Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → REPORT


INTERVIEW/043: Am Lebensrand - der assistierte Suizid ...    Prof. Dr. Georg Marckmann im Gespräch (SB)


Bürokratische Monster statt Hilfe für Suizidenten

Prof. Dr. Georg Marckmann über Gesetzentwürfe zum assistierten Suizid

Das Gespräch führte Christa Schaffmann - Februar 2022



Porträt von Prof. Dr. Georg Marckmann - Foto: by Yves Krier

Prof. Dr. Georg Marckmann ist Vorstand des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Präsident der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM)
Foto: by Yves Krier

Schattenblick: Der Bundestag plant, noch in diesem Jahr ein neues Gesetz zum assistierten Suizid zu beschließen. Sie haben sich gegen ein solches Gesetz ausgesprochen. Warum?

Georg Marckmann: Ein Gesetz ist nicht notwendig - abgesehen von der Änderung des Betäubungsmittelgesetzes. Nachdem das Bundesverfassungsgericht den § 217 für verfassungswidrig erklärt hat, sind wir zu der Rechtsordnung zurückgekehrt, die Deutschland seit 1871 hatte. Die Suizidassistenz ist nicht strafbar, weil man - wenn der Suizid als solcher nicht strafbar ist - nicht für die Hilfe bei einer nicht strafbaren Handlung bestraft werden kann.

Schattenblick: Gibt es I.E. keinerlei Regelungsbedarf?

Georg Marckmann: Es sollte Standards geben, die die freiverantwortliche Entscheidung der suizidwilligen Menschen sichern. Die Betroffenen müssen entscheidungsfähig und ausreichend darüber informiert sein, welche Möglichkeiten ihnen zur Verfügung stehen. Diese Voraussetzungen kann man in einem Gesetz verankern, muss es aber nicht. Alternativ könnte man eine entsprechende Regelung in das Berufsrecht aufnehmen. In der Schweiz hat dies die Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) gemacht; analog könnte in Deutschland die Bundesärztekammer eine Vorgabe erstellen, unter welchen Bedingungen Ärzte Beihilfe zur Selbsttötung leisten können. Ich bin der Meinung, dass man möglichst wenig gesetzlich regeln sollte und würde daher eine standesrechtliche Regelung bevorzugen.

Schattenblick: Welchen Eindruck erzeugen die vorliegenden aus dem Parlament stammenden Gesetzentwürfe bei Ihnen?

Georg Marckmann: Das sind für mich bürokratische Monster - sehr ausführlich, bemüht, jedes einzelne Detail zu regeln. Ich weiß nicht, ob das praktikabel ist und noch weniger, ob es den betroffenen Menschen hilft. Wichtiger scheint mir eine Antwort auf die Frage: Wie können wir verzweifelten, in vielen Fällen schwerkranken Menschen eine bessere medizinische und palliativmedizinische Versorgung, eine bessere Pflege bieten, sodass zumindest bei einigen der Suizidwunsch gar nicht erst entsteht? Doch darauf geben die Regulierungskonzepte mit engen Vorgaben keine Antwort.

Schattenblick: So sind die Entwürfe auch nicht angelegt. Das könnte m.E. eher ein Investitionsprogramm für die von Ihnen genannten Bereiche leisten.

Georg Marckmann: Genau. Die Suizidprävention vorrangig beim Einzelnen anzusetzen, ist der falsche Weg. Die Politik sollte dafür sorgen, dass die Bedingungen z.B. in Pflegeeinrichtungen besser werden, eine flächendeckend gute Palliativversorgung existiert, es Unterstützungsangebote für vereinsamte Menschen gibt und vieles mehr.

Schattenblick: Die bürokratischen Monster, von denen Sie gesprochen haben, erschweren Suizide für alle, wenn sie sie nicht sogar unmöglich machen. Mit Suizidprävention haben sie nicht wirklich etwas zu tun. Wäre es hilfreich, die Entwürfe mindestens zu entschlacken und auf professionelle Beratung zu reduzieren, in deren Verlauf all das, was in den vorliegenden Papieren mehreren Ärzten plus Beratungsstellen zugeschrieben wird, genauso gut ermittelt werden kann und noch dazu in einem deutlich entbürokratisierten Prozess?

Georg Marckmann: Ich finde es nicht überzeugend, für die notwendige Prüfung der freiverantwortlichen Entscheidung spezielle Beratungsstellen einzurichten. Wieso kann das nicht alles in einer ärztlichen Hand liegen - die Prüfung, die Medikamenten-Verordnung und - wenn gewünscht - auch die Sterbebegleitung? Warum sollte sich der zum Suizid Entschlossene einen Arzt nicht selbst auswählen dürfen, z.B. seinen Hausarzt, der ihn seit langem kennt, der die Umstände viel besser einordnen kann, dem der Betroffene auch mehr Vertrauen schenkt als einem Fremden? Um Missbrauch vorzubeugen, könnte man die Prüfung der Freiverantwortlichkeit durch einen zweiten, unabhängigen Arzt vorsehen. Ebenso wäre es keine gute Lösung, wenn die Suizidassistenz nach dem Vorbild des Schwangerschaftsabbruchs geregelt würde: Letzterer ist anders als der Suizid generell strafbar, nur unter bestimmten Voraussetzungen ist von einer Strafe abzusehen.

Schattenblick: Dies könnte aber passieren. Wie würde Karlsruhe wohl reagieren?

Georg Marckmann: Das Bundesverfassungsgericht müsste das Gesetz eigentlich erneut kassieren. Aber damit wäre keinem suizidwilligen Menschen geholfen. Das Karlsruher Urteil ist sehr klar in seinen Formulierungen; man kann die Lektüre nur jedem empfehlen. Danach hat jeder Mensch - auch unabhängig von einer lebensbedrohlichen Erkrankung - das Recht sich das Leben zu nehmen, was auch die Freiheit einschließt, dabei Hilfe von anderen in Anspruch zu nehmen.

Dass die Suizidassistenz nicht vom Vorliegen einer unheilbaren Erkrankung abhängig gemacht wird, ist tatsächlich eine Herausforderung. So weit sind die meisten anderen Länder mit einer liberaleren Regelung von Suizid nicht gegangen. Dafür braucht es spezielle Unterstützungsstrategien und -angebote. Im Vordergrund sollte immer die Hilfe für die Betroffenen stehen, und diese Hilfe darf keine Einbahnstraße zum Weiterleben sein.

Schattenblick: Was wird oder was sollte passieren, wenn es zu einer steigenden Zahl von Selbsttötungen kommt?

Georg Marckmann: Sollte es dazu kommen, brauchen wir eine gute Evaluation. Es darf nicht sein, dass wir bei einer steigenden Zahl nicht die Lebensbedingungen verbessern, sondern mit noch mehr Einschränkungen bis hin zu Verboten reagieren. Schon jetzt habe ich Sorge, dass man bei den vielen Gedanken, die man sich über die Beratung von Einzelnen macht, die systemischen Lebensbedingungen aus dem Blick verliert.

Schattenblick: Verstehe ich das richtig, dass Sie befürchten, das Hauptziel von Gesprächen, die der Betroffene mit einem Arzt und/oder in einer Beratungsstelle führt, gerät aus dem Blickfeld?

Georg Marckmann: Die Gefahr besteht durchaus. Die Kernaufgabe ist doch, dem Betroffenen eine informierte, freiverantwortliche Entscheidung zu ermöglichen; im Einklang mit den längerfristigen Werthaltungen, wie wir das auch bei medizinischen Behandlungsentscheidungen tun. Die vom Betroffenen am Ende gefällte Entscheidung müssen wir ermöglichen und nicht verhindern - egal, ob diese am Ende dem beteiligten Arzt oder Berater gefällt, ob er sie für angemessen hält oder nicht.

Schattenblick: Haben die Kirchen in Ihren Augen bei diesem Thema eine besondere Kompetenz?

Georg Marckmann: Die Religion spielt wahrscheinlich eine große Rolle bei der Entscheidung des Einzelnen für oder gegen einen Suizid. Religion kann sinnstiftend für viele sein, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer Kirche. Aber wir leben in einem säkularen Staat. Religion ist Privatsache. Sie darf nicht zur Grundlage für allgemeine gesellschaftliche Regelungen gemacht werden. Die Kirchen sollten deshalb auch keinen Einfluss auf solche Gesetze und die darin enthaltenen Regelungen nehmen, da sie partikulare Interessen vertreten. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Punkt sehr klar formuliert: Die Bewertung, ob das eigene Leben lebenswert ist oder nicht, obliegt nur dem einzelnen Menschen, ebenso die Konsequenz, die er aus der Beurteilung zieht.

Schattenblick: Die vorliegenden Gesetzentwürfe lassen das Bestreben erkennen, bei psychisch Erkrankten besondere Hürden aufzubauen - sowohl was die Diagnostik betrifft als auch die Fristen bis zur evtl. Genehmigung eines assistierten Suizids. Steckt darin der Verdacht, sie seien unfähig zur selbstbestimmten Entscheidung über ihren Tod?

Georg Marckmann: Viele von ihnen können durchaus selbstbestimmt entscheiden. Man muss aber diejenigen Menschen identifizieren, bei denen der Suizidwunsch Teil oder Symptom der psychischen Erkrankung ist im Unterschied zu einer Reaktion auf die Folgen der Erkrankung. Ein Beispiel wäre ein Patient mit einer therapierefraktären Psychose, der selbstbestimmt die krankheitsbedingten Einschränkungen nicht mehr bereit ist länger zu ertragen und darauf reagiert - wie bei einer unheilbaren körperlichen Erkrankung. In diesem Fall steht dem assistierten Suizid nichts im Wege. Ich sehe aber schon die Gefahr, dass psychisch Kranken eher unterstellt wird, sie seien zu selbstverantwortlichem Handeln nicht in der Lage.

Schattenblick: Würden Sie in jedem Fall beim Wunsch nach assistiertem Suizid neben einem Allgemeinmediziner und/oder dem behandelnden Arzt einen Psychiater hinzuziehen?

Georg Marckmann: Nein. Nur, wenn der Arzt im Gespräch mit dem Suizidwilligen vermutet, die selbstbestimmte Entscheidung des Betroffenen könne durch eine psychische Erkrankung beeinträchtigt sein, sollte ein Spezialist hinzugezogen werden.

Schattenblick: Sehen Sie in Ärzten die am besten geeignete Berufsgruppe für einen assistierten Suizid?

Georg Marckmann: Ich glaube, dass Ärzte über besondere Kompetenzen verfügen, um mit Menschen zu sprechen, die ihrem Leben ein Ende setzen möchten. Ich würde daher Ärzte bevorzugen - nicht nur in Krankheitsfällen, in denen ein Arzt sowieso zwingend mit dem Suizidwilligen sprechen sollte, sondern auch im Gespräch mit einem gesunden Menschen, der sterben möchte ...

Schattenblick: ... einem lebensmüden oder - wie z.B. die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben es ausdrückt - lebenssatten Menschen ...

Georg Marckmann: ... ggf. auch unter Hinzuziehung sozialer Dienste, sollten bei der Unterhaltung zuvor nicht bekannte Gründe/Krisen zur Sprache gekommen sein. Dabei benötigen Ärzte eine besondere Ausbildung und Erfahrung in der Gesprächsführung, wie sie beispielsweise auch bei der Erstellung einer Patientenverfügung gefordert ist. Dabei geht es auch darum, welche Einstellung jemand zum Tod hat, wie gerne die Person noch lebt, und wo sie ggf. einen Punkt sieht, an dem sie nicht um jeden Preis weiterbehandelt werden möchte. In beiden Fällen muss der Betroffene dabei unterstützt werden, eine für seine ganz individuelle Lebenssituation stimmige wohlinformierte Entscheidung zu treffen.

Schattenblick: Aber wollen Ärztinnen und Ärzte diese Aufgabe auch übernehmen?

Georg Marckmann: Ich denke, dass für die überschaubare Anzahl von Fällen, in denen jemand um eine Hilfe bei der Selbsttötung bittet, genügend Ärzte zur Verfügung stehen werden. Unter meinen Studierenden können sich derzeit meist rund zwei Drittel vorstellen, Suizidassistenz zu leisten.


Über die Autorin:

Christa Schaffmann ist Diplomjournalistin und arbeitet seit zehn Jahren als freie Autorin und PR-Beraterin, nachdem sie zehn Jahre Chefredakteurin von Report Psychologie, der Fach- und Verbandszeitschrift des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen, war.

Einen einleitenden Text zum Sachstand sowie weitere Beiträge der Autorin zum Thema "Assistierter Suizid" in Form von Gesprächen mit Expert*Innen verschiedener Berufs- und Interessengruppen sind im Schattenblick unter dem kategorischen Titel "Am Lebensrand - der assistierte Suizid ..." zu finden unter:

SCHATTENBLICK → INFOPOOL → MEDIZIN → REPORT → BERICHT
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/ip_medizin_report_bericht.shtml

SCHATTENBLICK → INFOPOOL → MEDIZIN → REPORT → INTERVIEW
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/ip_medizin_report_interview.shtml

Weitere Interviews folgen ...

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 173 vom 9. April 2022


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang