Sterbehilfe bleibt erlaubt
Bundestag scheitert am eigenen Regelungswahn
Von Christa Schaffmann - 9. Juli 2023
Am 6. Juli 2023 fanden im Deutschen Bundestag eine Debatte über zwei Gesetzentwürfe zur Sterbehilfe sowie die Abstimmung über beide statt. Die Verfasser der konkurrierenden Entwürfe stammten jeweils aus mehreren Parteien. Einer der beiden Gesetzentwürfe stellte Sterbehilfe grundsätzlich unter Strafe, ermöglichte sie jedoch unter ganz bestimmten Umständen. Der andere siedelte die Sterbehilfe nicht im Raum des Strafrechts an, weil das aus Sicht der Verfasser zu dem klaren Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2020 nicht passe. Karlsruhe hatte seinerzeit entschieden, das jeder Bürger das Recht habe, selbstbestimmt über seinen Tod zu entscheiden und dabei auch Hilfe anzunehmen.
Abgeordnete aus beiden Verfasser-Gruppen begründeten ihre Entwürfe zum Teil mit unzutreffenden Behauptungen und trugen dazu Einzelfälle vor, mit denen sie offenbar meinten, eine Mehrheit des Parlaments für sich gewinnen zu können. Es waren Kurzreferate mit persönlicher Wertung. Rednerinnen und Redner aus allen Fraktionen glänzten dabei vor allem durch Unkenntnis der Materie bezüglich der nationalen wie internationalen Praxis der Suizidhilfe sowie der Rechtslage. Einige legten Glaubensbekenntnisse ab, andere präsentierten sich als Beschützer der Bürger, und wieder andere ließen erkennen, dass ihnen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020, welches den § 217 des Strafgesetzbuches vom 10. Dezember 2015 für nichtig erklärt hat, viel zu weit gehe. Dabei zeigte mindestens ein Teil von ihnen, dass sie dieses wegweisende Urteil entweder gar nicht gelesen oder aber nicht verstanden haben.
Keiner der beiden Gesetzentwürfe und auch die in der Debatte vorgetragenen Argumente überzeugten eine Mehrheit von Abgeordneten. Der Entwurf der Gruppe um Lars Castellucci erhielt 690 Stimmen, davon 304 für und 363 gegen den Entwurf. Die Abgeordnetengruppe um Katrin Helling-Plahr und Renate Künast brachte es auf 682 Stimmen, davon 287 Ja-Stimmen und 375 Nein-Stimmen; hinzu kamen 20 Enthaltungen. Die Unterschiede zwischen beiden Entwürfen waren einerseits klar durch die grundsätzliche Entscheidung für bzw. gegen die Verankerung der Sterbehilfe im Strafrecht. Andererseits ähnelten sie sich in ihrem Bemühen, soviel wie möglich zu regeln, und in ihrer paternalistischen Haltung mit der Begründung, man müsse Bürger durch Beratung vor Kurzschlusshandlungen schützen, Affektsuizide vermeiden (solche sind von allen mit Sterbehilfe befassten Organisationen ausgeschlossen!) und man dürfe den assistierten Suizid nicht zur Normalität werden lassen. Was sie darunter verstehen, z.B. durch die Nennung von Zahlen, verschwiegen sie. Während Betroffene unter dem Regelwahn der Politiker leiden, sucht ein Teil der enttäuschten Abgeordneten schon jetzt nach einer Lösung, die in ihren Reihen mehrheitsfähig ist und nach der Sommerpause durchgesetzt werden kann. Begründung: es gebe sonst keine Rechtssicherheit.
Sind sie damit auf dem richtigen Weg oder besteht ein grundsätzliches Problem, weshalb es am Ende keine Mehrheit gab? In Reaktionen auf die Entscheidung des Bundestages findet man auf diese Frage vielleicht eine Antwort.
Mit Erleichterung reagierte erwartungsgemäß der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) RA Robert Roßbruch auf die Bundestagsabstimmung. Die vermeintlichen gesetzlichen "Grauzonen" und der behauptete "unregulierte Zustand" seien für ihn nicht erkennbar. Eine erneute Gesetzgebung sei nicht zwingend erforderlich. Dies hat im Übrigen auch das Bundesverfassungsgericht so gesehen, denn es hat den Gesetzgeber nicht dazu verpflichtet, ein wie auch immer geartetes legislatives Schutzkonzept zu verabschieden.
Roßbruch widerspricht auch der Behauptung, dass durch den Ausgang der Bundestagsabstimmung für die Ärzte eine sehr schwierige Situation entstanden sei, die zu Verunsicherung führe. Für Ärzt:innen, die bei einem freiverantwortlichen Suizid eines ihrer Patienten assistieren, existiere schon jetzt in Deutschland ein klarer und eindeutiger rechtlicher Handlungsrahmen. Organisationen, die Freitodbegleitungen anbieten oder vermitteln, arbeiten transparent und überprüfbar; dies gelte auch, weil sie nach jeder Freitodbegleitung die örtlich zuständige Kriminalpolizei informieren, die dann ein förmliches Todesermittlungsverfahren einleitet. Assistiert ein Suizidhelfer bei einem Suizid, ohne dass die suizidwillige Person einsichts- und entscheidungsfähig ist und demzufolge freiverantwortlich handeln kann, liegt tatbestandsmäßig ein Totschlag gemäß § 212 StGB vor. Es gebe bei Verstößen somit genügend Möglichkeiten, strafrechtlich aktiv zu werden.
Auch Frank Ulrich Montgomery, Ehrenpräsident der Bundesärztekammer und ehemaliger Ratsvorsitzender des Weltärztebundes, ist keine Spur von enttäuscht über den Ausgang der Abstimmung im Parlament, wie er im Gespräch mit dem Deutschlandfunk erklärte. Vielmehr findet er den Ausgang der Abstimmung gut. Der seit dreieinhalb Jahren bestehende Zustand sei durchaus nicht ungeregelt, wie manche Politiker den Bürgern weismachen wollen. Auch hat das BVerfG neue Regelungen in Form eines Gesetzes nicht gefordert, sondern lediglich erlaubt. Beide Entwürfe hätten Montgomery zufolge zu einem monatelangen administrativen Verwaltungsverfahren mit Beratungen und Zeitfristen geführt. Das wäre der Ersatz der Humanitas durch Verwaltung gewesen und der Sache weder angemessen noch würdig. Es habe in den zurückliegenden Jahren keine Skandale, keine Prozesse, keine Dammbrüche, also ein starkes Ansteigen der Suizidalität gegeben, wie auch er sie seinerzeit erwartet hatte und eines Besseren belehrt wurde. Auch ein Wettbewerb von Sterbehilfeorganisationen habe nicht stattgefunden. Er sieht in der gegenwärtigen Situation keine Rechtsunsicherheit.
Montgomery ist wie große Teile der Ärzteschaft nicht glücklich darüber, dass das Karlsruher Urteil auch Menschen, die sich nicht in einem unumkehrbaren Sterbeprozess befinden, die Sterbehilfe erlaubt. Er begrüßt die Entscheidung des Parlaments zur verstärkten Suizidprävention. Alles andere sollte man jetzt mal so lassen wie es ist. "Man kann nicht jeden Lebenszustand, nicht alles im Leben bis ins kleinste mit Verwaltungsprozessen rechtlich regeln."
Diese Auffassung teilt auch der ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, der Theologe Peter Dabrock. Er verweist auf eine Million Menschen, die pro Jahr sterben, 100.000 Suizidversuche, von denen 10.000 tödlich ausgehen und etwa 200 Menschen, die einen assistierten Suizid wählen. Nicht auf diese Letzteren müsse man das Augenmerk richten, sondern auf die vielen anderen zum Teil tödlichen oder folgenschweren Suizidversuche. Die neue Chefin des Ethikrates, Alena Buyx, sieht es anders. Sie möchte die Dinge nicht so lassen, sondern weiter nach einer Regelungslösung suchen.
Alternativ wäre es vermutlich wichtiger, dass die Ärzteschaft sich mit dem Wunsch von Menschen nach ärztlicher Freitodbegleitung stärker auseinandersetzt, besser zwischen unterschiedlichen Sterbewünschen unterscheiden lernt und von paternalistischer Bevormundung Abstand nimmt.
Christa Schaffmann ist Diplomjournalistin und arbeitet seit zehn Jahren als freie Autorin und PR-Beraterin, nachdem sie zehn Jahre Chefredakteurin von Report Psychologie, der Fach- und Verbandszeitschrift des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen, war.
Weitere Artikel der Autorin zum Thema "Assistierter Suizid" in Form von Berichten und Gesprächen mit Expert*Innen verschiedener Berufs- und Interessengruppen sind im Schattenblick unter dem kategorischen Titel "Am Lebensrand - der assistierte Suizid ..." zu finden unter:
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 11. Juli 2023
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