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INTERVIEW/041: Vorratstherapeutikum Antibiotika - Gezielte Vergaben ...    Prof. Dr. rer. nat. Thomas Marlovits im Gespräch (SB)


"Antibiotika - Stumpfe Waffen?"

Diskussionsveranstaltung auf Einladung des Zentrums für Strukturelle Systembiologie (CSSB) und der Akademie der Wissenschaften in Hamburg am 8. November 2016 im Lichthof des Altbaus der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg

Prof. Thomas Marlovits über den Aufbruch in neue Welten des Mikro- und Nanokosmos und wie man über die Schönheit der Strukturen einerseits fasziniert sein kann, um gleichzeitig ihre tödliche Funktionalität in eine Waffe gegen Krankheitserreger umzukehren ...


Wie Geranien in einem Balkonkasten: Streptokokken-Invasion - Foto: © HZI Saftige Beeren: Pneumokokken - Foto: © HZI Minimalistische Strukturen: Enterohämorrhagische Escherichia coli des Serotyps O26:H11 (EHEC) - Foto - Foto: © HZI

Harmloser Anblick unter dem Elektronenmikroskop - effektive und manchmal todbringende Überlebensstrategien
Foto: © HZI

Die kleinen Teufel stecken überall: Sie tummeln sich auf der Tastatur des Rechners, im Darm, in Mund und Nase. Sie leben in der Tiefsee, im Eis der Polarregionen, auf und in Pflanzen, Tieren, Steinen, in der Luft und sogar in aktiven Vulkanen. Doch sind nicht einmal alle mikrobiellen Organismen bekannt, die den menschlichen Körper besiedeln. Ohne seine bakteriellen Mitbewohner wäre dieser zwei Kilogramm leichter, schätzt man und allein in einem Teelöffel Erde können mindestens 100.000 Bakterien Platz finden - die restlichen Mikroorganismen (Hefen und Pilze) nicht mitgerechnet. Wären sie alle pathogene Keime oder von ähnlichen Macht- oder Herrschafts-Interessen gelenkt und getrieben wie die Spezies Mensch, dann hätte die menschliche Rasse keine Chance. Denn die Überlebensstrategie pathogener Bakterien auf Kosten ihres Wirts ist effektiv und tödlich: Unter günstigen Bedingungen vermehren sie sich nur. Sobald ihre Population aber eine "kritische Masse" überschritten, die Anzahl der Keime eine spezifische Größe erreicht hat, erfolgt der eigentliche Angriff: Gifte werden ausgeschüttet. Manche Bakterien haben dafür sogar ein spezielles Injektionsbesteck parat. Erst wenn es in der Regel zu spät ist, bemerkt der Körper die Invasion - und wird mit der Vielzahl der Herde kaum noch fertig. Gegen solche Tücke hat der Mensch keine eigene Waffe aufzubieten. Als es ihm dann gelang, die Abwehrmechanismen anderer Mikroorganismen als Antibiotika zu nutzen, wie das Toxin des Schimmelpilzes, Penicillium chrysogenum, schien sich das Blatt zu wenden.

Inzwischen zeigt sich, daß die fremdartigen Organismen in Hinsicht auf das langfristige Überleben und der Selbstbehauptung in dieser Welt noch weitere, extrem wirksame Strategien auf Lager haben. Durch die rasche Vermehrung und ein reiches Angebot an Mutationen und die Möglichkeit, durch Plasmide hilfreiche Stoffwechselanpassungen an andere Bakterienarten weiterzugeben, sind sie in der Lage, sich auf Gifte einzustellen und sie sogar als selektionsfördendes Hilfsmittel zur Selbstoptimierung zu nutzen.

Die gefürchtete Resistenzenbildung war Thema der Podiumsdiskussion, zu der die Akademie der Wissenschaften in Hamburg gemeinsam mit dem neuen Zentrum für Strukturelle Systembiologie CSSB eingeladen hatten. [1] Jährlich sterben allein in der Europäischen Union 25.000 Menschen aufgrund von Antibiotikaresistenz, schätzt das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) in einer gemeinsamen Studie mit der Europäischen Arzneimittelagentur (EMEA). [2] Befürchtet wird, daß sich altbekannte und auch neu auftretende Infektionskrankheiten verstärkt ausbreiten könnten. Während vor allem regulatorische und finanzielle Rahmenbedingungen diskutiert werden, um den leichtfertigen Umgang mit der ehemaligen Wunderwaffe einzuschränken und ausreichend wirksame "Reservestoffe" für den Ernstfall zurückzulegen, sehen manche Wissenschaftler und Forscher auch ein Defizit zwischen der akademischen Grundlagenforschung, die an einem bestimmten Punkt endet, und der Industrieforschung, die erst viel später in die Entwicklung von Arzneimitteln einsteigen möchte. Die mühevolle und kostspielige Kleinarbeit, die nicht finanziert wird, könnte ein wenig diskutierter Grund für die Versorgungslücke sein.

Im Rahmen der Veranstaltung sprach der Schattenblick mit Prof. Dr. rer. nat. Thomas Marlovits, dem stellvertretenden Direktor des CSSB, einer neuen Forschungskooperation, die durch interdisziplinäre Bündelung und einen gemeinsamen Ansatz solche Lücken überbrücken möchte.


Prof. Marlovits in der alten Universitäts- und Staatsbibliothek Hamburg im Gespräch. - Foto: © 2016 by Schattenblick

"Wenn ich weiß, wie die einzelnen Bausteine zusammenarbeiten, die in der dreidimensionalen Struktur dieser Nadel verkörpert sind, dann kann ich die Funktionalität dieser Nadel ausschalten." (Prof. Thomas Marlovits)
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Prof. Marlovits, werden an dem von Prof. Wilmanns, Prof. Meier und Ihnen geleiteten Zentrum für strukturelle Systembiologie auch Antibiotika erforscht? Welche Verbindung besteht zwischen Ihrer Forschung und dem Thema des heutigen Abends?

Thomas Marlovits (TM): Unsere Mission besteht eigentlich darin, Erkenntnisse in die Welt zu bringen, das heißt auch neue Erkenntnisse darüber, wie Infektionswege ablaufen. Wir sind nicht primär da, um dann Antibiotika daraus zu entwickeln, sondern wir schaffen neue Grundlagen, neue Angriffspunkte, die dann in eine weitere Entwicklung geführt werden können.

SB: Suchen Sie nach ähnlichen molekularen Strukturen wie dem eindrucksvollen Beispiel der nanoskaligen Injektionsnadeln, das Frau Prof. Dersch auf dem Podium erwähnte [3], mit denen Bakterien ihre Wirtszellen angreifen?

TM: Ganz genau. Dieses Thema, das jetzt auch vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung aufgegriffen wurde, stammt ursprünglich aus unserem Labor. Wir haben die Nadel entdeckt - die schaut tatsächlich genau so aus wie eine Injektionsnadel - und nun wollen wir wissen, wie genau denn eigentlich so eine Injektionsmaschine funktioniert, wie sie sich zu einer funktionalen Einheit aufbaut. Denn wenn wir das wissen, dann können wir auch etwas dagegen oder - in einem anderen Fall - vielleicht auch etwas dafür tun. Das ist genau genommen unser Ansatz dahinter.

SB: In welchem Verhältnis stehen dabei in Ihrem Zentrum
Grundlagenforschung und die anwendungsbezogene Forschung?

TM: Das Centre for Structural Systems Biology, CSSB, als solches hat die Mission, ausschließlich Grundlagenforschung zu machen. Sein Pendant, das DZIF, das Deutsche Zentrum für Infektionsforschung, hat dagegen das ausschließliche Ziel, anwendungsorientierte Forschung zu machen. Und wichtig, glaube ich, wird es für uns in Zukunft werden, hier Brücken zu schlagen, das heißt zunächst die Kommunikation zwischen Grundlagenforschung und Anwendung aufzubauen, um das zu garantieren.

SB: Das CSSB ist eine Kooperation von einer Anzahl unterschiedlichster wissenschaftlicher Institutionen aus Norddeutschland, darunter drei Universitäten und sechs außeruniversitäre Forschungseinrichtungen. Warum schien so vielen unterschiedlichen Partnern ein spezielles Zentrum für die Bündelung der Infektions- und Immunforschung notwendig und sinnvoll?

TM: Das Konstrukt, zehn Partner an einen Tisch zu bringen, ist an sich schon ungewöhnlich. Wenn das ein Erfolg wird, dann ist das allein der Organisationsstruktur zu verdanken. Die Idee war ursprünglich - und jetzt muß ich die Idee der Gründerväter aufgreifen, wie sie mir mitgeteilt wurde -, ein übergreifendes Zentrum zu haben, in dem die Forschungspartner, unabhängig von der Lokalisation der jeweiligen Mutterinstitution, ein Thema belegen.

Und das Thema Infektionsbiologie paßt einfach ganz gut zu Hamburg, allein schon aus Tradition. Denn in Hamburg haben wir auf der einen Seite das Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin (BNITM) und dann das Heinrich-Pette-Institut (HPI) mit dem speziellen Fokus auf virale Infektionen. Allein schon die Lage in der Nähe eines internationalen Hafens war sicher prädestiniert für die Entwicklung des ersten infektionsbiologischen Forschungsinstituts hier in Hamburg. Und das UKE (Universitätsklinikum Eppendorf) ist mit seiner Behandlungstechnik international bekannt und angesehen. Und schließlich war der Standort DESY naheliegend, um all das zusammenzubringen, da unser Schwerpunkt die Strukturelle Systembiologie ist, unser Ansatz also darin liegt, molekulare Strukturen in ihrer Dreidimensionalität zu verstehen, um daraus abzuleiten, wie sie funktionieren, und DESY einer der weltweit besten Plätze ist, um solche Strukturen analysieren zu können.

SB: Nun weiß man bereits seit mindestens zwanzig Jahren, daß durch das Auftreten von Resistenzen eine Lücke in der Antibiotikaversorgung und Arzneimittelentwicklung zu erwarten ist. Inwieweit war das ein Argument dafür, sich in einer Kooperative zusammenzuschließen und Kräfte und Wissen gewissermaßen zu bündeln?

TM: Primär war das kein Grund, den ich unterschreiben könnte, weil die Mission des CSSB ausschließlich in dem Herbeibringen neuer Erkenntnisse liegt. Uns geht es nicht in erster Linie darum, ein Zielmolekül erkannt zu haben, um dagegen ein Medikament zu entwickeln, sondern überhaupt darum, neue Systeme zu erkennen und zu erforschen, die in der Infektion essentiell eine Rolle spielen, wie etwa diese Nadel. Doch wenn ich weiß, wie die einzelnen Bausteine zusammenarbeiten, die in der dreidimensionalen Struktur dieser Nadel verkörpert sind, dann kann man ihre Funktionalität ausschalten und wird nicht mehr infiziert. Das heißt, es läßt sich möglicherweise mit einem neu entwickelten Medikament Sand ins Getriebe bringen, im wahrsten Sinne des Wortes.


Die Architektur der T3SS Sekretionsmaschine von Salmonella typhimurium, einmal schematisch als Maschine konstruiert und einmal so, wie sie durch ein Elektronenrastermikroskop der PC-Schirm darstellt. - Grafik: 2014 by Abrusci, McDowell, Lea, Johnson - open access article under CC-BY licence.(http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/), via Elsevier sponsored document aus:Curr Opin Struct Biol. 2014 Apr;25(100): 111-117. - https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4045390/#__ref-listid847620titl

"Irgendwann kommt man zu dem Punkt, da sagt man, jetzt muß ich dieses Ding mal sehen." (Prof. Marlovits)
Grafik: 2014 by Abrusci, McDowell, Lea, Johnson - open access article under CC-BY licence.(http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/), via Elsevier sponsored document aus: Curr Opin Struct Biol. 2014 Apr;25(100): 111-117.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4045390/#__ref-listid847620titl

SB: Haben Sie das entsprechende Stopfmaterial für die Kanüle denn schon gefunden? Wurde die winzige Injektionsmaschine schon mal ausgeschaltet?

TM: Ja, nicht am CSSB, aber noch während meiner Tätigkeit in Wien haben wir einige sogenannte chemische Screens laufen lassen. Das sind Hochdurchsatzverfahren, bei denen eine Reihe von organischen Stoffen, möglichen potentiellen Medikamenten oder Grundstrukturen davon, auf ihre diesbezügliche Funktionalität getestet werden. Zum Beispiel untersucht man ihre inhibierende Wirkung.

SB: Das heißt, man schaut nach, ob sie der passende Stöpsel
sind, der die Injektionsnadel verschließt?

TM: Genau. Dazu gibt es einerseits regelrechte chemische Bibliotheken im Besitz von Unternehmen, andererseits stehen dafür auch schon öffentlich zugängliche Bibliotheken zur Verfügung. Und damit können wir hunderttausend Substanzen testen, ob sie tatsächlich einen Effekt zeigen. In der Regel sind die Effekte sehr gering, wenn sie überhaupt aufscheinen. Aber was man daraus ableitet, sind sozusagen die ersten chemischen Leitstrukturen, das heißt dreidimensionale Strukturen eines Moleküls, die gegenüber der bakteriellen Nadel beispielsweise einen Effekt zeigen.

Leider ist das Thema in der Podiumsdiskussion etwas zu kurz gekommen, denn dort hört normalerweise die akademische Forschung auf. Die Industrieforschung möchte erst sehr viel später einsteigen. Die Brücke, die man hier schlagen müßte, besteht darin, diese vorläufigen Leitstrukturen zu verwenden und in die Hände eines medizinischen Chemikers zu geben, der gezielt versucht, sie an einigen Stellen zu verändern. Dann stellt man fest, ob die Moleküle in ihrer inhibierenden Wirkung potenter oder weniger potent geworden sind. Das ist ein ausgesprochen zeit- und kostenintensiver Entwicklungsschritt hin zu einem effektiven Wirkstoff, der, wie gesagt, von der akademischen Forschung in der Regel nicht mehr abgedeckt werden kann.

SB: Diese Veränderungen an der chemischen Struktur und auch das Überprüfen der Wirkung finden gewissermaßen am Bildschirm im Modell statt. Lassen sich daraus denn tatsächlich neue Zusammenhänge erkennen, von denen man nicht bereits bei der Programmierung oder der dazu notwendigen Vorermittlung ausgegangen ist? Ergibt sich ein Erkenntnisgewinn allein aus der Beobachtung oder aus der Darstellung von dreidimensionalen Molekülen?

TM: Ja. Der Ansatz in der sogenannten Strukturbiologie besteht darin, nicht das Erhalten der dreidimensionalen Struktur als Endpunkt einer Forschung anzusehen, sondern vielmehr als eine besser ausformulierte Arbeitshypothese. Bis man tatsächlich eine dreidimensionale Struktur darstellt, werden sehr viele biochemische und molekularbiologische Experimente gemacht. Irgendwann kommt man zu dem Punkt, daß man sagt, es gibt so viele Möglichkeiten, ich weiß ungefähr, wie das funktionieren könnte, aber ich muß dieses Ding mal sehen. Und erst dann, wenn ich es sehe, kann ich einerseits überrascht sein, weil es vielleicht ein völlig anderes, noch ganz unbekanntes Konzept ergibt, oder es ist erwartungsgemäß eines, das man vielleicht schon mal irgendwo gesehen hat und sich in diese Reihe eingliedert.

Sobald man ein neues Konzept in der dreidimensionalen Darstellung hat, beginnt man wiederum eine Arbeitshypothese aufzustellen und fragt: Wie funktioniert das? Wozu dient dieser oder jener Teil in der Gesamtfunktionalität? Und dann beginnt man erneut Experimente um diese Fragestellung herum, um genau das festzustellen. Das ist die Mission des CSSBs, es geht um den ganzen Zyklus: Wir haben zunächst Systeme, die zum Beispiel ein Genom kodieren, die Codes werden umgesetzt in Proteine, die Strukturen aufbauen, die eine Funktion haben, etwa diese Nadel für den initialen Infektionsprozeß zu bilden, und dann versuchen wir schließlich, die Details dieser Nadel noch genauer kennenzulernen.

SB: Sie sagten vorhin, daß bei der Wahl des Standortes des CSSB auch die Nähe des DESY eine große Rolle gespielt hat, weil es eines der besten Einrichtungen für die Strukturaufklärung darstellt. Was leistet die physikalische Grundlagenforschung für die Biologie?

TM: Zum einen bietet der DESY-Campus die nötigen Infrastrukturen. Das sind die sogenannten Streamlines, die beispielsweise verwendet werden, um Streubilder aus Kristallen zu machen oder um dreidimensionale Strukturen zu berechnen, das ist das eine. Zum anderen ist DESY der Standort, der für den Bau des sogenannten freien Elektronen-Lasers von einem internationalen Konsortium ausgewählt wurde. Es gibt momentan einen in Standford, doch hier in Hamburg wird eigentlich der weltstärkste Laser gebaut. Man erhofft sich, mit diesem Laser vielleicht auch noch schneller und genauer dynamische Prozesse von solchen Molekülkomplexen analysieren zu können. Es wird sich zeigen, ob das tatsächlich machbar sein wird oder nicht, denn noch sind es theoretische Konzepte.

Darüber hinaus gibt es natürlich andere Initiativen, die für die Biologie dort durchaus interessant sind. Da gibt es Bereiche aus der Nano-Wissenschaft und Ideen, die chemischen Institute zu bündeln, chemische Biologie zu machen, das also zu ermöglichen, was ich vorhin über medizinische Chemie gesagt habe, die hier eine enge Schnittstelle haben.

Aber insgesamt gesehen würde ich sagen: Die meisten Dinge in der Wissenschaft passieren immer dort, wo Leute zusammenkommen, die einen unterschiedlichen Hintergrund haben und sich Gedanken über ein und das gleiche Problem machen, es aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Wenn sie ins Reden kommen, so einfach und so banal das jetzt klingen mag, erkennt man vielleicht eher neue Konzepte und schafft es, tatsächlich, einen Paradigmenwechsel in der Forschung durchzusetzen.

SB: Dieser interdisziplinäre Ansatz scheint überhaupt der neue Trend in der Forschung zu sein?

TM: Jeder fühlt sich in seiner Community, seinem gewohnten Umfeld, normalerweise wohl. Doch in dem Moment, wo man an seine Grenzen stößt, wird es interessant. Und jetzt verpflanzt man sozusagen ein biologisches Thema mit seinen Technologien mitten auf einen Physiker-Campus. Das allein ist eine Chance. Die Frage ist, wie sie genutzt wird: Gibt es Mechanismen, die es ermöglichen, daß sich ein Physiker für biologische Fragestellungen begeistert und auch umgekehrt? Eines der spannendsten Elemente in der biologischen Forschung ist durchaus, daß ihre Erkenntnisse - im Grunde gilt das für die ganze naturwissenschaftliche Forschung - durch die Entwicklung neuer Technologien generiert und weiter vorangetrieben werden und daß ein Biologe plötzlich eine Idee entwickelt, welche Technologien gebraucht werden, um das zu bearbeiten.

Man entwickelt vielleicht ein solches Gerät, macht damit die nötige Analyse und kommt dann plötzlich auf neue Fragen oder andere Dinge, die man vorher überhaupt nicht gesehen hat. Das heißt, es kommt ein neuer Schwung an biologischen Forschungsaufgaben auf einen zu, und wenn man ein Umfeld schafft, wo sich diese beiden paritätisch zueinander entwickeln können, dann kann daraus nur eine sehr fruchtbare und spannende Forschung entstehen.

SB: In den biomedizinischen Beschreibungen werden häufiger Begriffe wie Abwehr und Eindringen verwendet oder es wird sogar vom Austricksen in der Immunabwehr gesprochen. Gehen Sie als Strukturbiologe eher von einem absichtsvollen Handeln der Mikroorganismen, der Bakterien oder Viren aus oder sind das für Sie alles rein biochemische Reaktionen, die nach einem festgelegten Programm ablaufen aufgrund von welchen Kräften auch immer?

TM: Grundlegend gehe ich davon aus, daß das schon ein Programm ist. Was wir als Lebewesen sehen, ist ja genau genommen die Geschichte einer ganzen Evolution, die dahinter steht. Und je nach Umwelteinflüssen hat dieser Organismus ein gewisses Potential, sich in die eine oder andere Richtung weiterzuentwickeln. In den Mikroorganismen geht dieses Grundprinzip einfach viel schneller voran. In der schnellen Generationszeit, das heißt, so alle 30 Minuten, also relativ kurz gesehen, habe ich eine Tochterzelle.

Heute haben wir über Antibiotika gesprochen, genau genommen, was man macht, wenn man zu lange Antibiotika gibt. Das ist ein Experiment, ein Selektionsprozeß. Ich verändere die Umweltbedingungen und ermögliche, daß sich dann vielleicht nur ein Teil davon multiresistent weiterentwickelt. Das ist eine Antwort auf die Umgebung. Die Möglichkeit, sie zu geben, steckt in der Evolutionshistorie, eingebaut in den Genomen.


Prof. Marlovits in der Podiumsdiskussion - Foto: © 2016 by Schattenblick

Antibiotika zu geben ist ein Experiment, ein künstlich initierter Selektionsprozeß.
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Würden Sie einen Begriff wie "austricksen" eher als pseudowissenschaftlich ansehen oder als ein Mittel, sich in der Öffentlichkeit irgendwie verständlich zu machen?

TM: Nein, das ist die Möglichkeit der Reaktionsfähigkeit. Man darf nicht vergessen, daß wir fertige Systeme untersuchen, wir sind Teil der Evolution, noch mitten im ganzen Prozeß. Das ist ein Teil des Lebens. Das heißt, manches Mal verstehen wir nicht, wie sich neue Dinge entwickeln können. Es gibt Theorien, die sagen, es müsse zu kleinen Veränderungen in Teilaspekten kommen, bis plötzlich wieder ein neues System gebaut wird. Aber es bedarf immer dieses Selektionsprozesses, den man auch mit sich nimmt.

SB: Ein anderer Blickwinkel auf Ihre Forschung ist ein sehr mechanischer. Im Titel Ihrer nächsten Arbeit geht es um Nanomaschinen. Kann man denn pathogene Mikroorganismen tatsächlich auf solche Mechanik reduzieren?

TM: Wo kommt der Begriff der Nanomaschine eigentlich her, das sind ja zwei Dinge, die Maschine und das Nano. Nano kommt durch die Größeneinheit, durch die Kleinheit, in der wir uns gerade befinden. Für die Maschine kann man im Prinzip eine Analogie zum Auto sehen. Ich habe hunderte von Einzelteilen, die zusammen eine funktionale Einheit ergeben. Und so ähnlich ist das mit den Molekülen, die in der Regel nicht alleine in unserem Körper, in den Zellen, arbeiten. Das heißt, sie brauchen andere, um vielleicht eine feste "Interaktion" einzugehen, also einen Partner für sich zu finden. Wenn sich ein paar Verschiedenartige binden, kann sich eine Struktur ausbilden, die die eine oder andere chemische Reaktion ermöglicht oder erlaubt. Und wenn es einen Weg gibt, das aufs Genom rückzukoppeln, dann kann sich ein Organismus in die eine oder andere Richtung hin weiterentwickeln. Nanomaschinen sagen wir dann deswegen, weil die Komponentensysteme Bindungsflächen haben. Das sind in der Regel Proteine, die durch bestimmte Muster schon zusammenpassen, die aufeinander abgestimmt sind und dann ein größeres Gebilde zusammensetzen.

SB: Ich habe Nanomaschinen immer so verstanden, daß es mechanische Einheiten sind, nur eben sehr klein. Bei mechanischen Maschinen stelle ich mir dann eine Regelmäßigkeit vor: Ein Zahnrädchen greift in das nächste. Aber gleichzeitig handelt es sich ja um biologische Systeme. Gibt es dabei auch Reaktionen, die aus dem Ruder laufen, die man nicht vorhersagen kann? Und wird so etwas mit einkalkuliert?

TM: Ich würde eher sagen, es wird nicht einkalkuliert, sondern vielleicht sogar bewußt eingesetzt, indem wir zum Beispiel Mutationen einführen, Veränderungen in einzelnen, kleinen Stellen. Wenn ich eine bestimmte Arbeitshypothese verfolge, ist das ein grundlegendes Prinzip, um festzustellen, wie diese Struktur ausschaut. Genauer gesagt: Wenn ich glaube, daß genau da eine bestimmte chemische Reaktion ablaufen müßte oder daß dieser Teil wichtig ist, dann versuche ich genau diesen Teil spezifisch zu ändern. Und sobald ich eine gewisse Auflösung habe und weiß, welche Aminosäure, die Teil dieses Proteins ist, an dieser Stelle sitzt, kann ich das aufs Genom zurückführen und mir ansehen, wie das kodiert ist. Ich verändere es durch eine bewußt eingeführte Mutation genau an dieser Stelle und verändere diese Aminosäure x zu einer Aminosäure y, die andere Eigenschaften hat und dann stelle ich experimentell die Frage: Hat sich die Funktion nun verändert oder nicht? Es ist ein zusätzlicher Erkenntnisgewinn, wo sich diese "aktive Stelle", wie wir sie nennen, zum Beispiel im Enzymkomplex befindet.


Computergenerierte Struktur der Sekretionsmaschine, wie sie sich im Inneren der Injektionsmaschine verstecken könnte - Grafik: 2014 by Abrusci, McDowell, Lea, Johnson - open access article under CC-BY licence.(http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/), via Elsevier sponsored document aus: Curr Opin Struct Biol. 2014 Apr;25(100): 111-117. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4045390/#__ref-listid847620titl

Was an unentwirrbare Wollhaufen oder Luftschlangen erinnert, sind sogenannte Proteinbausteine, deren Strukturen bereits aus verschiedenen anderen Bakterien isoliert und aufgeklärt worden sind und im Modell neu zu funktionellen Einheiten einer ganz anderen Spezies zusammengesetzt werden.
Grafik: 2014 by Abrusci, McDowell, Lea, Johnson - open access article under CC-BY licence.(http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/),
via Elsevier sponsored document aus: Curr Opin Struct Biol. 2014 Apr;25(100): 111-117.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4045390/#__ref-listid847620titl

SB: Haben Sie schon mal etwas gefunden, was Sie selber total
überrascht hat?

TM: Ja, wenn man zum ersten Mal diese Nadelkomplexe sieht, das glaubt man nicht. Das sieht aus wie eine korinthische Säule, wirklich ästhetisch, ein wunderschönes Ding. Ich kann Ihnen sagen, was ich gemacht habe, als ich sie zum ersten Mal im Mikroskop sah: Ich habe mir gesagt "okay" und dann den Elektronenstrahl abgestellt, mir einen Kaffee geholt, ihn wieder angeschaltet und mir die Frage gestellt: Ist das noch da oder nicht?

Ich meine, das sind ganz einfache Dinge und es ist auch eine entscheidende Phase nicht nur in dem Erkenntnis-, sondern in dem Entdeckungsprozeß, denn das sind zum ersten Mal die ersten beiden Augen weltweit, die dieses Ding sehen - ein sehr privater Moment auch, wo man sich vielleicht ein paar Minuten zurückzieht und es genießt, daß man sagen kann: Das ist jetzt meine Zeit.

SB: Haben Sie in dem Moment die Bedeutung geahnt, daß es was
Fundamentales ist?

TM: Die Bedeutung kennt man noch nicht so wirklich, aber man hat natürlich das Gefühl, man befindet sich auf einer interessanten Spur. Ich selber bin ein bißchen architekturaffin und da kommt mir durch die Strukturbiologie, auch wenn sie sich in einem anderen Maßstab abspielt, sehr gelegen, mir darüber Gedanken zu machen, wie sich Funktionalität über die Struktur definiert. Ein Auto fährt nur, weil es so gebaut ist. Das heißt nicht, daß das die einzige Lösung ist, Autos gerade so zu bauen. Oder der Körper, den wir haben, mit seinem Skelett, das uns erlaubt, geradeaus zu gehen: Würden wir heute ein Skelett neu bauen, würden wir das nie so anlegen wie unseres gewachsen ist. Der aufrechte Gang hat andere Probleme mit sich gebracht. Statt dessen würden wir das haltgebende Gerüst des Körpers wunderschön gleichmäßig in der Mitte anordnen. Man lebt sozusagen mit dieser Bürde, die die Evolution mit sich bringt.

SB: In welche Richtung müßte Ihrer Meinung nach die pharmazeutische Forschung und die Medizin gehen, was Antibiotika und vielleicht auch generell Ihre Forschung betrifft?

TM: Ich glaube, es wäre wichtig, wenn die einzelnen Vertreter in diesen Disziplinen noch viel mehr miteinander sprechen beziehungsweise in Kontakt treten können. Für mich wäre es spannend, auch Patienten zu sehen und die Notwendigkeiten, die ein Arzt als wichtig empfindet, weil ich auch glaube, daß das auf unsere Forschungsaktivität einen direkten Einfluß haben kann, genauso auch die Interaktion mit der pharmazeutischen Industrie. Als akademischer Forscher hat man in der Regel überhaupt keine Ahnung, wie die Prozesse in der Industrie ablaufen und was deren Herausforderungen sind, die superspannend sein können, aber sie sind einfach anders gelagert. Und gegenseitiges Verständnis, genau genommen miteinander sprechen kann hier sehr viele Barrieren senken zum Wohle der Gesamtheit. Allein schon eine Podiumsdiskussion kann dabei helfen. Ein Verständnis aufzubringen, ist schon sehr wichtig. Das würde für die Gesellschaft eigentlich langfristig sehr viel mehr bringen.

SB: Man hat das Gefühl, daß die Strukturbiologie, eine lustvolle Angelegenheit ist, wenn man Ihnen zuhört ...

TM: ... ist schon cool - als Wissenschaftler betrachte ich zumindest mich so ein bißchen wie Columbus. Man setzt Segel, weil man nach Indien möchte und landet ganz woanders. Das ist das erste. Dann muß man auch erkennen, daß man woanders gelandet ist, so kann auch etwas Großartiges daraus werden oder nicht. Und ich meine, die grauen Flecken dieser Erde sind nur in einem für uns anderen Maßstab hier, und die gilt es zu ergründen.

SB: Das war ein schönes Schlußwort. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch.


Anmerkungen:

[1] Ein Bericht zu der Podiumsdiskussion folgt in Kürze, ein weiteres Interview mit Prof. Dr. med. Ansgar W. Lohse im Gespräch zum Thema siehe Medizin → Report:
INTERVIEW/040: Vorratstherapeutikum Antibiotika - So heiß wird die Suppe nicht verzehrt ...    Prof. Dr. med. Ansgar W. Lohse im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/report/m0ri0040.html

[2] http://ecdc.europa.eu/en/publications/Publications/0909_TER_The_Bacterial_Challenge_Time_to_React.pdf

[3] Professorin Dr. rer. nat. Petra Dersch, Leiterin der Abteilung Molekulare Infektionsbiologie Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung.


17. November 2016


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