Härtefall verbrieft, auch durch einen weiteren Arzt, so darf der Arzt die Verschreibung des zum Tod führenden Medikaments vornehmen. In allen anderen Fällen braucht es  v  o  r  der Verschreibung eine Beratung in einer Beratungsstelle. Das Verschreiben der Mittel zur Selbsttötung ist an eine Wartefrist gebunden und kann frühestens drei Wochen nach der Beratung und maximal zwölf Wochen danach erfolgen. Zudem erlaubt der neue Gesetzentwurf Betroffenen, die - warum auch immer - selbstbestimmt sterben wollen, sich an einen Arzt ihres Vertrauens zu wenden und von ihm die Verschreibung eines entsprechenden Medikaments zu erbitten. Dem Arzt wird es obliegen, sich ein umfassendes Bild davon zu machen, ob der Betroffene aus autonom gebildetem freien Willen handelt. Durch die Möglichkeit, das Medikament selbst einzunehmen, würden die Kosten eines assistierten Suizids (es geht um mehrere tausend Euro) entfallen, sodass die soziale Situation kein ausschlaggebender Punkt mehr wäre.

Der gemeinsame Entwurf schreibt Prävention groß, weshalb zusätzlich ein eigener Entschließungsantrag mit rein präventivem Fokus aufgenommen wurde, wie er in ähnlicher Form auch zum Gesetzentwurf von Lars Castellucci gehört.

Renate Künast gesteht, dass das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung und deren Absolutheit viele Menschen, auch sie selbst, überrascht hat. Dem Karlsruher Urteil zu folgen bedeute, die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben ein Ende zu setzen, entsprechend dem individuellen Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz, als Akt autonomer Selbstbestimmung zu akzeptieren. Diese Entscheidung sei vom Staat und von der Gesellschaft zu respektieren und nicht infrage zu stellen. "Maßgeblich ist der Wille des Grundrechtsträgers, der sich einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit entzieht."

Obwohl Sterbehilfe nun schon seit dreieinhalb Jahren wieder stattfindet auf der Basis des Karlsruher Urteils, behauptet Künast, Menschen fühlten sich unsicher, weil sie nicht wissen, wer Sterbehilfe leistet, welche Organisationen, welche Ärztinnen und Ärzte die notwendigen Regeln einhalten. Abgesehen davon, dass viele Betroffene das sehr wohl wissen, wenn auch leider nicht aus der Mehrheit der Medien, ließe sich das leicht ändern, würde Aufklärung nicht immer Gefahr laufen, als Werbung (die verboten ist) missinterpretiert zu werden.

Das BVerfG hat 2020 gesagt, dass der Gesetzgeber Schutzvorschriften erlassen darf (nicht muss!). Die Verfasserinnen und Verfasser des neuen Gesetzentwurfes formulieren nicht unähnlich zu Castellucci, dass sie solche Vorschriften wollen, weil sie niemanden allein lassen wollen. Wenn eine suizidwillige oder über Suizid nachdenkende Person Gesprächsbedarf hat, dann solle sie einen Weg finden, der reguliert ist und ein Stück Sicherheit gibt, erklärt Renate Künast und fügt hinzu: "Wir wollen auch Ärztinnen und Ärzte nicht allein lassen, die in der Sterbehilfe für sich einen Konflikt sehen oder ihn fürchten." Deutlich unterscheidet sich ihr Entwurf von dem Castelluccis in einem Punkt: Nach Überzeugung der Verfasser gehört die Regelung eines Grundrechts nicht ins Strafgesetzbuch. Eine explizite strafrechtliche Regelung sei nicht notwendig; es gelten dieselben Regeln, die im Heilmittelwerbegesetz jetzt schon gelten.

Weitere Eckpunkte des gemeinsamen Entwurfs formulieren die Verfasserinnen und Verfasser so:

Jede erwachsene deutsche Person bzw. jede Person, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat, wie es juristisch heißt, die aus freiem Willen sterben will, hat das Recht, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Eine Ausnahme sind Minderjährige, denen auch in Härtefällen keine Sterbehilfe gewährt wird.

Dieser Gesetzentwurf soll eine unwürdige, nicht vom freien Willen getragene Umsetzung verhindern und eine vollinformierte Entscheidungsfindung ermöglichen. Er garantiert einen sicheren Zugang zu Arznei- und Betäubungsmitteln zum Zwecke der Selbsttötung.

Es wird ein Präventionsantrag vorgelegt. Die Verfasser fordern, dass bis Januar 2024 ein Konzept für eine Informationskampagne entwickelt wird, besonders für gefährdete Jugendliche, junge Erwachsene und Senioren. Auch an die psychotherapeutische Versorgung soll rangegangen werden; sie müsse bedarfsorientiert sein.

An die Beratungsstellen ergeht der Auftrag, über Alternativen und mögliche Folgen aufzuklären. Der neue Gesetzentwurf legt fest, dass Beratungsstellen bestimmte Kriterien erfüllen müssen: Fachlich qualifiziertes Personal und im Bedarfsfall fachärztliche Unterstützung.

Für Vereine, die Sterbehilfe leisten, ist eine Verordnungsermächtigung vorgesehen, um Details zu regeln, die nicht zwingend ins Gesetz gehören (Meldepflicht, keine Gewinnorientierung u.a.m.). Alle zwei Jahre soll eine Überprüfung der Vereine stattfinden.

Die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) begrüßt, dass es in dem überarbeiteten Gesetzentwurf auch ein aufsuchendes Beratungsangebot geben soll, wenn der Weg zu einer Beratungsstelle für einen Suizidwilligen nicht mehr möglich ist. Auch die geplante Übergangsfrist von zwei Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes findet die Zustimmung des DGHS-Präsidenten Roßbruch. Die Zeit sollte seines Erachtens auch für Weiterbildungsangebote für Ärztinnen und Ärzte genutzt werden. Die Bereitschaft von Medizinern zur Sterbehilfe ist inzwischen gewachsen. Umfragen zufolge ist diese im Ergebnis intensiver Beschäftigung mit dem Thema von 30 Prozent kurz nach dem Karlsruher Urteil auf 82 Prozent gestiegen.

Kritisch ist zu sehen, dass die vielen präventiven Überlegungen in beiden Gesetzentwürfen noch immer Angst vor einer starken Zunahme von Suiziden erkennen lassen. Dafür liefern die zurückliegenden dreieinhalb Jahre in Freiheit keinerlei Indizien. Wer glaube durch die vorgesehenen Schutzmaßnahmen auch harte Selbstmorde zu verhindern, irrt sich, wie Prof. Peter Dabrock, ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Ethikrats, erklärt. Daran müsse mit anderen Mitteln gearbeitet werden. Zudem sei Prävention seines Erachtens viel stärker im depressiven psychotischen Bereich erforderlich. Darauf sollte auch nach Meinung vieler Betroffener mehr Kraft verwendet werden, statt gleichmacherisch allen Suizidwilligen zu unterstellen, ihnen fehlten nur viel Zuwendung und die richtigen Informationen.

Unabhängig davon, welcher Entwurf eine Mehrheit im Bundestag erreichen wird, bedarf das dann verabschiedete Gesetz der Zustimmung des Bundesrates, die für den Herbst vorgesehen ist. In dieser Terminierung sieht keine der Seiten ein Problem. Die Länder seien mit Sicherheit an der Einrichtung der Beratungsstellen interessiert.

Ob es überhaupt für einen der beiden Gesetzentwürfe Im Bundestag eine tragfähige Mehrheit geben wird, bleibt ungewiss.


Über die Autorin:

Christa Schaffmann ist Diplomjournalistin und arbeitet seit zehn Jahren als freie Autorin und PR-Beraterin, nachdem sie zehn Jahre Chefredakteurin von Report Psychologie, der Fach- und Verbandszeitschrift des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen, war.

Weitere Artikel der Autorin zum Thema "Assistierter Suizid" in Form von Berichten und Gesprächen mit Expert*Innen verschiedener Berufs- und Interessengruppen sind im Schattenblick unter dem kategorischen Titel "Am Lebensrand - der assistierte Suizid ..." zu finden unter:

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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 20. Juni 2023


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